Ist Gewalt ansteckend?

Nach einer amerikanischen Studie verdoppelt die Beobachtung von Schießereien die Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche selbst gewalttätig werden

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Die Forscher der Harvard Medical School, die schon länger das Projekt verfolgen, die Lebensentwicklung von Menschen in Stadtvierteln von Chicago zu erfassen, sind vermutlich von dem Grundgedanken der Wiederholung von Traumata ausgegangen. In den amerikanischen Städten, so sagen sie selbst, habe in den 90er Jahren der Schusswaffengebrauch dramatisch zugenommen. Viele Kinder und Jugendliche seien in den Stadtvierteln und Schulen Beobachter und auch Opfer dieser Gewalt geworden. Und möglicherweise trete hier dasselbe Phänomen der Wiederholung auf, dass sich auch beobachten lässt, wenn Menschen als Kinder misshandelt wurden. Bei diesen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie selbst gewalttätig oder kriminell werden oder wiederum Kinder misshandeln.

In ihrer Studie Firearm Violence Exposure and Serious Violent Behavior, deren Ergebnisse in der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, ging es allerdings "nur" um die Erfahrung wirklicher Gewalt in der Erfahrung von Kindern und Jugendlichen. Wie weit virtuelle Gewalt, wie sie am Fernseher, im Kino oder bei Computerspielen erlebt wird, die Neigung zur Gewalt auch beeinflussen, wird hier also nicht beantwortet. Da es sich aber um Ergebnisse einer umfangreichen Langzeitstudie handelt, lassen sich zwar andere Ursachen nicht ausschließen, aber scheint es doch gute Gründe für Hypothese zu geben, dass die Erfahrung von Gewalt, speziell: von Schusswaffengebrauch, die Wahrscheinlichkeit bei Beobachtern verdoppelt, selbst Gewalt anzuwenden.

Der Studie lagen Angaben von über 1200 Kindern bzw. Jugendlichen, die zu Beginn der Untersuchung 12 und 15 Jahre alt waren, und von deren Erziehungsberechtigten in zahlreichen Stadtvierteln zugrunde. Sie wurden im Laufe von fünf Jahren drei Mal befragt, wobei auch der demographische Hintergrund, die Familiengeschichte, die häusliche Umgebung, das Temperament, die körperliche und geistige Entwicklung, der Einfluss von Gleichaltrigen, Sprach- und Schreibkompetenz und andere schulische Leistungen, Verhaltensmuster und vorhergehende Erfahrung von Gewalt festgehalten wurden. Zu den insgesamt 139 Kovarianten kamen noch weitere Daten über die soziale und wirtschaftliche Situation des Viertels sowie von einer unabhängigen Befragung von zufällig ausgewählten Erwachsenen.

Die Kinder bzw. Jugendlichen wurden dann zusätzlich befragt, ob sie im letzten Jahr Schusswaffengebrauch erfahren hatten. Das schloss, dass sie selbst eine Waffe gebraucht hatten oder mit einer solchen beschossen wurden, oder aber sie gesehen hatten, wie andere schossen oder beschossen wurden. Die Mehrheit (76,9%) der Befragten hatte in diesem Zeitraum keine solche Erfahrung gemacht, 23,1% allerdings schon.

Bei der Auswertung zeigte sich, dass beide Gruppen sich in einer ganzen Reihe von Merkmalen unterscheiden. So waren diejenigen, die Erfahrung mit Schusswaffengebrauch hatten, beispielsweise aggressiver und impulsiver, sie nahmen eher Drogen oder Alkohol zu sich und haben eher Straftaten begangen. In der Familie gab es eher Mitglieder mit sozialen Problemen oder mit Vorstrafen, sie wurden mehr geschlagen und körperlich missbraucht oder haben dies erlebt. In der Schule waren sie schlechter, waren eher in aggressiveren Gruppen und lebten in Problemvierteln. Sie kamen eher Haushalten mit einem Elternteil, waren eher nicht weiß und in der Mehrzahl männlich. Das alles sind eigentlich typische Faktoren für problematische Karrieren, die eher darauf schließen lassen würden, dass in aller Regel ein ganzes Bündel für die höhere Gewalttätigkeit verantwortlich ist.

