Israel und die Palästinenser: "Objektiv liegen Merkmale eines Apartheid-Systems vor"

Israel und Palästina: schwieriges Verhältnis, harte Debatten. Bild: Bartolomiej Pietrzyk, Shutterstock.com

Der Jurist Kai Ambos zur Behandlung der Palästinenser durch Israel. Über Proteste in Deutschland. Und über drei juristische Merkmale der Apartheid. (Teil 1)

Telepolis, das Online-Magazin, gibt es ab sofort auch im Podcast-Format. Willkommen zur ersten Ausgabe, sagt Dietmar Ringel. Und weil sich Telepolis nicht um Themen drückt, die umstritten sind und kontrovers diskutiert werden, haben wir uns zum Auftakt genau ein solches Thema herausgesucht, nämlich: Darf man Israel einen Apartheid-Staat nennen?

Gerade hat sich der Straf- und Völkerrechtler Prof. Kai Ambos von der Universität Göttingen, der auch Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag ist, mit einem neuen Buch zu Wort gemeldet, dem es eben um diese Frage geht. Erschienen ist es im Westend-Verlag, Frankfurter/Main. Es heißt: "Apartheid in Palästina?"

Schönen guten Tag, Herr Professor Ambos.

Kai Ambos: Guten Tag, Herr Ringel.

Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es in Ihrem Buch kein einfaches Ja oder Nein auf diese Frage. Warum ist das so kompliziert?

Kai Ambos: Dieser Begriff der Apartheid, der wird natürlich wie viele andere Begriffe, zum Beispiel auch der Begriff des Genozids, oft sehr politisch verwendet. Ich nenne das populistisch verformt, als Kampfbegriff. Und mir geht es ja nicht um diese Politisierung des Begriffs, sondern mir geht es um den Rechtsbegriff der Apartheid. Und der ist festgelegt in der Apartheid-Konvention von 1973 und später dann aufgenommen worden in das Statut des internationalen Strafgerichtshofs, wo Apartheid ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist.

Danach hat Apartheid eben bestimmte Voraussetzungen. Und ich versuche in meiner Untersuchung, diese Voraussetzungen auf die Situation im Westjordanland anzuwenden. Das ist eben nicht so einfach. Deswegen muss ich ehrlich sagen, fällt es mir auch schwer, ich bin da auch noch in einem weiteren Denkprozess, obwohl das Buch veröffentlicht ist, solch eine klare Ja-Nein-Antwort zu geben.

Lassen Sie mich, bevor wir über den Apartheid-Begriff noch ein wenig genauer sprechen, doch noch mal nachfragen: Sie sagen, von manchen wird das als Kampfbegriff verwendet und da stellt sich dann eben doch die Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass Antisemiten in Deutschland und auch anderswo solche Kritik an Israel verbunden mit dem Begriff Apartheid nutzen, um das zu beklatschen und sich auch dahinter zu verstecken?

Kai Ambos: Auf jeden Fall besteht diese Gefahr. Ich will auch nicht negieren, dass dieser Begriff wie auch andere Begriffe gegen Israel mit antisemitischem Motiv in Stellung gebracht werden. Ich beschäftige mich in meinem Buch ausführlich mit dem Begriff des Antisemitismus und frage mich: Inwieweit können wir das abgrenzen von einer berechtigten Kritik an einer bestimmten Politik Israels?

Also das Schlagwort, was man in der Antisemitismusforschung hat, ist: völkerrechtlich oder menschenrechtlich begründete Israelkritik versus Antisemitismus und Antisemitismus als Kritik an Juden, weil sie Juden sind. Ja, das ist so diese klassische Definition des Antisemitismusforschers Brian Klug. Die kommt auch zum Ausdruck in der Rede von Frau Szepesi beim Holocaust-Gedenktag im Bundestag, wo sie gesagt hat: Warum wurde das alles gegen uns gemacht? Weil wir Juden sind.

Und das ist eben abzugrenzen von einer Kritik, die in einem bestimmten Realkonflikt, wie das auch Antisemitismusforscher nennen, basiert, also dem Konflikt Palästina–Israel im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina, und die sich auf völkerrechtliche oder menschenrechtliche Maßstäbe stützt.

Aber es ist nicht auszuschließen, dass auch dieser Vorwurf antisemitisch motiviert ist.

