Kalter Krieg zwischen ver.di und Linken-Spitze
Gewerkschaftschef Werneke schickt Brandbrief an Parteiführung. Für Unmut hatte Chefsozialist Riexinger gesorgt. Der ist jetzt ungewöhnlich schweigsam
Die Corona-Krise sorgt mit ihren sozialen Folgen ("Corona wird insbesondere die soziale Spaltung weiter vertiefen") für zunehmende politische Dispute; nun gibt es sogar Zoff zwischen der Linkspartei und Gewerkschaften. Nachdem die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) Ende Oktober inmitten von erneut drohendem Teil-Lockdown, überquellenden Krankenhäusern und Pflege-Krise für rund 2,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Bund und Kommunen ein deutliches Gehaltsplus ausgehandelt hatte, war die Resonanz in der Öffentlichkeit weitgehend positiv. Das lag auch daran, dass Pflege- und Intensivkräfte besonders von dem Abschluss profitieren. Die in Potsdam erzielte Einigung war damit eine konkrete und direkte Konsequenz der "Alltagshelden"-Debatte zu Beginn der Pandemie. Endlich mehr Geld, statt nur Applaus (Wer oder was ist systemrelevant?).
Deutlich weniger gnädig fiel das Urteil von Linkspartei-Chef Bernd Riexinger aus. Der lud gut zwei Wochen nach der Tarifeinigung zu einer Online-Konferenz ein, um das Verhandlungsergebnis der Gewerkschaft zu bewerten. Dafür bat Riexinger – selbst einst ver.di-Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart – ausgewählte Funktionäre der Dienstleistungsgewerkschaft zum Gespräch. Allerdings nicht ohne in einem online kursierenden Einladungstext seine Kritik vorauszuschicken. Der Tarifabschluss "bleibt hinter den Erwartungen von 2,3 Millionen Beschäftigten zurück", hieß es da.
Kurzer Faktencheck: Am 25. Oktober hatte die ver.di eine Steigerung um 4,5 Prozent in der niedrigsten Entgeltgruppe und um 3,2 Prozent in der höchsten Eingruppierung ausgehandelt. "In der Pflege beträgt die Steigerung 8,7 Prozent und in der Spitze für Intensivkräfte rund zehn Prozent", konnte die Gewerkschaft verkünden. Alle Beschäftigten erhielten zusätzlich noch in diesem Jahr eine Corona-Prämie. Die unteren Entgeltgruppen können 600 Euro erwarten, die Besserverdiener 300 Euro; immerhin noch 225 Euro gibt es für Auszubildende. Die bis Ende 2022 laufende Tarifvereinbarung soll auch auf 225.000 Bundesbeamte übertragen werden.
Rechts und links gegen die Gewerkschaft
Kritik kam unmittelbar von neoliberaler Seite. Politiker wie Karl Lauterbach redeten von einem neuen Lockdown, der Hunderttausende die Existenz kosten werde, merkte der Kolumnist Jan Fleischhauer an, der schon mal auf Party-Gästelisten mit Rechtsextremen stand und regelmäßig in rechten Postillen lobende Erwähnung findet. Im Öffentliche Dienst, so jedenfalls dieser Fleischhauer, seien die Jobs sicher, dennoch gebe es nun noch 4,5 Prozent mehr Gehalt. "Das nenne ich soziale Spaltung", twitterte der Kolumnist.
"Eine volkswirtschaftliche Unverschämtheit", schalt im gleichen Duktus der Wirtschaftsressortchef der konservativen Zeitschrift Cicero, Bastian Brauns, schon vor der Tarifeinigung die mit 4,8 Prozent unwesentlich höhere Ursprungsforderungen der Dienstleistungsgewerkschaft. Weil Bund, Länder und Kommunen kaum in der Lage seien, so hohe Gehälter zu zahlen wie die Privatwirtschaft, lockten sie mit geschützten Arbeitsplätzen, regelmäßigen Lohnerhöhungen, ausreichend Urlaub und geregelte Arbeitszeiten. Und nun, ausgerechnet in der Corona-Krise verlange man für diese "Privilegierten" ein kräftiges Gehaltsplus, so Brauns, der wie sein Gesinnungsgenosse Fleischhauer gesellschaftliche Spaltung witterte.
Natürlich ließen diese Kommentatoren einiges aus, etwa:
- den gestaffelten Gehaltszuwachs;
- das vor allem in der Corona-Krise unzumutbare Verhältnis zwischen Einkommen und Arbeit in der Pflege;
- die eigentlichen Krisengewinnler wie die Milliardäre Klatten, Schwarz, Albrecht und andere.
Eine skurrile Einigkeit in der Kritik gab es indes mit dem linken Riexinger. Der schrieb, man wolle gemeinsam mit ver.di-Funktionären den Streik im öffentlichen Dienst auswerten. Die Rolle der eigenen Partei schätzt er offenbar positiver ein, als die Umfragewerte nach gut acht Jahren Parteivorsitz vermuten lassen.
