Israel: Der Sozialstaat auf der anderen Seite

Seite 2: Die Siedler - keine homogene Bevölkerungsschicht

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Es ist allerdings nur eine Minderheit von ungefähr 160.000 Menschen mit größtenteils national-religiöser Gesinnung, welche in den quer über das Westjordanland verstreuten Siedlungen leben, die das international verbreitete Bild der Siedler prägen. Die Mehrheit der Israelis, die unter dem Sammelbegriff "Siedler" zusammengefasst werden, lebt in den jüdischen Vierteln Ostjerusalems und den großen Siedlungsblocks nahe der Grünen Linie.

Alleine in den jüdischen Stadvierteln Ostjerusalems, welche seit 1967 von Israel errichtet wurden, leben heute ungefähr 200.000 Israelis. Kaum etwas vermittelt dort den Eindruck einer klassischen Siedlung. Es gibt keine Zäune und keine bewaffneten Selbstschutzeinheiten, die mit sich mit der Armee koordinieren, wie in den kleinen Siedlungen im Westjordanland.

Würde die 2011 vollendete Jerusalemer Straßenbahn auf ihrem Weg in die Ostjerusalemer Siedlung Pisgaat Ze'ev nicht in den palästinensischen Stadtvierteln Beit Hanina und Shuafat Station machen, würde man kaum bemerken, im mehrheitlich arabischen Osten Jerusalems zu sein.

Blick über die Grüne Linie auf die Siedlung Ramat Shlomo in Ostjerusalem. M. Hoffmann

Auch die Bevölkerung in den Siedlungen Ostjerusalems ist keineswegs homogen. Während manche der jüdischen Stadtviertel wie Ramat Eshkol fast ausschließlich von Ultra-Orthodoxen bewohnt sind, haben andere Viertel wie Pisgaat Ze'ev einen großen Anteil an säkularen Neueinwanderern, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion. Pisgaat Ze'ev erlebte in den letzten Jahren sogar einen Zuzug von Palästinensern aus den umliegenden, von der Jerusalemer Stadtverwaltung stark vernachlässigten arabischen Vierteln Ostjerusalems.

Was Viertel wie Ramat Eshkol und Pisgaat Ze'ev miteinander verbindet, ist vor allem der hohe Anteil an Menschen am unteren Ende der Einkommensskala. Die Armutsraten unter der ultra-orthodoxen Bevölkerung zählen neben denen der arabischen Bevölkerung zu den höchsten in Israel, doch der Staat investiert in Wohnraum, Gesundheit und Bildungseinrichtungen für die Ultra-Orthodoxen.

Wohnstädte für die Ultra-Orthodoxen

So wurde ab 1994 in Ostjerusalem das Viertel Ramot Shlomo für die unter Wohnungsnot leidende und schnell wachsende ultra-orthodoxe Bevölkerung errichtet. Ein Jahr zuvor wurde nahe der Stadt Modi'in auf der anderen Seite der Grünen Linie die Schwesterstadt Modi'in Illit für die ultra-orthodoxe Bevölkerung gegründet.

Durch massives Bevölkerungswachstum, Zuzug von ultra-orthodoxen Juden aus der englischsprachigen Welt und den gezielten Ausbau der Siedlung stieg die Bevölkerung auf 60.000 Menschen an. Damit ist Modi'in Illit heute die größte israelische Siedlung. Die fast 40.000 Einwohner zählende Siedlung Beitar Illit ist ebenfalls eine Wohnstadt für die Ultraorthodoxen, welche seit den 80er Jahren südlich von Jerusalem im Siedlungsblock Gush Etzion errichtet wurde. Mit der Stadt El'ad wurde in den 90er Jahren zwar auch eine Stadt für die Ultra-Orthodoxen innerhalb Israelis gebaut - doch staatliche Subventionen und die Verfügbarkeit von unterdurchschnittlich bezahlten palästinensischen Arbeitskräften machen es für die Baufirmen billiger, jenseits der Grünen Linie zu bauen.

Subventionswirtschaft jenseits der Grünen Linie

Staatliche Subventionen ließen am Rande mancher Siedlungen zudem florierende Gewerbegebiete entstehen. Alleine im Gewerbegebiet der Siedlung Barkan haben sich 120 Firmen niedergelassen, die rund 5000 Menschen beschäftigen. Der israelische Weinhersteller Barkan Wine Cellars ließ hier ab den späten 80er Jahren ein großes Weingut anlegen, mittlerweile ist die Firma der zweitgrößte Weinproduzent Israels. Mangels Arbeitsmöglichkeiten in den arabischen Ortschaften pendeln auch viele Palästinenser zum Arbeiten in das Gewerbegebiet Barkan, sie machen hier fast 90% der Arbeiter aus.

