Israel-Palästina und das Schubladendenken im deutschen Diskurs
Debattenkultur mit eindimensionalen Narrativen: Das Canceln von Künstlern legt große Lücken in unserer Wahrnehmung der Geschichte offen, meint unser Autor.
Palästinensische Stimmen wurden in den vergangenen Wochen in Deutschland leider oftmals unterdrückt oder pauschal verurteilt. Eines der wohl bekannteste Beispiele war die Verschiebung der Preisverleihung der palästinensischen Autorin Adania Shibli an der Frankfurter Buchmesse für ihr Werk Eine Nebensache.
Nun wurde auch eine Kunstausstellung der jüdisch-südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz abgesagt, die im kommenden Jahr im Saarlandmuseum stattfinden sollte. Als Grund für die Absage wurde mitgeteilt, dass Breitz sich nicht klar vom Terror der Hamas distanziert habe.
Der Filmemacher Jonathan Guggenberger äußert sich in einem Prozent-Artikel kritisch dazu, bemängelt aber zugleich, dass Absagen wie diese von gewissen Akteuren ausgenutzt werden, um ein bestimmtes Narrativ zu konstruieren.
Ironischerweise konstruiert Guggenberger selbst dabei ein Bild, das Stereotype reproduziert und zwar gegenüber Menschen, die er pauschal als "Kulturaktivisten" bezeichnet. Deutlich wird dies bei Aussagen wie:
Gerade bei jungen Aktivisten aus Kunst und Kultur scheint die historische Verkürzung im Trend. Bei Kulturaktivisten also, deren Schuldbegriff und -gefühl mehr mit Black Lives Matter als dem Historikerstreit der 1980er zu tun hat.
Gewagte Behauptung
Warum diese beiden historischen Ereignisse gegenübergestellt werden, bleibt offen. Denn Guggenberger erklärt seinen eigenen Schuldbegriff nicht. Er versucht aber die jüdisch-südafrikanische Künstlerin Breitz zugleich zu diffamieren, indem er behauptet, dass sie "[…] von Angriffen auf Synagogen, Aufrufen zur Gewalt gegen Juden, gar Drohbriefen an jüdische Privatadressen und eskalierenden Demonstrationen von Islamisten […]" nichts wissen wolle.
Eine gewagte Behauptung von jemandem, der sich im selben Artikel über historische Verkürzung von anderen empört und als Grundlage dieser Behauptung ein einziges Video nennt (das übrigens im erwähnten Prozent-Artikel auch nicht verlinkt wird).
Probleme mit Kritik
Das Problem bei der Debatte rund um Israel-Palästina ist zum einen, dass versucht wird, palästinensische sowie israelische bzw. jüdische Stimmen auf möglichst eindimensionale Art und Weise darzustellen, was der eigentliche Grund für die Ausgrenzung von bestimmten Künstlerinnen und Künstlern sowie Autorinnen und Autoren ist.
Institutionen wie die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz haben offenbar ein Problem damit, dass Breitz sich kritisch gegenüber der Militäraktion Israels in Gaza äußert.
Diese Kritik wird als eine Nähe zum Hamas-Terror vom 7. Oktober geframt, obgleich diese Behauptung haltlos bleibt. Größere Teile der deutschen Medienlandschaft haben offenbar große Schwierigkeiten damit, einen differenzierten Blick auf das Thema Israel-Palästina zu werfen.
Dass die Kunstszene diesen undifferenzierten Blick ebenfalls annimmt, ist ein Armutszeugnis, das für sich steht.
In dem Moment, in dem kritische, polarisierende und diverse Stimmen ausgeschlossen werden, anstatt sie in Diskussion zu stellen, muss man sich fragen, welche Daseinsberechtigung jene Galerien haben. Es sollte in der Kunst doch um die vielfältigen Interpretationen unterschiedlicher Blickwinkel gehen und nicht um die "Wahrheit", die einem institutionell aufgedrückt wird.
Um nichts anderes handelt es sich nämlich bei der Aussage, dass Breitz sich nicht ausreichend vom Terror der Hamas distanziert habe.
