KI: Der Anfang einer neuen Weltordnung nach dem Kapitalismus?
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UK-Sicherheits-Gipfel für Künstliche Intelligenz folgt der Idee, dass KI Wachstum und Agenda 2030 vereinen kann. Ein digitaler Produktivitätsschub soll globales Wachstum schaffen.
Es war ein Treffen mit Symbolcharakter. Vergangenen Donnerstag ist in Großbritannien der AI Safety Summit zu Ende gegangen. Nach eigenem Anspruch war es der erste weltweite Gipfel zum sicheren Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI).
Premierminister Rishi Sunak hatte vom 1. bis 2. November 28 Staats- und Regierungschefs zum Bletchley-Park-Anwesen im britischen Milton Keynes geladen, um die Auswirkungen der technologischen Neuerungen auf die Gesellschaft und mögliche Leitplanken zu diskutieren.
Die Teilnehmerliste deckte sich im Wesentlichen mit der Liste der G20-Staaten, wobei Russland ausgeschlossen und dafür die Ukraine eingeladen wurde – zusammen mit Israel, Indonesien, Nigeria, Kenia und Ruanda, den Philippinen, Singapur, Chile sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
Die Auswahl der Tagungsstätte unterstrich dabei die historische Dimension des KI-Gipfels. Das britische Anwesen beherbergte mit der Government Code and Cypher School (GC&CS) während des Zweiten Weltkriegs das wichtigste Zentrum der alliierten Kryptographie-Front gegen Hitler-Deutschland, in dem Größen wie Alan Turing oder Gordon Welchman im Auftrag von Militär und Geheimdiensten den Chiffrierungen von "Enigma" und "Lorenz" auf die Spur kamen.
Ganz im Gleichklang mit jener Symbolträchtigkeit hatte Sunak während des Gipfels davor gewarnt, dass die Menschheit angesichts der generativen Technologie mit Risiken vergleichbar denen einer "Pandemie oder eines Atomkriegs" konfrontiert sei. Damit unterstrich er auch die Haltung des geladenen Gastes Elon Musk.
Wesentliches Ergebnis des KI-Gipfels ist die "Erklärung von Bletchley", eine Vereinbarung, in der die 28 Regierungschefs zur internationalen Zusammenarbeit beim Umgang mit KI aufrufen. Für eine solche Erklärung wurde bereits im Vorfeld des Gipfels von interessierter Seite geworben. Aber dazu später.
In der Erklärung von Bletchley wird zunächst die positive Rolle der Technologie für die Transformation der Gesellschaft im Sinne der Agenda 2030 festgeschrieben:
KI-Systeme werden bereits in vielen Bereichen des täglichen Lebens eingesetzt, z. B. in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Barrierefreiheit und Justiz, und ihr Einsatz wird wahrscheinlich noch zunehmen.
Wir sind uns bewusst, dass dies ein einzigartiger Moment ist, um zu handeln und zu bekräftigen, dass die sichere Entwicklung der KI und die transformativen Möglichkeiten der KI in unseren Ländern und weltweit zum Guten und für alle genutzt werden müssen, und zwar auf integrative Weise.
Dies gilt auch für öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung, Ernährungssicherheit, Wissenschaft, saubere Energie, biologische Vielfalt und Klima, die Verwirklichung der Menschenrechte und die Stärkung der Bemühungen um die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.
Bletchley Declaration
Neben diesen Verheißungen rückt die Erklärung auch die "erheblichen Risiken […] in den Bereichen des täglichen Lebens" in den Mittelpunkt. Zu den potenziell betroffenen Bereichen zählen etwa der
Schutz der Menschenrechte, Transparenz und Erklärbarkeit, Fairness, Rechenschaftspflicht, Regulierung, Sicherheit, angemessene menschliche Aufsicht, Ethik, Verminderung von Vorurteilen, Schutz der Privatsphäre und Datenschutz.
Bletchley Declaration
Besondere Risiken stellen der Erklärung zufolge die leistungsfähigsten, sogenannten Grenz-Technologien ("frontier AI") dar, wo sie in die Bereiche "Cyber-Sicherheit und Biotechnologie" vordringen und Risiken krimineller und terroristischer Angriffe sowie "das der Desinformation" vergrößern könnten.
Am zweiten und letzten Tag des Gipfels gab Sunak bekannt, zum Zwecke der Überwachung der Erklärung ein eigenes Beratungsgremium nach dem Vorbild des UN-Klimarates IPCC einzuberufen.
Parallel dazu arbeitet die Europäische Union an ihrem "Gesetz über künstliche Intelligenz", das frühestens Ende 2023 ausgehandelt sein und 2025 Anwendung finden könnte.
Hoffnung auf den "Reset" des Kapitalismus
Bevor sich der KI-Sicherheits-Gipfel den potenziellen Risiken der sogenannten Künstlichen Intelligenz widmete, welche nun im medialen Fokus stehen, konzentrierten sich prominente Veröffentlichungen auf die Rolle der Technologie für eine neue Welt(-wirtschafts-)ordnung.
