Juristischer Sonderfall

In Hamburg wird der Prozess gegen Mounir El-Motassadeq fortgesetzt

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Am heutigen Freitag begann vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) der dritte Aufguss des ehemals weltweit ersten Prozesses im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Allerdings wird nicht erneut die Frage nach Schuld oder Unschuld des Angeklagten Mounir El-Motassadeq Gegenstand der Verhandlung sein, sondern die Aufgabe des eigens für dieses Verfahren gegründeten 7. Strafsenats des OLG besteht lediglich darin, das Strafmaß, 7 Jahre Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, zu verschärfen - so die Vorgabe des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe (Neues BGH-Urteil im Falle Motassadeq). Ein Novum in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik, das von Motassadeqs Anwälten als Justizwillkür interpretiert wird, weshalb sie das Bundesverfassungsgericht anriefen und beim OLG beantragten, das Verfahren auszusetzen, bis das Hohe Gericht entschieden habe. Eine Entscheidung über diesen Antrag wird der verhandelnde Strafsenat am kommenden Montag bekannt geben.

„Die Sache ist dann aufgerufen“, eröffnete der Vorsitzende Richter Carsten Beckmann das Verfahren. „Die Sache“, das ist der dritte Prozess gegen Motassadeq vor dem Hamburger OLG. Bereits zwei Mal wurde dort gegen den ehemaligen Technik-Studenten verhandelt, dem vorgeworfen wird, zu der so genannten „Hamburger Zelle“ um Mohammed Atta gehört und in die Anschlagspläne eingeweiht gewesen zu sein. Zwei Mal wurde er deswegen verurteilt: Am 19. Februar 2003 wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3.000 Fällen sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur Höchststrafe von 15 Jahren Haft und am 20. August 2005 zu sieben Jahren Haft - „nur“ noch wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, da der Vorwurf des Tötungsvorsatzes fallen gelassen wurde (Motassadeq zum zweiten Mal verurteilt). Beide Male wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof (BGH) gekippt und das Verfahren an einen anderen als den vorher verhandelnden Senat des OLG nach Hamburg zurückverwiesen, einmal am 4. März 2004 (Grenzen der Wahrheitsfindung) und am 16. November 2006.

Während nach dem ersten BGH-Entscheid der Prozess komplett neu aufgerollt wurde, soll jetzt nur noch das Strafmaß neu verhandelt, genau gesagt, nach oben korrigiert werden. Das ist die Anordnung des BGH, denn die Karlsruher Richter sahen es als erwiesen an, dass Motassadeq zumindest insofern in die Anschlagspläne involviert war, als dass er wusste, dass Flugzeugentführungen beabsichtigt waren. Damit habe er die Gefährdung und den Tod der Passagiere bewusst in Kauf genommen, schlussfolgerten die BGH-Richter und verurteilten Motassadeq wegen Beihilfe zum Mord in 256 Fällen - so viele Menschen kamen am 11. September in den Todesfliegern ums Leben. Das Strafmaß ließen die Bundesrichter indes offen, das soll nun in Hamburg festgelegt werden - in einem möglichst kurzen Prozess.

Doch ehe dieser heute richtig beginnen konnte, stellten Motassadeqs Anwälte Ladislav Anisic und Udo Jacob jeweils den Antrag, die Verhandlung auszusetzen. Anisic konstatierte die „mangelnde Zuständigkeit des ernannten Strafkörpers“. Er monierte die Zusammensetzung des verhandelnden 7. Strafsenats, der in aller Hast und ohne jede Geschäftsgrundlage gegründet worden sei, nachdem der BGH im Oktober zu Beginn des Revisionsverfahrens signalisiert habe, den Fall, der vor dem 4. Strafsenat des Hamburger OLG verhandelt worden war, an einen anderen Strafsenat des Hamburger OLG zurück zu verweisen. Das Präsidium des OLG habe es versäumt, rechtzeitig Vorkehrungen für diesen Fall zu treffen.

„Die Kriterien zur Auswahl der hier Erschienenen“ (gemeint waren die Richter, Anm. d. Verf.) seien „völlig unklar“, so Anisic. Statt auf einen der fünf übrigen der insgesamt sechs Strafsenate des OLGs zurückzugreifen, sei ein Gremium eingesetzt worden, das vorwiegend aus Richtern bestehe, die ansonsten mit Straßenverkehrs- oder Finanz- und Steuerdelikten befasst seien. Er zweifle weder an deren fachlichen - und schon gar nicht an ihrer persönlichen - Integrität, betonte Anisic, „dennoch steht Herr Motassadeq heute nicht vor seinem gesetzlichen Richter, sondern vor einem Ausnahmegericht“.

Dieses „Ausnahmegericht“ sei ausschließlich für den Fall Motassadeq einberufen worden und habe nicht einmal das Recht der Beweisaufnahme, sondern nur die Pflicht zur Verurteilung des Angeklagten. Das sei eine „klassische Einzelfallbehandlung“ und verstoße somit gegen das Grundgesetz, konstatierte Anicic, der die Aussetzung des Verfahrens und die Entlassung seines Mandanten aus der Untersuchungshaft forderte. Udo Jacob stellte den Antrag, das Verfahren auszusetzen, bis über die Verfassungsbeschwerde im Falle Motassadeq entschieden sei. Er bemängelte, dass in Karlsruhe ein Urteil „in Abwesenheit meines Mandanten und ohne, dass er sein Recht auf das letzte Wort wahrnehmen konnte“ gefällt worden sei.

Bundesanwalt Walter Hemberger hielt den beiden langatmigen Vorträgen der Anwälte seine Sicht entgegen. Demnach war es nicht nur rechtens, dass das OLG einen gesonderten Strafsenat für dieses Verfahren eingesetzt habe, sondern sogar dessen Pflicht und zudem durch BGH-Urteile gedeckt. Der Fall Motassadeq sei ein Einzelfall, bestätigte Hemberger, es sei noch nie vorgekommen, dass ein Verfahren zwei Mal vom BGH an das verhandelnde regionale Gericht zurückverwiesen worden sei. Die Aussetzung des Prozesses lehnte der Bundesanwalt ab, da kein Schaden entstehe, falls ein etwaiges Urteil des OLG vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werde. „Dann sind wir wieder auf dem Stand, auf dem wir jetzt auch sind und fangen wieder von vorne an“, so Hemberger lakonisch. Falls das Verfahren aber jetzt ausgesetzt werde und die Verfassungsbeschwerde der Anwälte Motassadeqs abgelehnt werde - und er messe der Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg bei - habe das Gericht gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen, schließlich habe der Angeklagte ein Recht auf ein zügiges Verfahren.

Hemberger warf Motassadeqs Anwälten „mangelnde Fairness“ vor, da diese die anderen beteiligten Partien nicht vor dem Prozess offiziell davon in Kenntnis gesetzt hätten, dass sie Beschwerde beim Bundesverfassungsgesetz eingelegt hätten. Er hielte es für ein „Gebot der Fairness“, sich gegenseitig über solche Schritte mit eventuell weit rechenden Konsequenzen zu informieren. Der Vorsitzende Richter Beckmann, der ansonsten dem 14. Strafsenat für Verkehrsdelikte vorsitzt, wollte die Entscheidung über die Anträge „nicht übers Knie brechen“. Die Kammer will ausführlich darüber beraten und vermutlich am Montag eine Entscheidung bekannt geben.