Ist Solidarität unter rationalen Egoisten möglich?

Seite 3: EIN COMPUTER-EXPERIMENT

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Nachdem die Grundannahmen des Modells hinreichend geklärt sind, werde ich im folgenden ein Experiment beschreiben. Durchgeführt wird das Experiment auf einem Computer, für den ein entsprechendes Programm geschrieben wurde.

Auszahlungen: Gerettet = 5 Ertrinken = 1 Weitergehen = 7 Helfen = 6
Gewinn : Kosten = 4
Wahrscheinlichkeit einer Wanderungsoption: 0.15 alpha größer/gleich 0.723
Individuen je Risikoklasse: 35 ( 315 Individuen gesamt / 136 freie Plätze)
Mindestniveau = 50 %
Mobilitätsradius = 5 Zellen in jede Himmelsrichtung
Größe der Welt = 21x 21 Zellen, also 441 Zellen insgesamt (Torus).

Die Abbildung 1 zeigt die zufällig erzeugte soziale Ursuppe. Abbildung 2 zeigt den Zustand der Welt nach 1000 Perioden freier und vorteilsorientierter Partnerwahl. Für die Interpretation der Abbildungen ist zu beachten:

  1. Schwarze Zellen sind leere Zellen.
  2. Die unterschiedlichen Farben repräsentieren Individuen unterschiedlicher Risikoklassen. Die Legende gibt an, welche Risikoklasse durch welche Farbe repräsentiert wird.
  3. Runde Individuen sind entweder unzufrieden und erreichen also nicht das Mindestniveau; oder aber sie sind Individuen, die unter den gegebenen Bedingungen prinzipiell keine Solidarpartner finden können. Bis an die Zellengrenzen ausgefüllte Individuen sind solche zufriedenen Individuen, die Partner finden können und durch erfolgreiche Partnersuche das Mindestniveau (oder auch mehr) erreichten.
  4. Die kurzen weißen Verbindungslinien zwischen zwei Individuen zeigen an, daß zwischen ihnen eine Solidarbeziehung besteht.

Abb. 1 zeigt, daß vor Beginn der systematischen und vorteilsorientierten Partnersuche nur ganz vereinzelt Individuen zufrieden sind. Die meisten befinden sich an Orten, wo sie weit unterhalb des Mindestniveaus bleiben. Zugleich ist deutlich, daß bereits unter Bedingungen der sozialen Ursuppe eine Reihe von Solidarbeziehungen bestehen. Allerdings sind es nicht sehr viele. Wäre die Welt dünner besiedelt worden, würde ihre Zahl drastisch abnehmen. Vielleicht überrascht es, daß Solidarbeziehungen auch unter Unzufriedenen bestehen, denn jedes Individuum weiß, daß Unzufriedene jede Möglichkeit der Abwanderung nutzen werden. Es ist daher gemeinsames Wissen, daß Solidarbeziehungen unter Unzufriedenen mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Abwanderung zerbrechen werden. Wenn gleichwohl Solidarbeziehungen unter ihnen bestehen, dann deshalb, weil bei der gegebenen und jedermann bekannten Wahrscheinlichkeit, mit der in jeder Periode Wanderungsoptionen verteilt werden, die für Solidarbeziehungen erforderlichen Stabilitätserfordernisse immer noch erfüllt sind. So wird Solidarität unter Individuen möglich, die genau wissen, daß sie lediglich fellow traveller sind, die auf der Suche nach Orten, wo sich besser leben läßt, einige Zeit zusammen verbringen.

Schon bei einem ersten Blick auf die Abbildung 2 springt ins Auge, daß sich aus einer zufällig erzeugten sozialen Ursuppe geordnete Solidarstrukturen gebildet haben. Was die leitende Frage nach Solidarstrukturen in einer Welt rationaler Egoisten betrifft, kann man in einer ersten groben Näherung offenbar sagen: Auch in einer Welt rationaler Egoisten, die die Natur ungleich ausgestattet hat und die vorteilsorientiert ihre Partner suchen, kann es Solidarnetzwerke geben. Innerhalb solcher Netzwerke gibt es dabei aber ein Phänomen, das man als Tendenz zu einer recht massiven Klassensegregation bezeichnen könnte: Längst nicht jeder tut sich mit jedem zusammen, sondern die Nachbarschaften sind sehr stark strukturiert.

