J. S. Bach und post-weihnachtliche Entlastungsdepressionen

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Die Kunst der Fuge auf dem Fliesenboden des Lebens. Ein Weihnachtsmoratorium mit Reparatur-Beilage.

Wer denkt, nun nach Weihnachten das Schlimmste hinter sich zu haben, irrt vielleicht. Die Statistiken zeigen nämlich: Die meisten Selbstmorde kommen danach. Angeblich fordern sogenannte post-weihnachtliche Entlastungsdepressionen mehr Opfer als Familienstreitereien unter dem Weihnachtsbaum und verdorbene Gänselebern zusammen.

Dabei würde der sogenannte normale Alltag als Gefahr für die psychische Gesundheit völlig ausreichen. Als in den verregneten Innenstädten die ersten Christbäume und an den Weihnachtsmärkten die Beton-Straßensperren aufgestellt wurden, klangen einem noch die Nachrichten aus der Ukraine und Israel in den Ohren und dann erschießt in Tschechien kurz vor dem Fest der Nächstenliebe ausgerechnet ein Philosophiestudent über zwei Dutzend Menschen einfach so. Da braucht es für eine Krise gar keine zusätzlichen privaten Sorgen.

Aber mit denen ist es noch dazu wie mit Zucker: kommt von allein. Dann fehlt manchmal nicht mehr viel und es ereilt einen spontanes Nasenbluten, wenn wo aus übersteuerten Lautsprechern "Last Christmas" oder "Driving home for Christmas" klirrt. Denn auch Chris Rea scheint und scheint nie wo anzukommen, wo man sich daheim fühlt.

Zwei Soldatinnen des Schönen und ein Major der Musik

Da bin ich also an einem der letzten Einkaufstage vor Weihnachten in einer Tiefgarage, die mehr einer Lautsprechertestanlage gleicht als einem überdachten Parkplatz. An den gefliesten Wänden bricht sich Weihnachtsmusik und fällt in die ölschlierenden Pfützen auf dem Boden.

Da läuft an mir eine junge Frau vorbei: Geknechtet von den nahenden Feiertagen, den Kopf gesenkt, mit Geschenken in Plastiktüten beladen, ihr Kind drei Meter dahinter – und sie singt bei dieser Weihnachtsbeschallung mit. Sie sieht nicht, dass jemand sie sieht. Ihre Stimme ist unglaublich: fein, superlyrisch, völlig unerwartet.

Sie sieht aus wie jemand, der es weder vor, während, noch nach Weihnachten schön hat. Das Kind ist jetzt schon sehr still, aber seine Mama über geschätzte zwei Autoreihen deutlich hörbar: eine scheinbar stolze Verfechterin von Optimismus auch unter suboptimalen Umständen. Emiliy Dickinson hätte daraus ein sicher ein Gedicht gemacht.

Auf alle Fälle erinnert das Szenario an ihre Zeilen in "I died for beauty". Diese Überschrift klingt erhaben. Aber die Begeisterung für dieses Pathos vergeht einem schnell beim Lesen. In dem Text liegt eine an Schönheit gestorbene Dame im Grab neben einem Kollegen. Der ist seinerseits gestorben an der Wahrheit. Vielleicht in einer Tiefgarage.

Denn die Wahrheit ist doch die, dass die Welt alles andere als weihnachtlich schön ist. Oder gerecht. Nach Jauchzen und Frohlocken – so der Anfang von Bachs Weihnachtsoratorium – ist einem gerade an Weihnachten oft nicht.

Man kann schon froh sein, wenn nicht das Gegenteil aus der Feder Bachs passt, nämlich die Selbstmörder-Kult-Kantate "Ich habe genug" (BWV 82). Das meint in diesem Falle nicht die Reaktion eines CEO auf seine Kontoauszüge. Sondern ein gläubiger Mensch hat die Nase gestrichen voll vom Leben und freut sich mega auf das Ende desselben.

Die Kunst der Fuge

Der bestmögliche Kompromiss zwischen diesen zwei Extremen ist Bachs "Musikalisches Opfer" (BV 1079): eine Sammlung von Fugen, Kanons und einer Triosonate. Die Vorgeschichte dieser 16 gebündelten Einzelsätze war folgende: Im Mai 1747 war Bach auf Potsdam zu Besuch bei seinem Sohn Carl Philipp Emanuel, als er unerwartet zu Friedrich dem Grossen beordert wurde.

Als Vertreter der damaligen Moderne mochte der Herrscher Bach nicht besonders. Ausserdem hielt er sich selbst für einen grandiosen Flötisten. Er spielte dem alten Mann eine Melodie vor, die für eine kontrapunktisches Stück so geeignet war wie eine Zahnbürste für einen Luftröhrenschnitt.

Daraus eine vorzeigbare Komposition zu machen, darin bestand seine Herausforderung – und das nicht zu schaffen wäre eine nicht wieder gut zu machende öffentliche Niederlage gewesen. Aber natürlich hat Bach die Sache gestemmt. Das Stück würde eines seiner Glanzstücke, aber es ist ihm anzuhören, dass die Vorgabe dafür alles andere als lieb gemeint war. So wie im richtigen Leben.

Dessen Fliesenboden gut zu verfugen, ist nie leicht. Dafür liegen zu viele Scherben herum. Das schaffen nur Profis wie eben Bach, der zum Beispiel auch ausgerechnet im Gefängnis das berühmte Präludium Nr. 1 C-Dur BWV 846 schrieb.

Dazu war es gekommen, als sein Chef Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar in Ermangelung modernen Wissens über Kompetenzmanagement nicht ihm, sondern dem Konkurrenten Telemann eine Hofkapellmeister-Stelle angeboten hatte.