"Jede Wette, dass die Schuldenbremse die nächste Krise nicht überlebt"

Seite 2: "Der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist 2015 auf etwa 53 Prozent gefallen"

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Stichwort Debtocrazy: Was lehrt uns die Griechenland-Krise zu diesem Problem?

Ingo Stützle: Der Finanzsoziologe Herbert Sultan stellte in einer Untersuchung über Staatseinnahmen heraus, dass über die politische Bedeutung von Schulden, der Gläubigerstaat entscheidet. Was bedeutet das? Die griechischen Staatsschulden wanderten von privater Hand, aus den Bilanzen von deutschen und französischen Banken, in öffentliche beziehungsweise institutionelle Hand. Sie sind jetzt bei der EZB, dem Rettungsschirm oder einzelnen Euro-Staaten. Der fehlende private Kredit, das abhandengekommene Vertrauen der Anleger in Griechenland, wurde durch einen politischen Kredit ersetz.

Deshalb war es den Gläubigerstaaten möglich, im Rahmen der Troika, Griechenland in eine Schuldenkolonie zu verwandeln und Auflagen für Hilfen zu diktieren, die diesen Namen eigentlich nicht verdienen. Die griechischen Schulden wurden einerseits zu einem Mittel, eine brutale Austeritätspolitik durchzusetzen; andererseits war die Troika-Politik gegenüber Griechenland eine Warnung an alle anderen Euro-Staaten.

Aber auch in Griechenland gibt es kein "Wir". Es ging nicht um Deutschland gegen Griechenland: Während die breite Masse der Bevölkerung die Leittragenden sind, lacht sich das Kapital ins Fäustchen. Endlich werden die Reformen durchgeführt, die sie sich so lange erhofft haben. Endlich wird wieder umverteilt: So ist der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen von etwa 65 Prozent im Jahr 2002 auf etwa 53 Prozent 2015 gefallen. Das heißt umgekehrt: den Unternehmern und Rentiers fällt mehr vom gesellschaftlich produzierten Reichtum zu. Der Wealth-X and UBS Ultra Wealth Report zeigt, dass es 2013 in Griechenland 505 sogenannte Ultra-Reiche gab, die insgesamt über 60 Milliarden US-Dollar verfügten. 2014 waren es schon 60 Personen mehr, mit insgesamt 70 Milliarden US-Dollar Vermögen - ein Zuwachs von 16,7 Prozent. Bei der Steuerbelastung sieht es ähnlich aus, nur umgekehrt: die Armen zahlen.

"Neben ökonomischen Zwängen waren vor allem soziale Auseinandersetzungen relevant"

Nach der wirtschaftlichen und politischen Katastrophe, zu der eine prozyklische Wirtschaftspolitik in den 30er Jahren geführt hat: Warum ist man von dem Konzept einer antizyklischen Wirtschaftspolitik abgekommen?

Stepahn Kaufmann: Ist man davon abgekommen? Nicht in den USA, nicht in Japan, nicht in Großbritannien, auch nicht in China, wie man derzeit sieht. In der Euro-Zone dagegen sieht es derzeit so aus, hier haben Staaten in der Krise tatsächlich massiv gekürzt. Allerdings nicht freiwillig, sondern unter Zwang. Gezwungen wurden sie von einem Staat, dessen Wirtschaft nicht in der Krise war: Deutschland. Dass diese Sparprogramme für die Wirtschaft der betroffenen Länder schädlich sind, hat man gewusst. Dennoch wurden sie durchgezogen, um den Euro und die Euro-Zone für die Finanzanleger wieder zu einer sicheren Anlagesphäre zu machen.

Die Kosten für diese "Konsolidierung" hat die Bundesregierung vor allem den südlichen Euro-Ländern aufgehalst. Das Ergebnis ist ein bemerkenswerte Dauer-Krise vieler Länder, rekordhohe Arbeitslosenzahlen und - siehe 30er Jahre - ein Aufstieg rechter Parteien allerorten, die nicht die Umverteilung zum Thema machen, sondern "die Ausländer".

Ingo Stützle: Wie man in den 1930ern nicht aus Vernunft von der Laissez-faire-Politik abgekommen ist, so ist die Wirtschaftspolitik ab Ende der 1970er Jahren nicht plötzlich unvernünftig geworden. Neben ökonomischen Zwängen waren vor allem soziale Auseinandersetzungen relevant. In den USA haben massive Klassenkämpfe und vor allem die Armen- und Arbeitslosenbewegung den New Deal durchgesetzt. Noch bis 1932 hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt jede schuldenfinanzierte Staatsintervention abgelehnt. Und in den 1970ern, als die Profitraten unter Druck gerieten, war es wiederum ein Klassenkampf von oben - schön nachzulesen etwa in David Harvey kleinem Bändchen zur Kleinen Geschichte des Neoliberalismus.

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