Ist das Internet ein Massenmedium? Oder: Wo bleibt die digitale Revolution?

Über das "Leben im Zeitalter der digitalen Medien" sowie über den "Homo Multimedialis" wurde in zwei Diskussionsrunden auf dem 5. Multimediakongreß '97 in Stuttgart debattiert. Stefan Krempl hat sich dazu seine Gedanken gemacht.

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Alle Welt wartet darauf, daß endlich der 50 (oder 60?) Millionste Erdenbürger den Schritt in den Cyberspace wagt und seinen Computer in die Netzgemeinde einführt. Vor allem die Wirtschaft fiebert diesem Zeitpunkt entgegen, denn dann würde endgültig die "kritische Masse" an Netizens erreicht sein, mit denen man auch vernünftige Geschäfte abwickeln kann. Vorbei wäre die Zeit, in der die Freaks, Yumis (Young University Males) und Early Adopters das Internet beherrschten. Der "Otto-Normalverbraucher" und Netconsumer würde dann nämlich in ausreichender Anzahl seinen virtuellen Einkaufswagen durch die Cybermalls schieben, seine Augäpfel auf die flatternden Werbebanner werfen und all die Entertainment-Sites, die momentan ihr Richtfest im Netz feiern, begierig und mit seiner Cyberwallet ausgerüstet bevölkern.

Technologies are coming on the market now that will make computerlike devices available in cheaper and more accessible formats - the network computer, the networked TV, smart telephones, and game players. Businesses should be ready for the mass customer to go online.

Ten-Year Forecast des Institutes for the Future

"We're almost there" freute sich jüngst das Magazin Businessweek (5.5.1997). Nach einer Befragung von 1000 nicht näher spezifizierten Haushalten in den Vereinigten Staaten durch die "Baruch College-Harris Poll" würden momentan 21 Prozent der Bevölkerung das Internet nutzen, also hochgerechnet rund 40 Millionen Amerikaner. Was die Online-Verkäufer besonders freuen dürfte: 41 Prozent davon sollen Frauen sein, die ja bekanntlich die wahren Geldausgeber sind. Angenommen, diese imposanten Zahlen stimmen - bisher ging man immer eher davon aus, daß weltweit ca. 40 Millionen Menschen Zugang zum Netz haben -, so ist dennoch verwunderlich, weshalb die "beinah" erreichte "kritische Masse" nicht zu einem deutlich höheren Geld- und Warentransfer über das Internet geführt hat. Denn nach wie vor ist das Auseinanderklaffen zwischen den Prognosen der Marktforschungsinstitute und den tatsächlich im Web erzielten Umsätzen beträchtlich.

In Europa, das den Vereinigten Staaten im Bereich Informationstechnologie Andy Grove zufolge "10 Jahre" hinterherhinkt - in Deutschland verfügen laut der "Online-Offline"-Studie des Spiegel-Verlags von 1996 "nur" 3,75 Millionen über einen Netzzugang -, wird derweil weiterhin kräftig die Werbetrommel für den Einstieg in den Cyberspace gerührt. Politiker, Unternehmer und Internet-Aktivisten scheinen sich darin einig zu sein, daß nur die Masse K(l)asse bringt: Während die einen die "öffentliche Grundversorgung" (Jörg Tauss) auch im Bereich Internet gewährleistet sehen wollen und auf eine neue demokratische Partizipationskultur hoffen, erwarten die anderen "Refinanzierungsmodelle" für ihre Informations- und vor allem Unterhaltungsangebote im Web. Gefordert wird daher vor allem eine größere Bedienungsfreundlichkeit ("Simplicity") der Computerterminals, damit theoretisch jedem, der Knöpfe und Tasten betätigen kann, der Weg ins Netz geebnet wird. Außerdem sollen Websites über ein gehöriges Maß an "praktischem Nutzen" verfügen, damit der User auch wirklich einen "Mehrwert" findet, der die Telefongebühren und die Multimedia-Ausrüstung wert ist.

Die Einführung der Informationstechnologien und deren Vernetzung folgt vorwiegend einer ökonomisch-technischen Rationalität. Sie soll nicht primär sozial vernünftige Zustände herbeiführen helfen, sondern neue Märkte und Absatzmöglichkeiten erschließen.