Die Forscher aber glauben hinreichend andere Faktoren ausschließen und aus den Daten die starke These ableiten zu können, dass die Erfahrung von Schusswaffengebrauch als "kausale Ursache" für das spätere Begehen von schwerer Gewaltanwendung gelten kann, wozu gezählt werden: Tragen einer versteckten Waffe, Angriff mit einer Waffe auf eine Person, Schießen auf eine Person oder Beteiligung an Gang-Kämpfen, bei denen jemand verletzt oder bedroht wurde. Natürlich könnte das Ergebnis von Faktoren beeinflusst worden sein, die nicht berücksichtigt wurden, jedenfalls aber sei die Erfahrung von Schusswaffengebrauch sehr viel prägender als andere Faktoren wie Persönlichkeit, Familienumgebung, soziale Schicht, Stadtviertel oder Alkohol- und Drogenmissbrauch.

Schutz vor der Gewaltinfektion durch Impfung

Während dies im Science-Artikel sachlich, wie es sich gehört, berichtet wurde, haben die Forscher, um ihr Ergebnis aufzuwerten, mit Formulierungen aufgesexed, die natürlich auch sofort dafür sorgten, dass die Story auch in den Medien landete. Felton Earls, einer der Wissenschaftler, meinte, aufgrund der Ergebnisse der Studie könne man die Erfahrung von Gewalt wie eine "soziale Infektionskrankheit" sehen, die den Beobachter ansteckt und krank macht. Schon die Unterbindung eines Gewaltverbrechens könne so "eine Kaskade von Infektionen" verhindern.

Das Bild mit der Ansteckung ist aber schon deswegen gewagt, weil nicht die Verwendung von Schusswaffen nachgeahmt oder wiederholt wird, sondern anscheinend eine allgemein größere Neigung zur Gewalttätigkeit oder auch nur die Bereitschaft dazu (versteckte Waffen, Mitglied einer Gang). Die Verengung auf Schusswaffenanwendung spiegelt so vielleicht nur eine Kausalität vor. Wenn jemand dies erlebt, dann dürfte auch die Wahrscheinlichkeit hoch sein, dass er in einer Umgebung der Gewalt aufwächst, also das Schießen nur die Spitze des Eisbergs ist. Leider wurde auch die Frage gar nicht Erwägung gezogen, ob es einen Unterschied zwischen der Beobachtung eines realen und eines virtuellen Schusswaffengebrauchs gibt und worin dieser besteht. Wäre womöglich, wovon andere Studien ausgehen, zumindest die wiederholte Beobachtung von wirklicher oder simulierter Gewalt bzw. die virtuelle Ausübung von Gewalt ein Mem, das infiziert?

Gegenüber dem New Scientist erklärte Jeffrey Bingenheimer, ein anderes Mitglied des Teams, dass man mit Gewalt wie mit anderen Infektionskrankheiten umgehen müsse, beispielsweise könne man ihr wie durch eine Art Impfung gegen jede bestimmte Gewaltform vorbeugen, um so durch Verhinderung eines Gewalttäters "eine Kettenreaktion der Gewalt bei denen zu verhindern, die Zeuge von den dessen Gewaltausübung gewesen wären". Wie eine solche "Impfung" aussehen könnte, erfährt man jedoch nicht. Damit käme man dann womöglich bei solchen Szenarien an, wie sie bereits in den 60er Jahren ausgedacht wurden. Kubrick hat eine solche Therapie in "Clockwork Orange" kritisch vorgeführt.

Allerdings liegt es nahe, dass die Erfahrung von Gewalt, der man ausgesetzt ist und deren Opfer man werden könnte, allein schon zum Selbstschutz zu erhöhter Gewaltbereitschaft führen kann oder eben Traumata hinterlässt. Stadtviertel, in denen viel Gewalt ausgeübt wird, wären dann so etwas wie Infektionsherde, von denen sich Gewalt memetisch ausbreitet. Aber das würde nicht nur Stadtviertel betreffen, sondern auch ganze Länder, die sich im Bürgerkrieg befinden oder anderen Kämpfen mit permanenter Erfahrung von Gewalt ausgesetzt sind. Derzeit wäre neben dem Kongo oder dem Sudan wohl vor allem der Irak so ein Infektionsherd, in dem die jetzt dort ausgeübte Gewalt (Der Preis des Kriegs und die Macht der Bilder) auch noch lange Zeit für weitere Gewalt sorgen kann, wenn die Kinder und Jugendlichen älter werden.