Jemen: Wiederholung der Fehler im Irak und in Afghanistan?

Armut, hohe Arbeitslosigkeit, Islamisten, mächtige Stammesfürsten und erfolglose Offensiven gegen al-Qaida - das Land braucht neue Rezepte im Kampf gegen den Terrorismus

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17 Minuten hätten angeblich noch gefehlt und die beiden Paketbomben aus Jemen wären explodiert, die „Insider-Kenntnisse“, die der französische Innenminister Hortefeux in einem Interview mit France 2 ausplauderte, wurden zwar von britischer und amerikanischer Seite bestritten, doch bleibt die wesentliche Botschaft in der westlichen Öffentlichkeit bestehen: Die beiden Sprengsätze zeigen, dass „Al Qaeda auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAP) weiter versucht, den Westen mit allen erdenklichen Mitteln zu terrorisieren (siehe dazu Jemen könnte zum nächsten Afghanistan werden) - mit perfiden, individuellen und überraschenden Attentaten, die von den Sicherheitsbehörden nur mit viel Glück zu verhindern sind.

Die Regierung des Jemens lancierte vor kurzem ein Programm, um Touristen aus Europa wieder ins Land zu bringen. In den letzten 10 Jahren hatte man rund 10 Milliarden Dollar verloren. Immer mehr Touristen waren ausgeblieben, nachdem Reisende gekidnappt und auch ermordet worden waren.

Ein Traum aus 1001 Nacht

„Jemens Klima, Geographie und Traditionen machen das Investment in Tourismus zu einer Goldgrube“, erklärte Premierminister Ali Mohammed Mujawar. Es sei der aussichtsreichste Sektor, der eine nachhaltige Entwicklung verspreche und die ökonomischen Ambitionen des Landes erfülle.

Gerade für Besucher aus dem Westen ist der Jemen wie ein Traum aus 1001 Nacht. Die Architektur der Städte, mit Häusern aus Sand und Stein, und einem Landleben, die sich seit biblischen Zeiten nicht geändert zu haben scheint. Insgesamt 50 neue Tourismus-Projekte hat die jemenitische Regierung anvisiert. Viele davon liegen in den Provinzen von Shabwa, Mareb und Abyan. Regionen, in denen Al Qaeda präsent ist. Mit Tourismus wird es dort vorerst sicherlich nichts werden.

„Al Qaeda macht das Land kaputt“

„Al Qaeda macht das Land kaputt, der Schaden für die Ökonomie ist enorm“, sagt Abdulghani Al-Iryani, ein bekannter jemenitischer Publizist und politischer Berater. Seit der Gründung von "Al Qaeda auf der Arabischen Halbinsel" (AQAP)http://www.nctc.gov/site/groups/aqap.html im Januar 2009 wurde der Jemen mehr und mehr zur Operationsbasis für internationale Anschläge. „Der militärische Druck in Afghanistan und im Irak, ließ Al Qaida nach neuen Rückzugsgebieten suchen“, heißt es in einem Bericht des US-Senats . Wie einst Afghanistan, fehle auch dem Jemen „eine funktionierende Zentralregierung“, was das Land als neue Basis prädestiniere.

In der Tat kontrolliert die Regierung von Staatspräsident Ali Abdullah Salih etwa nur ein Drittel des insgesamt 530.000 Quadratkilometer großen Staatsgebietes an der Südspitze der Arabischen Halbinsel . Im Norden kämpft der schiitische al-Huthi-Klan seit 2004 für einen unabhängigen Staat. Einen bewaffneten Konflikt, den die Regierung bis heute nicht gewinnen und auch nicht schlichten konnte (siehe Jemen: neue Front im Kampf gegen den Terror). Im Süden protestiert die Bevölkerung gegen die Aministration in der Hauptstadt Sanaa und will eine Sezession. Immer wieder kommt es zu Anschlägen auf Polizeibehörden und Armee.

Eine gemeinsame Geschichte

Aber die Erklärung des US-Senats, Al Qaida habe den Jemen als Standort allein aus strategisch-militärischem Kalkül „ausgewählt“, ist zu kurz gegriffen. Die Terrororganisation und die arabische Republik verbinden eine gemeinsame Geschichte. Wie in anderen arabischen Ländern brachten auch im Jemen die Afghanistan-Veteranen aus dem Krieg gegen die Sowjetunion (1979-1989) ihre radikal-islamistische Ideologie mit nachhause. „Sie wurden als Helden gefeiert, galten als coole Typen“, weiß Abdulghani Al-Iryani, der jemenitische Publizist zu berichten.

Ende der 80er Jahre gründeten sie Koranschulen und richteten Trainingscamps ein. Zu Beginn der 90er Jahre kämpften sie auf Seiten der Regierung gegen die Sezessionisten des säkularen Südens.

Erst nach dem Attentat auf den US-Zerstörer Cole im Hafen von Aden im Jahr 2000 , bei dem 17 US-Seeleute starben, begann die jemenitische Regierung Ausbildungslager zu schließen. Einige, aber lange nicht alle. Die Koranschulen dagegen, blieben unangetastet. „Heute sind die Islamisten ins politische System des Landes eingebettet“, so Abdulghani Al-Iryani weiter.