Bemerkenswert: Sie vereinten sich hinter der Annahme, die der Open-AI-Gründer Sam Altman bereits früh getroffen hatte: Dass die weitere Entwicklung der KI auf einen Umsturz des kapitalistischen Produktions- und Gesellschaftssystem hinauslaufe, oder, wie es später ausgedrückt wurde: auf einen "reset".
Kehren wir dazu noch einmal zum Sicherheitsgipfel zurück, und dem Gespräch zwischen Rishi Sunak und dem Open-AI-Aussteiger Elon Musk.
Wie die Financial Times am vergangenen Freitag festhielt, prognostizierte Musk dem britischen Premier bei deren Begegnung in Bletchley Park, dass Künstliche Intelligenz perspektivisch nicht nur eine Masse von bürokratischen und kreativen Tätigkeiten ersetzen wird (siehe Telepolis-Bericht "Tschüss, ihr Nutzlosen"), sondern als "die größte disruptive Kraft in der Geschichte der Menschheit" letztlich alle Jobs, die es gibt.
Das mag etwas dick aufgetragen anmuten, ist aber beileibe keine Einzelmeinung. Und wird nicht überall unbedingt als Drohung verstanden, sondern eher als Hoffnung.
Produktivität rettet die Wachstumsgesellschaft
So publizierte das Presse-Organ des berüchtigten Council on Foreign Relations (CfR), Foreign Affairs, am 24. Oktober einen Artikel mit dem Namen "Die kommende KI-Revolution der Wirtschaft". Darin stellten zwei Autoren die These auf, dass KI in der Lage sei, "den langfristigen Rückgang des Produktivitätswachstums, mit dem viele fortgeschrittene Volkswirtschaften derzeit konfrontiert sind, um(zu)kehren."
Einer der beiden Autoren ist James Manyika, Googles Vizepräsident für "Technologie und Gesellschaft". Der Rhodes-Stipendiat, Stanford-Absolvent und ehemalige McKinsey-Vorstand arbeitet mit zahlreichen global agierenden Thinktanks zusammen, darunter neben dem CfR etwa auch das Aspen Institute. Manyika war in der Obama-Regierung stellvertretender Vorsitzender des Globalen Entwicklungsrats der Vereinigten Staaten.
Ko-Autor Michael Spence ist Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2001 und Senior Fellow der Hoover Institution, einem der Stanford University angeschlossenen libertären Thinktank, der enge Verbindungen sowohl zum (Öl-)industriellen Großkapital als auch zur sogenannten "intelligence community" pflegt.
Spences und Manyikas Diagnose lautet wie folgt:
Der rasante Fortschritt der KI kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt in der Weltwirtschaft. Drei Jahrzehnte lang hielt das massive Wachstum der Produktionskapazitäten in China und anderen Schwellenländern die Inflation in Schach und ermöglichte es den Zentralbanken, die Zinssätze auf Null zu senken und sehr große Mengen an Liquidität in ihre Finanzsysteme zu pumpen.
Diese Jahre sind vorbei. In vielen Industrieländern verlangsamt sich das Wachstum und bleibt schwach, was zum Teil auf den langwierigen Kampf gegen die Inflation zurückzuführen ist, den die Zentralbanken jetzt führen. (…)
In Ländern, auf die mehr als 75 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung entfallen, hat die Alterung der Bevölkerung das Wachstum des Arbeitskräfteangebots eingeschränkt (…)
Die Zeit, in der globale Lieferketten ausschließlich auf der Grundlage von Effizienz und Wettbewerbsvorteilen aufgebaut wurden, ist eindeutig zu Ende gegangen.
Foreign Affairs: The Coming AI Economic Revolution
Das Ende des Wachstums, so die Autoren, sei aber kein Grund, zu verzagen. Denn es ist nach ihrer Meinung nur ein vorläufiges. Und die neue Quelle ist schon angezapft:
Die KI-Revolution (…) birgt das Potenzial für einen digitalen Produktivitätsschub, der die Wachstumsdynamik wiederherstellen könnte, indem er die angebotsseitigen Beschränkungen - besonders den schrumpfenden Arbeitskräftepool in vielen Ländern – abbaut, die die Weltwirtschaft gebremst haben. (…)
Das wahrscheinlichste Risiko, das KI heute für die Welt darstellt, ist nicht eine Art zivilisatorische Katastrophe oder ein riesiger negativer Schock für den Arbeitsmarkt.
Es ist vielmehr so, dass ohne wirksame Steuerung KI-Innovationen auf eine Art und Weise entwickelt und umgesetzt werden könnten, die die derzeitigen wirtschaftlichen Ungleichheiten lediglich vergrößert, anstatt eine gestärkte Weltwirtschaft für die kommenden Generationen zu bewirken.