Barbara Mettler-von Meibom

Auch auf dem Multimediakongreß '97 zeigten sich die bekannten Argumentationsmuster - zumindest in den "Keynotes" und Einzelreden. "Die gesellschaftliche Akzeptanz, die neuen Techniken zum Durchbruch verhilft, wächst zu langsam", bedauerte etwa der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl. Und Klaus Mangold, Vorstandsvorsitzender der debis AG, machte klar, daß es nicht genug sei, allein die eh schon im Internet Versammelten "mit immer neuen - nicht immer sinvollen - Features zu verwöhnen." Jetzt gehe es um etwas "Handfestes": "Wie kann jeder(frau)mann seinen Personalausweis von zu Hause in Auftrag geben, wie kann ein Buch via electronic commerce problemlos und zu später Stunde bestellt werden." Seine Folgerung: "Um neue Kundenschichten zu erreichen, müssen wir sie überzeugen, daß es für jeden ein nützliches Angebot gibt." Unterstützung erhielt er vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel (CDU), der das Motto ausgab: "Die Menschen da abholen, wo sie sind: Hardware muß erschwinglich, Software verständlich und Inhalte müssen nützlich sein."

Das schwer Vorstellbare an der zukünftigen Medien-Nutzung verbirgt sich für viele Bürger in der Vorsilbe Multi. Doch gerade in diesem Attribut liegen die ungeahnten Möglichkeiten für jedermann. Multi eröffnet neue Nutzungshorizonte.

Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg

Reicht eine möglichst simple Medientechnologie aber schon aus, um "Otto" und "Lisa" zu kompetenten Informationsnutzern zu machen, wie die "Standortprediger" (Rezzo Schlauch) glauben machen wollen? Ist der User wirklich zu "dumm", um einen Computer heutiger Bauart zu bedienen, oder ist er einfach zu "faul"? Fragen wie diese wurden in den nachmittäglichen Diskussionsrunden des Multimediakongresses behandelt. Computer müßten schon genauso gebaut werden "wie Waschmaschinen", wenn sie die Bevölkerungsmehrheit ansprechen sollen, gab "Trendforscher" Matthias Horx zu bedenken. Der Essener Medienwissenschaftler Norbert Bolz konnte dagegen mit dem "Zauberwort Benutzerfreundlichkeit" wenig anfangen. "Menschen müssen sich der Technik anpassen, nicht umgekehrt", lautet seine Devise.

Jede einigermaßen komplexe Technik bringt auch neue Vorstellungen über die Technik, das Wirtschaften und die Interaktionsbeziehungen hervor. Die Gesellschaft kommt nicht umhin, auf Veränderungen in der materiellen Umwelt mit einer Anpassung ihrer Programme und Vorstellungen zu reagieren.

Michael Giesecke

"Immer leichter" ist für Bolz sogar der Grundstock zu "immer dümmer". Medienkompetenz bedeute, "sich auch mit der Programmierung von Maschinen auszukennen." Der Trend zu immer einfacher bedienbaren Computern führe deswegen unweigerlich zur Trennung zwischen den "Whizards, den Machern" und dem großen Rest der rezipierenden Gemeinde, die mit der Black Box des hochtechnologisierten Mediums nichts weiter anzufangen weiß, als sich zu amüsieren.

Die Gesellschaft als Ganze soll die Apparate als Ganze programmieren. Um dies tun zu können, muß die Gesellschaft den Schaltplan der Sender umbauen, um nicht mehr zu funktionieren und zu empfangen, sondern um statt dessen die Sendungen zu programmieren und immer neu umzuprogrammieren. Nicht also "programmierte Demokratie, sondern "demokratisches Programmieren".

Vilém Flusser

Fun sei sowieso die "Killer-Applikation" des Webs, meinte Michael Bornhäuser von der Basler "Multimedia-Kommunikations-Agentur": "Der Homo Multimedialis will Spaß haben!" "Wir haben einen hohen Anteil der Zugriffe auf Entertainment", bestätigte der Leiter von Stern-Online, Ulrich Hegge. "Highlight ist die Webcam auf der Elbe", während der ambitionierte und eher netzspezifisch orientierte Informationsdienst "Netscan" de facto gescheitert sei.

Die Informationsgesellschaft stellt sich als eine durch zwei Extreme zerrissene Gesellschaft dar: Auf der einen Seite ist sie auf Unterhaltung, auf der anderen auf Wirtschaft gerichtet.

Rafael Capurro

Deswegen würde das soeben erfolgte Redesign von Stern-Online eigentlich "einen Schritt zurück" bedeuten, zu aus dem Printmagazin "vertrauten Orientierungspunkten" und Ressortaufteilungen wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Aufge(mehr)wertet würde das Angebot dann onlinemäßig durch Personalisierungsmöglichkeiten wie etwa einem Benachrichtungsservice, der den Fernsehfilm mit dem Lieblingsschauspieler per E-Mail ankündigt.

Hat der User also die "Chance zur Aktivität" wieder mal glatt verschlafen? "Informationen werden durch das Medium nicht verändert, sondern nur anders dargereicht", urteilte (oder wünschte sich) Wilfried Sorge, Geschäftsführer des Web-Werbevermarkters Ad On. Personalisierung und Filterfunktionen sind die entsprechenden Konzepte, die das Überleben in der "Informationsgesellschaft" gewährleisten sollen. "Online ist es möglich, daß jeder für sich selbst ein Programm zusammenstellt", weiß auch Jürgen Becker vom debis Systemhaus. Erfreut ist er darüber aber nicht, geht er doch davon aus, daß "sein" Programm auch nach mehrmaligen Filterdurchläufen eher noch umfangreicher werde, da er sich allein berufsmäßig für zahlreiche Entwicklungen interessiere, über die eben nun mal auch immer mehr publiziert werde.