Israel-Gaza Krieg als Projektionsfläche für Holocaust-Verharmlosung
Empathie mit den unschuldigen israelischen Opfern zu zeigen, bedeutet nicht, dass man auf der Seite der rechtsradikalen Netanyahu-Regierung steht. Ebenso bedeutet Empathie mit unschuldigen Palästinenserinnen und Palästinenser nicht, dass man auf der Seite der Hamas steht.
Dieses Mindestmaß an Differenziertheit, scheint zugleich ein Dorn im Auge vieler Politikerinnen und Politikern, Institutionen und Journalistinnen wie Journalisten Deutschlands und Österreichs zu sein. Besonders deutlich wird dies, wenn der Israel-Gaza Krieg als Projektionsfläche instrumentalisiert wird, um die eigene deutsche und österreichische Geschichte in ein besseres Licht zu rücken.
Sieht man sich einige Threads der Nachrichtenplattform "X" (ehemals Twitter) an, so kann man zu dem Schluss kommen, dass auch die Lehren des Holocausts bei einigen Politiker:innen, Journalist:innen und Lehrenden an Universitäten nicht ganz angekommen sind.
Entlarvend: Reaktionen auf Douglas Murray
Entlarvend ist hierbei ein auffällig häufig geteiltes Interview des britischen Reporters Piers Morgan mit dem britischen ultrarechten Publizisten Douglas Murray auf dem Nachrichtensender TalkTV.
Murray, der in diesem Interview die gesamte Population Gazas als schuldbeladenes Kollektiv beschreibt und damit die Bombardierung Gazas rechtfertigt, weicht Morgans Einwand aus, dass etwa die Hälfte der in Gaza lebenden Menschen nicht volljährig sind (was bedeutet, dass die Mehrheit der aktuellen Bevölkerung Gazas die Hamas nie gewählt hat).
Murray kommt in diesem Gespräch zur Behauptung, dass sogar die Nazis sich für ihre Taten geschämt hätten, nachdem sie Jüdinnen und Juden töteten, was einen Unterschied zur Hamas darstelle.
Politiker, Akademiker und Journalisten Österreichs und Deutschlands teilten den Beitrag auf X mit entsprechendem Beifall. So schreibt SPD-Politiker Karl Lauterbach:
(…) hier wird viel ausgesprochen, was sonst nur gedacht wird.
Lauterbach hat den Tweet mittlerweile kommentarlos gelöscht. Er fügte seinem gelöschten Tweet jedoch hinzu, dass man die Verbrechen der Nazis mit jenen der Hamas nicht vergleichen sollte. Die Gleichsetzung der Hamas mit der Bevölkerung Gazas fand er hingegen wohl in Ordnung, denn dies kritisierte er nicht.
Wirtschaftsprofessorin Veronika Grimm teilte ebenfalls das Video mit dem Kommentar: "Wirklich großartig. Lohnt sich, komplett anzuschauen, aus so vielen Gründen", ohne dabei zur NS-Relativierung Murrays Stellung zu beziehen.
CDU-Mitglied Manuel Schwalm teilte das Video wiederum mit dem Hinweis, dass es "eine große Belastung in den Einheiten" bei der Erschießung von Jüdinnen und Juden gab und unterstreicht hierdurch Murrays NS-relativierende Behauptung.
Lesen Sie auch
Humanitäre Hilfe für Gaza: Israels unfreiwillige Geständnisse
Dimona: Vom Prestigeprojekt zum Sicherheitsrisiko
Israel-Palästina: Der fatale Irrglaube an militärische Lösungen
Damaskus unter Beschuss: Israel rückt nach Syrien vor
Westliche Diplomatie-Verachtung: Kriege in der Ukraine, Nahost könnten beendet werden
Empörung mit beschränktem Spektrum
In diesem Kontext stellen sich eine Reihe von Fragen: Weshalb wird in der deutschsprachigen Debatte plötzlich die Hervorhebung eines Kontextes hervorgehoben, während dieser im Zusammenhang mit dem Hamas-Terror des 7. Oktobers kategorisch abgelehnt wurde?
Und woher stammt das Bedürfnis, die Geschichte des Dritten Reiches mit einer NS-verharmlosenden revisionistischen Darstellung zu akzentuieren?
