Ist das Atomkraftwerk Tihange noch gefährlicher als angenommen?

AKW Tihange. Bild: Michielverbeek/CC BY-SA-3.0

Die Reaktoren in Belgien sind Zeitbomben und dürften schon längst nicht mehr am Netz sein

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Diese Tage gab es etwas Wirbel um Berichte über das belgische Atomkraftwerk Tihange. Der WDR-Hörfunk und das ARD-Magazins MONITOR haben behauptet, das AKW sei "deutlich gefährlicher als bislang bekannt". In einer Pressemitteilung wurde von einem Schreiben der belgischen Atomaufsicht (FANC) berichtet, "das eine deutliche Häufung von so genannten "Precursor"-Fällen im Atomreaktor Tihange-1 belegt". Es habe zwischen 2013 und 2015 insgesamt acht solcher Ereignisse in Tihange-1 gegeben. Das seien "mehr als die Hälfte aller "Precursor"-Fälle in ganz Belgien." Nach ihren Angaben sollen bisher angeblich "insbesondere die Reaktoren Tihange-2 und Doel-3 als besonders riskant" gegolten haben.

"Bei einem 'Precursor' (deutsch: Vorbote) handelt es sich um einen Zwischenfall in einem Atomkraftwerk, der unter bestimmten Voraussetzungen zu schweren Schäden am Reaktorkern, bis hin zur Kernschmelze führen kann." Experten für Reaktorsicherheit halten diese Vorboten für aussagekräftig. "Ich erinnere daran, dass Tschernobyl einen Vorläufer hatte, dieser Vorläufer wurde nur nicht beachtet", erklärte ein langjähriger Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) im Interview. "Tschernobyl hätte nicht stattfinden können und nicht stattfinden dürfen, wenn man sachgerecht untersucht hätte, also eine Precursor Analyse durchgeführt hätte", fügte der Experte Manfred Mertins an. Für ihn zeige die Häufung der Precursor, "dass die Sicherheit der Anlage hier Probleme aufweist".

So sollten nun eigentlich, wird der ehemalige Chef der deutschen Atomaufsicht im Bundesumweltministerium, Dieter Majer, zitiert, "die Alarmglocken bei allen Verantwortlichen, sowohl bei den Betreibern in Belgien, bei der Behörde in Belgien und auch bei den Nachbarländern, also sprich bei der deutschen Behörde, beim deutschen Bundesumweltministerium" zu leuchten beginnen.

Das ist gelinde gesagt schon fast Verdummung. Anlagen, wie Tihange und Doel dürften eigentlich längst nicht mehr am Netz sein. Die Alarmlampen müssten schon seit vielen Jahren bei allen Verantwortlichen brennen. Denn was braucht es mehr, als die Aussage des Chefs der belgischen Atomaufsicht, der schon vor fast zwei Jahren von der "alarmierenden Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze" in belgischen Atomkraftwerken gewarnt hatte? Jan Bens war entsetzt über den Betreiber Electrabel, der nichts unternehme, um das "Sicherheitsniveau zu verbessern".

Und es ging ihm dabei ausdrücklich nicht ausschließlich um die Tatsache, dass die Meiler Tihange 2 und Doel 3 zu den "Bröselreaktoren" gehören, deren Reaktorbehälter zahllose Risse aufweisen und schon deshalb nach den vorsorglichen Abschaltungen hätten nie wieder angefahren werden dürfen. Er sprach allgemein von den Reaktoren und der fehlenden Sicherheitskultur in den Atomkraftwerken des Landes.

Bröselreaktoren und Uraltmeiler

Bekannt ist doch nun wirklich ausreichend, dass der angesprochene Meiler Tihange 1 mehr als altersschwach ist und mit 43 Jahren am Netz noch deutlich älter als Block 2 ist. Block 1 sollte eigentlich 2015 definitiv abgeschaltet werden, da er nur für 40 Jahre ausgelegt war. Sogar Electrabel hatte 2011 im Rahmen der Fukushima-Katastrophe zugestimmt, da sich weitere Investitionen nicht mehr lohnen würden.

Doch dann bekam die Zeitbombe an der Grenze zu Deutschland 2012 eine Laufwerksverlängerung um zehn Jahre, weil sonst Engpässe in der Stromversorgung drohen würden. Das ist der einzige Grund, warum Bröselreaktoren und Uraltmeiler in Belgien (auch in Frankreich) am Netz bleiben. Denn es ist klar, dass der Stahl von einem der zentralen Sicherheitselemente durch den Beschuss mit Neutronen immer spröder wird. Da wird es irgendwann egal, ob der Reaktorbehälter zusätzlich Risse aufweist oder nicht. Die Gefahr eines Sprödbruchs wird immer größer. Der führt mit aller Wahrscheinlichkeit zur Kernschmelze, also zum Super-Gau.

Längst ist bekannt, dass in Europa schon etliche Reaktoren - nicht nur Tihange 2 und Doel 3 - nur noch mit Spezialmaßnahmen betrieben werden. So wird bereits in mindestens 19 Meilern das Kühlwasser vorgeheizt. Denn je spröder der Stahl ist, desto weniger hält er plötzliche Temperaturunterschiede aus. Wird bei fast 300 Grad Celsius Betriebstemperatur dann Notkühlwasser mit einer Temperatur unter 10 Grad eingeleitet, ist die Gefahr groß, dass es zu einem thermischen Schock und zum Spontanbruch kommt. Dabei birst der Druckbehälter - und das ist so etwas wie der schlimmste Vorfall in einem Atommeiler.