Auch sonst konnte keiner den so oft beschworenen Möglichkeiten der "Wunschinformatisierung" und der Versorgung mit allein den eigenen "special interest" bedienenden Nachrichten viel abgewinnen.Wilfried Sorge etwa sah die Menschheit - früher größtenteils als Jäger und Sammler sich den Lebensunterhalt erwerbend - dadurch von jeglichen Überraschungen ausgeschlossen, und damit das Ende der Kreativität in nahe Ferne gerückt. Ganz am Rande wurde vom Mannheimer Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch obendrein erwähnt, daß die Filtertechnologien auch die Gefahr einer neuen "Gleichschaltung" in sich bergen. Denn die Software gibt dann vor, was gelesen und gelernt werden muß.

Der vom Computer selektierte Nachrichtendienst, der Ihnen täglich personalisierte Nachrichten liefert, wird bald merken, daß Sie sich zwar für Stories über Arbeitslosigkeit und nationale wirtschaftliche Schwierigkeiten interessieren, nicht jedoch für Obdachlose oder AIDS. Sobald Sie jedoch diese Probleme nicht mehr täglich in Ihren Nachrichten sehen, werden sie Sie nicht mehr so sehr bekümmern. Nach einer Weile könnten Sie vergessen, daß dies überhaupt Probleme sind.

Don Peppers/Martha Rogers

Bleibt am Ende also nicht einmal "das Grundrecht auf die Fernbedienung" (Reimer Gronemeyer)? Mehren sich nicht schon heute die Anzeichen, daß das Internet langfristig als perfektioniertes Fernsehen endet? Die Antwort ist im Sinne von Norbert Bolz ein klares Jein. Er sieht eine Zweiteilung des Netzes kommen: in das Internet I mit starken Sicherheitsvorkehrungen und perfekten Kommerzmöglichkeiten, das auch der ausgeprägtesten Couch Potato die Teilnahme am Marktplatz im Cyberspace ermöglicht, sowie in den "offenen Kanal" des Netzes, in dem der Nutzer weiterhin aktiv seinen Interessen wie Forschung oder Diskussion nachgehen könne. Das Internet II, das von amerikanischen Hochschulen bereits geplant und von Bill Clinton als "Internet Next Generation" höchstpersönlich unterstützt wird, bliebe dann die Spiel- und Kommunikationswiese der "alten" Netzgemeinde, während Otto und Lisa sich in den Netzwelten "auf der anderen Seite" weiter von den Entertainmentprodukten der Mediengiganten berieseln lassen würden.

Unser ganzes System beruht darauf, daß es immer ein informatorisches Proletariat geben wird, sozusagen den Informations-Proleten, bei dem die Nachricht dort rein und hier raus geht, um dann sozusagen auf dem Klo zu enden.

Peter Sloterdijk

Vieles spricht für eine derartige Aufteilung des Internet - in welcher Form auch immer der Übergang zwischen den einzelnen Netzwerken gestaltet sein wird. Von seiner Entstehung an war das Internet ein Verbundsystem zahlreicher Einzelnetze, die zunächst immer näher zusammenwuchsen, aber sich letztlich auch wieder auseinanderdifferenzieren könnten. Relativ einig war man sich in den Stuttgarter Diskussionrunden zumindest, daß das Internet in seiner heutigen Form "kein Massenmedium" wird, da es nur spezifische Interessen von Minderheiten und Communities befriedige (Horx).

Wenn man sich die Definition eines Massenmediums einmal genauer anschaut, so ist diese auch schon vom Ansatz her kaum auf das Internet zu übertragen. Gerhard Maletzke (Die Psychologie der Massenkommunikation, 1963) betont zum Beispiel neben dem einheitsstiftenden Moment der Massenmedien, daß "alle Massenkommunikation einseitig verläuft". Schon allein aus diesem Grunde wäre die alleinige Entstehung eines massenmedialen Internet eher nicht wünschenswert. Massenmedium: Ja oder Nein, ist für Jochen Hörisch allerdings auch nicht die entscheidende Frage. Seiner Ansicht nach kehren wir mit dem Internet zum Normalfall der Medienkompetenz zurück: "Im Jahre 1800 konnten rund 20 Prozent der Bevölkerung lesen. Wenn heute 20 Prozent ins Internet gehen, ist das ein Schritt in Richtung Normalität."

Stefan Krempl über die Kommerzialisierung des Internet