Man kann den Terror der Hamas verurteilen, ohne die Gräueltaten Nazi-Deutschlands zu relativieren. Man muss in diesem Zusammenhang die gängige Floskel "von der Geschichte lernen" grundsätzlich infrage stellen.
Denn bei den genannten Politiker:innen und Akademiker:innen handelt es sich eben nicht um eine bildungsferne Schicht, sondern um eine Elite – die augenscheinlich den Drang verspürt, ein größeres Übel als das Nazi-Regime in der Gegenwart zu finden, um sich von der nationalen Schuld der eignen historischen Vergangenheit freizusprechen?
Berechtigterweise zeigte man sich im vergangenen Jahr empört, als der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmoud Abbas in einer Rede in Berlin von "50 Holocausts" am palästinensischen Volk gesprochen hatte und dadurch den Völkermord an Jüdinnen und Juden, sowie den Massenmord von körperlich und geistig Beeinträchtigten sowie Homosexuellen relativierte.
Doch diese Empörung ist oftmals nur vorhanden, wenn sie von nicht-europäischer (in diesem Fall palästinensischer) Seite getätigt wird. Bei NS-Relativierung der eigenen Reihen fehlt hingegen eine kritische Betrachtung oder gar Folgen.
In einem offenen Brief kritisierten auch führende Holocaust- und Antisemitismusforscher aus unterschiedlichen Institutionen den Umgang mit der Holocaust-Erinnerung in den vergangenen Wochen seit dem 7. Oktober.
Besonders kritisiert werden hierbei jene Stimmen, die Palästinenserinnen und Palästinenser mit Nazis vergleichen, um das gegenwärtige Töten zu legitimieren.
In der Tat zeigen die Tweets der oben genannten Personen auf, dass Mythen über die Nazi-Zeit weiterhin stark vorhanden sind. Trotz der Aufarbeitung an Schulen und den Besuchen zahlreicher Museen und ehemaliger Konzentrationslager ist auch unter elitären Kreisen eine Ignoranz gegenüber der NS-Zeit wahrnehmbar.
Die Nakba als blinder Fleck
Umso schlechter sieht es im deutschsprachigen Diskurs bezüglich der Geschichte der Palästinenser:innen aus.
Palästinensische Perspektiven zur Geschichte und Entstehung Israels fehlen nicht nur in TV-Debatten, sondern auch in österreichischen und deutschen Schulbüchern.
Über Jahre hinweg war die Geschichte Israels kein Thema an österreichischen Schulen. Auch heute wird in Schulbüchern wie "GO! Geschichte Oberstufe 7/8" der Eindruck vermittelt, dass jüdische Geschichte nur aus dem Holocaust und der Entstehung Israels bestehe, wobei auf letzteres ebenso kaum eingegangen wird.
Arabisch-palästinensische Perspektiven wiederum werden gänzlich ausgeblendet. So kommt der Begriff "Nakba" (arab. für "Katastrophe")1 kein einziges Mal im oben genannten Schulbuch vor.
Durch die Ausblendung bestimmter historischer Ereignisse und der Hervorhebung anderer, wird der systematische Eurozentrismus deutlich. Erst wenn Jüdinnen und Juden in Europa verfolgt und ermordet werden, bekommen sie ihre Geschichte.
Die Diversität jüdischen Lebens geht hierdurch verloren. Sie bleiben in den meisten Schulbüchern kulturlos und auf jüdische Geschichte nach der Shoah wird kaum noch Stellung genommen, eben weil die meisten Überlebenden aus Europa vertrieben wurden.
So verwundert die Ausblendung der Nakba nicht, denn nicht-europäische Gebiete bekommen ebenso in den Schulbüchern meistens erst ihre Geschichte, wenn Europäer durch Kolonialismus und Imperialismus in jenen Gebieten Fuß fassen, egal ob in den amerikanischen Kontinenten, Afrika oder eben im Nahen und Mittleren Osten.
Marginalisierte Gruppen bekommen hierdurch ihre Geschichte übergestülpt, während im Zentrum der Erzählungen stets "der Europäer" selbst ist.