So soll der Militärkommandeur von Nordwestjemen, Ali Mushin Al-Ahmar, für das Training von Dschihadisten verantwortlich gewesen sein, die nach Afghanistan und in den Irak geschickt wurden (siehe "Wir sind bewaffnet, Analphabeten, hungrig und zornig"). Eine andere schillernde Figur ist Tariq Al Fadhli, ein ehemaliger Afghanistan-Kämpfer und Verbündeter von Osama bin Laden.

Abhängig vom Schutz der Stämme

Die Leibwächter des Al Fadhlis kommen aus Somalia, von den radikalen Al-Shabab-Milizen, die erst im Januar dieses Jahres der AQAP „Manpower“ bei ihrem Kampf angeboten hatten. Der Dschihad-Veteran, Al Fadhli, der früher zeitweilig Staatspräsident Ali Abdullah Salih unterstützte, kämpft heute für die Sezession des Südens und hat sich mit Al Qaida verbündet. Erst Anfang Oktober wurde die Gründung einer neuen „Aden-Abyan-Armee“, die vom Süden aus das „gesamte Land“ befreien will, verkündet.

Wie viele im Jemen im Namen Al Qaida kämpfen, ist ungewiss. „Tausende“, meint der Publizist Abdulghani al Iryani. „12.000“, gibt Al Qaeda selbst an. Sicherlich etwas übertrieben. Aus Afghanistan sowie dem Irak sollen rund 2000 Jemeniten zurückgekehrt sein. Dass Al Qaeda 10.000 weitere rekrutiert haben soll, ist kaum zu glauben und Propaganda.

Die Rückzugsgebiete Al-Qaedas liegen im Osten und im Süden des Jemens. Dort existiert keine staatliche Autorität. Stammesoberhäupter haben das Sagen und besitzen auch politische Macht. Ein Minister kann auf eine Audienz beim Präsidenten wochenlang warten, während ein einflussreicher Stammesfürst einen Termin innerhalb von 24 Stunden bekommt.

Vom Schutz der Stämme sind Al-Qaida-Mitglieder, wie Anwar al-Awlaki, abhängig. Der aus den USA stammende Imam ist mit einem bekannten Führer verwandt und so für die Behörden unantastbar. Al-Awlaki soll via Internet den Soldaten Nidal Malik Hasan dazu gebracht haben, im November 2009 auf der US-Militärbasis Fort Hood, Texas, 13 Menschen zu erschießen. Aber auch Umar Farouk Abdulmutallab, der 23-jährige Nigerianer, der am Weihnachtstag in Detroit ein Flugzeug zu sprengen versuchte, soll unter dem Einfluss al-Awlakis gehandelt haben.

Kontraproduktive Offensiven

Ende September startete die Regierung eine militärische Offensive in die Al Qaida-Gebiete. Trotz US-Militäraufklärung, jedoch mit geringem Erfolg. Einige wenige Al-Qaida-Kämpfer wurden getötet, aber der große Schlag gegen die Organisationsstruktur blieb aus. Wie durch ein Wunder entkamen sogar rund 60 Kämpfer aus einem von der Armee umstellten Dorf. „Militärisches Vorgehen alleine hat doch keinen Sinn“, behauptet der politische Berater Abdulghani al Iryani.

Gerade die Beteiligung der USA ist kontraproduktiv, besonders, wenn dabei Zivilisten zu Schaden kommen sollten.

Das bringe den Extremisten nur Sympathien und neue Rekruten. „Man muss die Bedingungen bekämpfen, die Terrorismus möglich machen“. Das sei die einzig mögliche Strategie, fügt al Iryani überzeugt an. „Selbst wenn das sehr lange Zeit in Anspruch nimmt“.

Nicht die Fehler von Afghanistan und Irak wiederholen

Der Jemen ist eines der ärmsten Länder der Region, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. 40 Prozent sind arbeitslos, 70 Prozent haben keine Ausbildung und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. „Wir hoffen“ sagte der jemenitische Außenminister Abu Bakr al-Qirbi, „dass die USA die Fehler von Afghanistan und Irak nicht wiederholen. Wir brauchen einen langfristigen Entwicklungsplan gegen Armut und für Bildung. Das bekämpft den Terrorismus effektiver als militärische Aktionen".

Dass dieser Wunsch in Erfüllung geht, steht zu bezweifeln, solange AQAP mit der Planung von Attentaten in westlichen Ländern weiter macht. Anwar al-Awalki, der religiöse Mentor der Gruppe, wird sicherlich bald wieder jemand finden, der bereit ist, „dekadente Ungläubige“ zu töten. Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis jemand ein Mordinstrument, wie die „Ultimative Mähmaschine“, die im AQAP-Magazin empfohlen wird, nachbaut und wie in einem Stephen King Film durch die Fußgängerzone einer westlichen Großstadt rast.