Islamischer Staat in Waziristan?
Taliban-Kämpfer sammeln sich, wie Propaganda-DVDs zeigen, in den pakistanischen Stammesgebieten, um eine Offensive vorzubereiten; mutmaßliche Gegner und Kriminelle werden öffentlich exekutiert
Das Taliban-Regime in Afghanistan wurde gestürzt. Aber es hatte zahlreiche Verbindungen nach Pakistan, auch zum pakistanischen Geheimdienst, der einst mit der Hilfe von US-Geldern den Widerstand gegen die russische Besatzung organisierte. Mit der „Befreiung“ Afghanistans durch die Nordallianz und die Koalitionstruppen wurden viele Taliban- und al-Qaida-Mitglieder, darunter Bin Laden, vertrieben und siedelten sich im Grenzgebiet zu oder in Pakistan an. Nachdem Pakistan und sein durch einen Putsch an die Macht gelangter Präsident zum strategischen Verbündeten der USA wurden, wurde nur ambivalent und mit geringem Erfolg gegen Islamisten vorgegangen, vornehmlich in den halbautonomen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan. Und dort, wo man auch Bin Laden vermutet, wurde nun ein neuer „islamischer Staat“ ausgerufen.
Afghanistan steht im Schlagschatten des Irak (Es gibt nicht nur Guantanamo. Zumindest für die US-Soldaten ist das Land aber nach einem Bericht des US Institute of Peace aber gefährlicher geworden. Ab dem Frühjahr 2005 wurden 1,6 pro Tausend Soldaten in Afghanistan verwundet oder getötet, im Irak liegt die Rate bei 0,9. Im Kampf wurden 2005 100 Soldaten getötet. Allerdings ist die Frage, inwieweit solche Zahlen wirklich vergleichbar sind, schließlich sind in Afghanistan noch 20.000 US-Soldaten stationiert, im Irak jedoch 140.000.
Die Aufständischen in Afghanistan haben von den Taktiken im Irak gelernt. Man spricht von einer „Irakisierung“. Zwischen 2001 und 2003 gab es nur 5 Selbstmordanschläge, 2004 10 und 2005 20. Allein im Januar 2006 sind mindestens 30 Menschen durch Selbstmordanschläge getötet worden. Mehr und mehr zielt man auch auf „soft targets“, die sich nicht wirklich schützen lassen. Ähnlich wie im Irak gibt es in Afghanistan unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen Interessen. Neben den meist lokalen Taliban-Kämpfern hat der Konflikt auch neue Rebellen aus dem Ausland angezogen, die unter dem Mantel von al-Qaida oder auch nicht ihre Angriffe ausführen. Daneben gibt es die zahlreichen Warlords, die auch aus dem Interesse, ihre lokale Macht und ihre Geldquellen, vor allem aus dem Drogenanbau, aufrechtzuerhalten. Wichtig ist die Verbindung nach Pakistan, von dort kommen auch viele Gelder.
Probleme wird es geben, wenn das US-Militär Kräfte abzieht und stattdessen Nato-Verbände, vor allem britische Truppen, die Kontrolle über die Regionen im Süden übernehmen. Das Institute of Peace befürchtet, dass mit der weniger kämpferischen Einstellung der Nato-Verbände die Aufständischen stärker werden könnten. Die US-Truppen hätten die Aufständischen nicht nur entlegenen Gebieten gejagt und herausgefordert, sondern auch Angriffe über die pakistanische Grenze hinweg ausgeübt. Das aber sei jetzt nicht mehr mit dieser Entschiedenheit zu erwarten.
Tatsächlich könnte es ab dem Frühjahr in Afghanistan zu einem Showdown kommen. Angeblich trainieren in den Grenzgebieten bereits Rebellen und Scharen von Selbstmordattentätern für eine Offensive. DVDs von Aufständischen, die in der Region zirkulieren, zeigen - oder sollen den Eindruck erwecken, dass Tausende von Kämpfern für den Einsatz bereit stehen. Gezeigt wird beispielsweise der Angriff einer Gruppe auf ein US-Lager bei Khost. Die Offensive könnte, sollte der Iran stärker unter Druck geraten, womöglich durch Iran verstärkt werden. Die Taliban scheinen auch an Bedeutung gewonnen zu haben, nachdem einige Vertreter im afghanischen Parlament sitzen, das ganz allgemein äußerst konservativ ist (Meine Abenteuer mit der "Futurologie"). Auf die Ermordung afghanischer Regierungsmitglieder wurde ein Kopfgeld von 5.000 Dollar ausgesetzt.
Eine Hochburg scheint Nord-Waziristan zu sein, eine von den Stämmen verwaltete, weitgehend von Pakistan unabhängige Provinz westlich von Peshawara. In der Stadt kam es in letzter Zeit zu vielen Demonstrationen gegen die Mohammed-Karikaturen. Die Menschen hier sind streng muslimisch und konservativ. Sie pochen auf ihre Unabhängigkeit. Es gibt immer wieder Kämpfe mit pakistanischen Truppen. Schon während der russischen Besatzung von Afghanistan sind viele Aufständische in dieses Grenzgebiet geflüchtet und haben von dort ihre Operationen durchgeführt. Auch nach dem Sturz des Taliban-Regimes sollen viele al-Qaida- und Taliban-Kämpfer hier Unterschlupf gefunden haben. Versuche der pakistanischen Armee, die Aufständischen, etwa Osama bin Laden, festzunehmen, stoßen auf Widerstand oder werden nur halbherzig durchgeführt (Orientalischer Krieg gegen Terroristen), weswegen das US-Militär immer wieder Angriffe, auch mit bewaffneten Predator-Drohnen, mit zweifelhaftem Erffolg unternommen hat (Anschlag in der Nacht).
Nach den DVDs, die in der Region verbreitet werden, wurde Nord-Waziristan zu einem „islamischen Staat“ erklärt, zu dem auch Teile von Süd-Waziristan gerechnet werden. Die Taliban scheinen hier unangefochten ihre Übungslager betreiben zu können, in denen sich Menschen aus vielen Ländern aufhalten. Nach Asia Times wurden auch um die 100 Gruppen von Selbstmordattentätern aufgestellt, die ab Frühjahr in den Kampf ziehen sollen. Zudem werden angeblich Kriminelle, die in organisierten Gruppen Gelder erpresst, Kinder entführt oder mit Drogen gehandelt haben, öffentlich, unter Anwesenheit großer Menschenmengen, exekutiert und ihre Leichname und abgeschlagenen Köpfe zur Schau gestellt. Die Taliban haben die Verbrecherjagd angeblich Ende des letzten Jahres aufgenommen, nachdem einige ihrer Mitglieder von diesen getötet wurden. Wie die BBC berichtet, werden aber auch angebliche „Spione“ geköpft.