In belgischen Meilern kommt zu Rissen und uralten Anlagen eben noch die bekannte fehlende Sicherheitskultur hinzu. So wissen wir, dass ein IS-Terrorist mehrere Jahre im Hochsicherheitsbereich des Atomkraftwerks Doel arbeiten konnte, dessen islamistischer Fanatismus den Behörden bekannt war. In Tihange mussten schon zuvor vier Beschäftigte vom Dienst suspendiert werden. Die Atomaufsicht hatte Klage bei der Staatsanwaltschaft eingereicht und dem Betreiber schon mit Schließung des Kraftwerks gedroht, da Techniker und Ingenieure im nuklearen Kontrollraum ihre Arbeit nicht sonderlich ernst genommen hätten.

Wegen einer völlig verfehlten Energiepolitik unseres Nachbarn sind wir einer immer größer werdenden tödlichen Gefahr ausgesetzt. Nur weil in Belgien die Lichter ausgehen würden - wofür angesichts abgeschalteter Meiler schon Notfallpläne erarbeitet wurden -, sind die Meiler in Doel und Tihange noch am Netz. Da ist es wenig sinnig festzustellen, dass der eine oder andere Meiler "noch gefährlicher" sein soll, als ohnehin angenommen. Ob es nun in Tihange 1 oder 2, Doel 1,2, 3 oder 4 zum Super-Gau kommt, weil es einen islamistischen Anschlag, Nachlässigkeiten von Technikern oder Ingenieuren, einen Sprödbruch oder einen Spontanbruch wegen Rissen im Reaktorbehälter kommt, ist letztlich egal.

Klar ist, dass niemand der Verantwortlichen handelt. Die Bundesregierung hatte bisher nur zaghaft Belgien "gebeten" die Bröselreaktoren wenigstens so lange abzuschalten, "bis die weiteren Untersuchungen abgeschlossen sind". Noch dramatischer ist, dass die belgische Atomaufsicht zwar vor einer "alarmierenden Wahrscheinlichkeit" warnt, dass es im Land in einem Reaktor zum Super-Gau kommt, aber keine Maßnahmen ergreift. Die Meiler werden nicht abgeschaltet, wie es in einem solchen Fall nötig wäre. Ich komme mit dem Auto nicht über den TÜV, wenn die Wischerblätter schadhaft sind. Sind die Bremsen defekt, komme ich nicht mal mehr vom Hof. Das soll also eine Aufsichtsbehörde sein? Es ist offenbar nicht möglich, einige Menschen in Gefahr zu bringen, aber kein Problem, wenn man Hunderttausende bedroht.

"Klemmte ein Ventil? Streikte eine Pumpe? Fielen Messgeräte aus oder zeigten sie falsche Daten an?"

Die Beiträge im WDR und Monitor haben auch substanziell wenig geliefert. Darauf weist der Telepolis-Autor Detlef zum Winkel in einem ausführlichen Leserbrief hin. Die Journalisten seien in ihren Beiträgen "so unscharf geblieben", dass die belgische Atomaufsicht mit einer Gegendarstellung antworten und die deutsche Regierung sich auf den Standpunkt zurückziehen könne, Energiepolitik sei eine nationale Angelegenheit. Dafür seien die Journalisten verantwortlich, weil "Sie das Thema nicht konsequent bis zu Ende denken und bearbeiten".

Er stellt fest, dass wir in den Berichten über die konkreten Precursor-Vorfälle nur wenig erfahren haben. "Klemmte ein Ventil? Streikte eine Pumpe? Fielen Messgeräte aus oder zeigten sie falsche Daten an?" Aufklärung gäbe es keine, weshalb auch Detlef zum Winkel davon ausgeht, dass es altersbedingte Vorfälle sein dürften. Er fragt auch, warum die reale altersbedingte Versprödung nicht geklärt wird.

Dafür könnte man "einen oder mehrere der stillgelegten deutschen Reaktoren für Forschungszwecke freigeben", um die Streitfrage mit der belgischen Atomaufsicht überzeugend zu klären. "Bei einer solchen Untersuchung könnte allerdings herauskommen, dass auch die deutschen Reaktoren erhebliche Materialschwächen aufweisen und dass ihr Weiterbetrieb entsprechend den im Atomausstieg vorgesehenen Fristen eigentlich nicht mehr vertretbar ist." Und das ist eine These, warum sich auch Deutschland trotz der extremen Gefahren so verhält, wie es sich eben verhält.

Dass wir "die großen, starken und guten Deutschen" sind, die es wieder einmal besser wissen, wird die Belgier - zu Recht! - nicht überzeugen. "Überzeugen können wir sie nur, wenn wir zu einem Selbstversuch bereit sind und diesen auch durchführen", plädiert er für ein klares und konsequentes Vorgehen in Deutschland, um wirklich etwas zur Aufklärung zu tun. Es scheint, dass mit der populistischen Skandalisierung, wie gerade im Fall der Diesel-Abgase, vom eigentlichen Skandal abgelenkt wird. Der Skandal ist nicht, dass ein paar Affen den Abgasen ausgesetzt wurden, schließlich sind ihre Kollegen in Zoos in Berlin, Paris und Madrid oft höheren Konzentrationen ausgesetzt, sondern dass die Menschheit durch die Auto- und Atomkraftlobby zu Versuchskaninchen gemacht wird.