Jetzt kennen wir keine Parteien mehr
Seite 2: Angriffskrieg: Es kommt darauf an, wer ihn führt
- Jetzt kennen wir keine Parteien mehr
- Angriffskrieg: Es kommt darauf an, wer ihn führt
- Absichtsvolle Amnesie: noch nie "Krieg in Europa"
- Wer den Krieg gewinnt, ist im Recht
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Fangen wir mit Angriffskrieg als Vorwurf an. Ja, Russland ist in die Ukraine eingefallen, hat also den Krieg begonnen. Das ist furchtbar, und natürlich kann man das nicht begrüßen – wie keinen Krieg.
Doch Angriffskrieg ist nicht immer gleich Angriffskrieg. Denn was wäre, wenn der Zweck einer Invasion in Ordnung ginge? Etwa die Invasionen der US-Amerikaner in Vietnam, im Irak, in Libyen, in Afghanistan oder tatsächlich auf dem europäischen Balkan, um nur die geläufigsten zu nennen? Mit dabei in vielen Fällen die Europäer, auch die Deutschen.
Dann ist der Bruch des Völkerrechts, der jetzt gegen Russland in Anschlag gebracht wird, zwar unschön, aber kein ernsthaftes Hindernis. Dann gehen keine hunderttausende empörte Deutsche auf die Straße, um gegen einen Angriffskrieg zu protestieren. Dann lassen sie sich im Gegenteil all die guten "Argumente" einleuchten, warum die USA, der Westen, die Nato und auch mal der eigene Staat anderswo auf der Welt hat zuschlagen müssen.
Der Vorwurf Angriffskrieg wird eben erst einer, wenn man schon vorher Partei nimmt für eine Seite des Konflikts. Im vorliegenden Fall also für die Ukraine, die doch einfach nur zu "uns" will und daran vom bösen Putin gehindert wird.
Womit wir zum zweiten Haupt-Argument der hiesigen allgemeinen Empörung kommen. An der Spitze des russischen Staates regiere ein unberechenbarer Herrscher, dem alles zuzutrauen sei, was an Furchtbarem einem Menschen zugeschrieben werden könne. Der Hinweis, dass das nicht immer so war, sondern eine Zeitlang der Westen meinte, einen gerade berechenbaren und konstruktiv kapitalistisch agierenden Präsidenten vor sich zu haben, hilft nicht.
Menschen können sich schließlich ändern. Tatsächlich hat sich Putin geändert – weil der Westen, allen voran Deutschland, nicht auf seine Angebote einer vertieften Partnerschaft in Europa einging, sondern vielmehr Russland wegen seiner überragenden Atommacht weiter als Gegner behandelte.
Die damit einhergehende militärische Einkreisung der Nato begriff Russland richtig als Absage an eine erhoffte gleichberechtigte Partnerschaft – und handelte entsprechend mit seiner Macht dagegen, in Georgien, auf der Krim, in Donezk, Luhansk und jetzt in der ganzen Ukraine.
Wie nennt man "Führungsstärke" beim Feind? Despotismus!
"Unberechenbar" oder gar "furchtbar" ist daran nichts. Jedenfalls nicht nach den Maßstäben von Staaten und deren Oberhäuptern für den Fall, dass sie sich von anderen Staaten bedroht fühlen. Dann ist jedem gestandenen Staatsmann Krieg ein Mittel.
Putin hatte dem Westen ausführlich jahrelang und mehrfach erläutert, wie diese Bedrohung aus russischer Sicht empfunden wird und Vorschläge unterbreitet, wie man zu einem "modus vivendi" kommen oder, einfach ausgedrückt, wie man sich gegenseitig in Ruhe lassen könnte. Das lag jedoch offenbar nicht im Interesse des Westens. Deshalb baute dieser weiter an der Front gegen Russland, lehnte die Vorschläge der Russen kategorisch ab.
Und der Westen arbeitete am Bild vom bösen Russen und von Putin als dessen Inkarnation. Schließlich ging es auch um eine ideologische Front. Heute steht sie fest und geeint gegen den "Despoten". Eigenschaften, die hiesigen Politikern gutgeschrieben werden, gelten bei Wladimir Putin als verwerflich: Allen voran die Führungsstärke, mit der sich unsere Herrschaften gegen ihresgleichen durchsetzen, ob in der Partei, in der Regierung oder mit harten Entscheidungen gegen Bürger.
Dass diese Stärke mit "Ellbogenmentalität" und Skrupellosigkeit einhergeht, ist auch kein Geheimnis und gehört für jeden aufgeklärten Bürger und Journalisten eben zum politischen Geschäft dazu.
So abgeklärt dies hierzulande besprochen wird, so übel fallen diese Eigenschaften bei Politikern auf, die einem gegnerischen Staat vorstehen. Akribisch fahnden dann investigative Journalisten nach den Schwachstellen der betreffenden Personen. Putin kommt aus dem falschen Geheimdienst – die guten Dienste CIA, BND und James Bonds MI6 kennt man ja –, er protzt mit seinem sportlichen Körper, hat aber kleine Augen und zuletzt ziemlich fahle Haut!
Außerdem kehrt er den Chef vor seinen Untergebenen heraus, Skandal, das gibt es natürlich beim Bundeskanzler nicht. Ärgerlich, dass noch keine Millionen-Vermögen auf Schweizer Konten entdeckt wurden. Wäre doch zu schön, Putin auch noch eine Bereicherung am russischen Volk vorwerfen zu können.
Auf diese sorgfältig und mit eindeutiger Absicht über Jahre aufgebauten Hassbilder fallen bedauerlicherweise sehr viele Bürger herein. Es leuchtet ihnen umso mehr ein, als ihnen ein "Krieg in Europa" bis jetzt unvorstellbar erschien – und nur ein "Irrer" so etwas vom Zaun brechen könne.
Dabei handelt der "Irre", wie gesehen, nach einem klaren Plan: Das Interesse seines Staates an Sicherheitsgarantien muss berücksichtigt werden. Wenn die Gegenseite das ignoriert, ist die eigene Sicherheit extrem gefährdet. Also handelt dieser Staat, wie es jeder tut – mit der Androhung seiner Gewalt; und wenn das nichts fruchtet, mit deren Anwendung.