Doch der israelische Staat subventioniert nicht nur großflächig die ökonomischen Aktivitäten von Firmen jenseits der Grünen Linie, sondern auch die Lebenshaltungskosten jedes einzelnen Siedlers. Wohnraum ist billiger, Immobilienkredite sind subventioniert, Lehrer bekommen höhere Löhne und das Bildungssystem ist gratis. Die staatlichen Ausgaben für einen Israeli innerhalb der Grünen Linie betragen nur ungefähr 40% der Ausgaben für einen Israeli in den Siedlungen.

Naftali Bennet: Teilannexion statt Rückzug

Die Siedler verfügen mit dem Yesha-Rat über eine Interessenvereinigung, die versucht, ihrer Sache ein modernes, zeitgemäßes Gewand zu verleihen. Ihr Vorsitzender Danny Danan verurteilt die regelmäßig von radikalen Siedlern aus kleinen Outposts ausgehenden Übergriffe an Palästinensern und die gelegentlichen Angriffe auf Armee-Posten als "moralisch bankrott und kontraproduktiv".

Der aus Argentinien eingewanderte säkulare Geschäftsmann und IT-Milliardär gilt als die gewandteste öffentliche Stimme der Siedler. Unter dem Titel "Israeli settlers are here to stay" war Dayans Haltung 2012 als Gastbeitrag in der New York Times zu lesen.

Er argumentiert, die internationale Gemeinschaft sei besser damit bedient, den Status quo zu verbessern, anstatt eine perspektivlose 2-Staaten-Lösung voranzutreiben. Neben Danny Danan sitzt auch der heutige Wirtschaftsminister Naftali Bennet aus der nationalreligiösen Partei Habayit Hayahudi in der Führungsriege des Yesha-Rats. Naftali Bennet schlug während der jüngsten Verhandlungen unter der Regie John Kerrys eine Annexion von AREA C vor - jene 60% der Fläche des Westjordanlandes, welches unter völliger Kontrolle der israelischen Armee ist und auf der sich die meisten Siedlungen befinden. Die palästinensische Bevölkerung in AREA C beträgt nur ungefähr 300.000 Menschen - aus einer demographischen Perspektive wäre die Annexion also keine Bedrohung für den jüdischen Mehrheitscharakter des Staates.

Andere Stimmen aus dem Lager der Siedler schlagen vor, das gesamte Westjordanland zu annektieren. Der palästinensischen Bevölkerung sollen laut diesem Konzept zwar Bürgerrechte in den meisten Bereichen, jedoch kein Wahlrecht verliehen werden.

Die eigene Mathematik der Siedler-Strategen

Anlässlich Obamas Staatsbesuch in Israel 2013 verfasste der Yesha-Council ein über 70-seitiges Strategiepapier für "Judäa und Samaria" unter dem Slogan: It's vital. It's jewish.It is realistic".

Zahlen spielen darin eine zentrale Rolle. Laut den Hochrechnungen der Siedlerstrategen beträgt die tatsächliche Zahl der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und dem Gaza-Streifen lediglich 2,5 Millionen Menschen - fast zwei Millionen weniger als gemeinhin angenommen. Die verbreitete Zahl von über 4 Millionen sei eine gezielte Übertreibung der palästinensischen Autonomiebehörde, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern. In Anbetracht der wachsenden natürlichen Wachstumsrate der jüdischen Bevölkerung bei abnehmenden arabischen Bevölkerungswachstum sei es daher möglich, mit Hilfe von jüdischer Einwanderung und arabischer Auswanderung über kurz oder lang eine jüdische Mehrheit in "Judäa und Samaria" zu erreichen.

Mit ihren eigenen demographischen Kalkulationen versuchen die Siedlerstrategen vor allem eine Kernthese zu widerlegen, die sich mittlerweile in weiten Kreisen der liberalen, linken und zentristischen israelischen Öffentlichkeit durchgesetzt hat: Dass eine Aufgabe von großen Teilen des Westjordanlandes letztendlich unumgänglich sei, wenn Israel seinen Charakter als jüdischer und demokratischer Staat bewahren wolle. Wolle Israel am gesamten Territorium festhalten und dabei demokratisch bleiben, müsste es auch der arabischen Bevölkerung das Wahlrecht verleihen, was langfristig wiederum seinen Charakter als jüdischen Staat gefährde.