Das ist jetzt nicht nur eine akademische Debatte, sondern hat auch eine ganz praktische Seite. Deswegen will ich noch mal nachfragen: Auf einigen Demonstrationen in Deutschland wurden etwa Plakate mit der Aufschrift "Apartheid-Staat Israel" gezeigt. Und in Köln zum Beispiel hat die Polizei daraufhin Ermittlungen wegen des Verdachts auf Volksverhetzung eingeleitet. Wie ist das zu bewerten?

Dietmar Ringel (li.) ist Journalist, Reporter und Moderator. Kai Ambos (re.) ist Hochschullehrer und Richter.

Kai Ambos: Einerseits steht die Frage, ob strafbares Verhalten vorliegt. Dabei ist eben nicht der Antisemitismus an sich strafbar, entgegen dem, was zum Beispiel Herr Bröcker bei Herrn Lanz gesagt hat, sondern, wie Sie zu Recht sagen, Herr Ringel, die Volksverhetzung. Das wäre der Tatbestand.



Und die Volksverhetzung ist ein ganz spezifischer Tatbestand, der im Kern die Hassrede oder die Aufstachelung zum Hass gegen bestimmte Gruppen, insbesondere natürlich auch die Juden und die Negierung des Holocausts einschließt.

Also, der Tatbestand ist ziemlich groß und insofern ist es gar nicht so einfach, diesen Tatbestand anzuwenden auf eine reine Demonstration, auch wenn die antisemitisch motiviert ist.

Die andere Frage ist, ob solche Demonstrationen dann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verboten werden sollen. Und diesen Kampf haben wir jeden Tag, also in jeder Stadt – Köln, Berlin, Hamburg, Frankfurt –, wo dann eben Demonstrationen beantragt werden und dann die Städte entscheiden müssen, ob sie sie erlauben oder nicht.

Wenn dann eben solche Plakate kommen oder der berühmte Spruch "From the River to the Sea", der auch immer dann oft kommt, dann stellt sich eben die Frage: Wird es verboten? Dann geht es zum Verwaltungsgericht. Und die Verwaltungsgerichte entscheiden dann unterschiedlich; das ist eigentlich die Situation, die wir derzeit in der Republik haben.

Also manche Verwaltungsgerichte sagen dann, die Meinungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit hat Vorrang, weil: nicht eindeutig antisemitisch. Andere sagen, die muss zurückstehen, weil: eben eindeutig antisemitisch und damit dem inneren Frieden abträglich.

Aber das ist immer sehr fallabhängig und sehr kasuistisch und was man eben nicht machen darf, dass man allgemein, generell sagt, dieses Plakat X ist antisemitisch. Das liegt auch daran, dass der Begriff des Antisemitismus gar nicht so klar ist.



Ich habe es eben versucht, im Kern sozusagen zu definieren, das ist jetzt diese Kurzdefinition: Ich tue etwas, weil diese Person ein Jude ist. Und das ist der einzige Grund. Also, sachfremde, diskriminierende Gründe bewegen mich zu meiner Haltung.

Und natürlich, wenn ich sage, ich möchte, dass ein Landstrich judenfrei wird, zum Beispiel solch eine Aussage, in dem Fall zum Beispiel Palästina, dann ist das natürlich antisemitisch.

Aber es kommt immer sehr auf den Fall an. Insofern müsste man jeden Fall einzeln, und da haben wir auch sehr viel Gerichtspraxis – müsste man jeden Fall einzeln untersuchen.

Sie haben auch viele Kontakte zu Wissenschaftlern in Israel. Was hören Sie denn von denen zum Apartheid-Vorwurf?

Kai Ambos: Ich habe auch in der Untersuchung eng mit israelischen Wissenschaftlern korrespondiert und habe ihnen auch den entscheidenden Teil meiner Untersuchung, die auch noch in Englisch erscheint, in der amerikanischen Rechtszeitschrift vorgelegt.

Das Letzte, was ich machen will, ist, einen Vorwurf zu erheben und liberale Kollegen, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite, in der Hebräischen Universität, in Tel Aviv, in anderen Universitäten in Israel und auch außerhalb Israels, jüdische Kollegen, werfen mir dann vor, du hast hier einen antisemitischen Vorwurf erhoben oder einen unbegründeten Vorwurf.