Foreign Affairs: The Coming AI Economic Revolution
So vertretbar der letzte Satz ist, so unglaubwürdig klingt er aus dem Munde eines Funktionärs jener IT-Monopolisten, die nicht gerade dafür bekannt sind, zugunsten der Allgemeinheit auf ihre Wettbewerbsvorteile zu verzichten. Ob Microsoft das im konkreten Falle von Open AI tun wird, ist ebenfalls fraglich.
KI: Höhere Einkommen machen höhere Zinsen erträglich?
Der Economist, als Teilbesitz reicher Familien der globalen Politikgestaltung zugeneigt, stellte die Situation der Weltwirtschaft in einem Leitartikel (wie immer ohne Autorenangabe) am vergangenen Donnerstag in ähnlicher Weise als aussichtslos dar – und beschwor in ähnlicher Weise "die KI" als Retter, der am Horizont aufscheint:
Wenn die Zinsen weiter hoch bleiben, werden in der gesamten Weltwirtschaft Probleme auftreten. In Europa und Amerika nehmen die Unternehmensinsolvenzen bereits zu; selbst Unternehmen, die sich durch die Emission langfristiger Schuldtitel niedrige Zinsen gesichert haben, werden mit der Zeit mit höheren Finanzierungskosten konfrontiert werden.
Die Immobilienpreise werden, zumindest inflationsbereinigt, fallen, da sie auf teurere Hypotheken reagieren. Und Banken, die langfristige Wertpapiere halten – die durch kurzfristige Kredite, auch von der Fed, gestützt wurden – werden Kapital aufnehmen oder fusionieren müssen, um die Löcher in ihren Bilanzen zu stopfen, die durch die höheren Zinsen entstanden sind.
Die fiskalische Großzügigkeit hat den Zuckerrausch in der Weltwirtschaft noch verstärkt. (…)
Eine hoffnungsvollere Möglichkeit ist, dass das Produktivitätswachstum ansteigt, vielleicht dank generativer künstlicher Intelligenz (KI). Der daraus resultierende Anstieg der Einkommen und Einnahmen würde höhere Zinsen erträglich machen. (…)
Das Potenzial der künstlichen Intelligenz, weitere Produktivitätssteigerungen auszulösen, könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Aktienmärkte bisher noch nicht von höheren Zinsen betroffen sind. Ohne die steigenden Bewertungen von sieben Technologieunternehmen, darunter Microsoft und Nvidia, wäre der amerikanische Aktienindex S&P 500 in diesem Jahr gefallen.
The Economist: The world economy is defying gravity
Wenige Tage vor dem Leitartikel im Economist druckten die Financial Times und The Times einen Beitrag von Lynn Forester de Rothschild, Gründerin des Council on Inclusive Capitalism, das über sehr viel Kapital und päpstliche Unterstützung verfügt.
Nach nach eigener Aussage strebt der globale Zusammenschluss von Leaders "ein gerechteres und vertrauenswürdigeres Wirtschaftssystem, einschließlich der Einhaltung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen" an.
Kapitalisten, die den Kapitalismus reformieren
Forester de Rothschild, die sowohl Mitglied im CfR als auch in seiner britischen Schwesterorganisation Chatham House ist, schreibt von nichts Geringerem als einem "neuen Jerusalem", das dank KI das Licht der Welt erblicken könnte – sofern man sich nicht zu lange mit unnötigen Formalitäten aufhalte. In dem Artikel überschrieben mit "Rishi Sunak’s AI summit can reset capitalism" (Der KI-Gipfel von Rishi Sunak kann den Kapitalismus neu gestalten) heißt es:
Die engstirnige Debatte über KI-"Leitplanken" führt zu einem Tauziehen zwischen dem Regulierungsdrang der Regierung und der Macht der Unternehmen, Profite zu machen.
Stattdessen müssen Regierung und Wirtschaft gemeinsam handeln, um den Bürgern zu zeigen, dass die volle Kraft des KI-Zeitalters die strukturellen Mängel unseres derzeitigen kapitalistischen Modells beheben und unsere Wirtschaft für alle und nicht nur für einige wenige zum Laufen bringen wird.
Lynn Forester de Rothschild, Times London
Als ersten Schritt dazu fordert die Council-Gründerin, dass
Die versammelten Würdenträger (…) den Gipfel nutzen, um eine globale Erklärung abzugeben, die die gemeinsame Verantwortung des öffentlichen und des privaten Sektors für eine grundlegende Reform des Kapitalismus definiert.
Lynn Forester de Rothschild: Times London
Die Bletchley-Erklärung erfüllt diese großspurigen Ziele mitnichten, weist aber womöglich einen für die Ratsmitglieder vielversprechenden Weg.
Ohne Zweifel ist Forester de Rothschilds Aufruf Wasser auf die Mühlen derjenigen, die einen unverhältnismäßigen Einfluss des Weltwirtschaftsforums – auch jenseits der "Penetration der Kabinette" – auf die politische Entscheidungsfindung beklagen.