Insgesamt stößt man bei einem mehr ins einzelne gehenden Blick auf mindestens drei ebenso bemerkenswerte wie aufklärungsbedürftige Phänome:

  1. Es gibt Risikoklassen, innerhalb derer kein Mitglied irgendeinen Solidarpartner finden konnte. Dies betrifft die extrem gute Risikoklasse 1 und die extrem schlechte Risikoklasse 9.
  2. Es gibt Risikoklassen, deren Angehörige ausschließlich unter sich Solidarbeziehungen eingegangen sind. Dies betrifft die relativ gute Risikoklasse 2 und die relativ schlechte Risikoklasse 8.
  3. Angehörige mittlerer Risikoklassen haben Solidarpartner sowohl innerhalb der eigenen Klasse wie auch in relativ nahestehenden Risikoklassen gefunden. Die Klassensegregation scheint zur Mitte der Risikoklassen hin weniger ausgeprägt.

Für ein Verständnis dieser Phänomene muß man sich in Erinnerung rufen, daß in einer Welt rationaler Egoisten Solidarbeziehungen nur dann möglich sind, wenn sie sowohl der Vorteilhaftigkeitsbedingung nach (1) als auch der Machbarkeitsbedingung aus (2) genügen. Eine genauere Analyse von (1) zeigt, daß im Verhältnis zweier Risikoklassen zueinander insbesondere drei Dinge für die Frage wichtig werden, ob Solidarbeziehungen zwischen ihnen wechselseitig vorteilhaft sind:

  1. Die Risikoklassen, denen die Individuen angehören, dürfen nicht zu weit auseinanderliegen.
  2. Je besser das Verhältnis zwischen Solidaritätsgewinn und -kosten, um so weiter dürfen die Risikoklassen maximal auseinanderliegen.
  3. Zu den Extremen der Risikoklassen hin dürfen die Klassen weniger weit auseinanderliegen als bei eher mittleren Risikoklassen.

Was die Machbarkeitsbedingung aus (2) betrifft, so gilt:

  1. Je weiter die Risikoklassen auseinanderliegen, um so höher sind die Anforderungen an die Stabilitätswahrscheinlichkeit.
  2. Je besser das Verhältnis zwischen Solidaritätsgewinn und -kosten, um so niedriger sind die Anforderungen an die Stabilitätswahrscheinlichkeit.
  3. Je schlechter bzw. je besser zwei Risikoklassen, um so höher die Anforderungen an die Stabilitätswahrscheinlichkeit.

Die Ursache für den letzteren Effekt ist folgende: Treffen zwei extrem gute bzw. zwei extrem schlechte Risiken aufeinander, dann haben sie es erheblich schwerer als eher mittlere Risiken, sich über die Drohung, verweigerte Hilfeleistung zukünftig zu vergelten, wechselseitig zu Solidarität zu motivieren. Grund dafür ist, daß zwei extrem gute Risiken mit vergleichsweise hoher Wahrscheinlichkeit gemeinsam nicht hilfsbedürftig sind, und daher niemand Hilfe braucht. Zwei extrem schlechte Risiken werden hingegen mit vergleichsweise hoher Wahrscheinlichkeit beide hilfsbedürftig werden, so daß niemand Hilfe geben kann. Beides hat die gleiche Konsequenz: Der durch unsolidarisches Verhalten verspielte, zukünftige Nutzen ist viel geringer als bei Solidarpartnern aus mittleren Risikoklassen. Eine gegebene Stabilitätswahrscheinlichkeit, die für eher mittlere Risikoklassen solidarische Lösungen erlaubt, ist daher für Paarungen extremer Risikoklassen evtl. nicht mehr hinreichend.

Eine Übersicht über die hier angesprochenen Paarungsprobleme

Wechselseitige Solidarität ist in einer Welt rationaler Egoisten daher tendenziell eher ein Phänomen "mittlerer Bedürftigkeit".