Deswegen habe ich das auch den Kollegen vorgelegt und die liberalen Kollegen, die auch im Völkerrecht so tätig sind, die sich auch äußern öffentlich und die, man muss es sagen, in der Mehrheit, wenn auch nicht alle, natürlich kritisch zu dieser Regierung stehen, dieser Netanjahu-Regierung, die nehmen das schon ernst.

Also die sagen nicht, das ist Antisemitismus, also wie Netanjahu im Grunde genommen alles, was sich gegen Israel richtet, als Antisemitismus abkanzelt. Sondern, sie nehmen es ernst und versuchen, sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen, kommen dann auch zu anderen Ergebnissen.

Zum Beispiel der Amnesty International-Bericht, der ist auch hierzulande kritisiert worden. Erinnern sich an einen Artikel von Meron Mendel in der Zeit zum Beispiel. Da kann man dann darüber streiten, inhaltlich, aber nicht auf der Ebene: Du bist Antisemit.

Wir nehmen das ernst als Vorwurf und versuchen, uns eben mit unserem Werkzeug der Juristen, Juristinnen damit auseinanderzusetzen.

Lassen Sie uns jetzt noch ein bisschen genauer über den Begriff Apartheid sprechen. Sie haben das auch ausführlich beschrieben in Ihrem Buch. Das ist, wenn ich es richtig verstanden habe, ja eine besondere Form der Rassendiskriminierung. Aber was genau sind die Merkmale von Apartheid?

Kai Ambos: Es sind im Grunde drei Merkmale. Zum einen brauchen sie sogenannte unmenschliche Handlungen, also zum Beispiel Folter, willkürliche Festnahmen, vielleicht auch unrechtmäßige Tötungen. Zweitens müssen diese Handlungen im Rahmen eines institutionalisierten Unterdrückungssystems von einer rassischen Gruppe über eine andere stattfinden. Und drittens muss der Staat zum Beispiel oder das Kollektiv, das diese Maßnahmen durchführt, zum Erhalt dieses institutionalisierten Unterdrückungssystems agieren. Wir haben also diese drei Elemente.

Und jetzt ist natürlich die spannende Frage, was von dem trifft denn auf die Situation in den palästinensischen Gebieten zu, die von Israel besetzt sind? Also darüber reden wir ja ganz konkret, sprich das Westjordanland. Also, wenn Sie diese Analyse vornehmen nach den von Ihnen genannten Kriterien, was kommt da unterm Strich raus?

Kai Ambos: Dass die ersten beiden Merkmale vorliegen. Wir haben unmenschliche Handlungen, nennen Sie etwa die willkürlichen Festnahmen, nehmen Sie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der palästinensischen Lokalbevölkerung, auch die gesamte diskriminierende Gesetzgebung und die Praxis, die es gibt im Westjordanland, gerade im Verhältnis lokale palästinensische Bevölkerung gegenüber den jüdischen Siedlern.

Das zweite Element dieses Unterdrückungssystems lässt sich auch nachzeichnen anhand dieses gesamten Herrschaftsapparats der Besatzung. Das würde jetzt zu weit führen, das im Detail auszuführen.

Ein Besatzungsregime hat natürlich Elemente, per definitionem, der Herrschaft des Besatzers über die besetzte Bevölkerungsgruppe.

Aber das darf nicht zu einer Diskriminierung führen, sondern die Idee des Besatzungsrechts als Recht des bewaffneten Konflikts, ist eigentlich, dass der Besatzer die lokale Bevölkerung schützen muss. Er darf eben nicht seine eigene Bevölkerung ansiedeln und die dann noch privilegieren.

Das ist das große Problem der Siedlungspolitik seit 1967. Insofern kann man dann im Ergebnis sagen: Objektiv liegen die Merkmale eines Apartheid-Systems vor.

Das tragen auch sehr viele Organisationen mit, auch der Vereinten Nationen, auch lokale israelische Nichtregierungsorganisationen zum Beispiel B'Tselem Breaking the Silence, diese Organisation von Soldaten.

Schwieriger ist es, dieses subjektive Element nachzuweisen, wie die Frage des Genozids, was ja jetzt vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt wird bezüglich Gaza. Da haben wir auch solch ein subjektives Element. Ich muss bei der Apartheid eben alle diese Handlungen vornehmen, um dieses System aufrechtzuerhalten.

Es ist immer sehr schwer in der Juristerei, eine solche Absicht nachzuweisen.