Es gehe ihm darum, zu diskutieren, "wie wir es als LINKE noch besser schaffen, betriebliche Kämpfe vor Ort zu unterstützen und unsere eigenen gewerkschaftlichen Mitglieder besser zu vernetzen". Und dann folgte eben der Satz zur vermeintlich enttäuschten Erwartung der 2,3 Millionen Beschäftigten.
Rechtsozialdemokratische Kanalarbeiter aus vergangenen Zeiten
Nicht nur Urteil sowie Selbsteinschätzung Riexingers und seiner Partei riefen den ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke auf den Plan. "Dass Ihr als politische Partei eine Bewertung des Tarifergebnisses vornehmt und über Veranstaltungen mit ausgewählten hauptamtlichen Beschäftigten von ver.di versucht den Willensbildungsprozess in ver.di zu beeinflussen, ist eindeutig eine Grenzüberschreitung", schrieb er an Riexinger und seine Co-Vorsitzende Katja Kipping. Er fühle sich dadurch "stark an die Umtriebe rechtsozialdemokratischer Kanalarbeiter aus vergangenen Zeiten" erinnert, so Werneke in dem Brandschreiben an die "liebe Katja" und den "lieben Bernd".
Die Arbeitnehmervereinigung befinde sich zu dem Verhandlungsergebnis derzeit in einem Rückkoppelungsprozess mit den Mitgliedern in allen Bezirken. "Es gibt dabei viel Zuspruch und natürlich auch Kritik", so Werneke: "Wie könnte das auch anders sein, jedes Tarifergebnis ist immer nur ein Zwischenschritt. Bestenfalls ein Teilerfolg – auf den weitergehenden Forderungen in der sich anschließenden Tarifrunde folgen."
Am 24. November werde die demokratisch gewählte ver.di- Bundestarifkommission für den Öffentlichen Dienst über Annahme oder Ablehnung des Verhandlungsergebnisses entscheiden, heißt es weiter in dem Brief, der Telepolis vorliegt.
Beachtlich ist die Einschätzung Wernekes zur Rolle der Linken, die sich trotz aller Realpolitik bei Regierungsbeteiligung nach wie vor als arbeiternahe Alternative zur Sozialdemokratie sieht. Während immerhin einige Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von SPD und Grünen öffentlich die Tarifforderungen der ver.di unterstützt haben, sei von Funktionären der Linkspartei nur "lautes Schweigen zu vernehmen" gewesen, so der Gewerkschaftschef.
Und Werneke legte nach: "Wer als Parteispitze so wenig an spürbarer Unterstützung für die Tarifforderungen der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes organisiert bekommt, sollte hinsichtlich der Bewertung das Verhandlungsergebnis maßvoller auftreten."
Linke zwischen Verbalradikalismus und Sozialabbau
Das Schreiben ist ein Warnschuss an die ohnehin angeschlagene Linken-Parteispitze, die es in der Corona-Krise kaum geschafft hat, als Fürsprecherin sozialer Interessen aufzutreten oder den Abbau von Bürgerrechten zu thematisieren – und daher auch für das Wachstum der "Querdenken"-Bewegung mit verantwortlich gemacht wird (Mehr Mut zum Streit über Corona). Zugleich sind die Umfragewerte angesichts der nahenden Bundestagswahl 2021 ernüchternd.
Riexingers Verbalradikalismus, der durch die Linken-Politik wenig untermauerter wird, bringt die Partei daher in eine noch schwierigere Lage.
Zwar hebt Werneke in seinem Schreiben die "Unterstützung aus der Bundestagsfraktion" positiv hervor. Der Fauxpas des Parteivorsitzenden, der für die Linke auch ein Parlamentsmandat hält, wird aber auch dort mit einem Mantel des Schweigens bedeckt.
Riexinger selbst ließ wiederholte Anfragen von Telepolis unbeantwortet, ebenso wie die Pressestelle der Partei und drei weitere Abgeordnete der Fraktion, unter ihnen der gewerkschaftspolitische Sprecher Pascal Meiser.
Partei und Fraktion verlieren sich damit erneut in einem altbekannten Dilemma zwischen Pseudoradikalismus und Anpassung in Regierungsbeteiligung. Die deutliche Reaktion des ver.di-Vorsitzenden Werneke an Riexinger ist daher auch vor dem Ergebnis linker Regierungen zu bewerten. Noch unvergessen ist die verheerende Bilanz der rot-roten Koalition in Berlin, die nach ihrem Bestehen 2001 bis 2011 einen sozialpolitischen Trümmerhaufen hinterlassen hat.
Unter aktivem Zutun der Neosozialisten trat Berlin damals aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber aus – das hatte bis dahin nur die Regierung des CDU-Rechtsauslegers Roland Koch in Hessen gewagt –, setzte Kürzungen in allen relevanten öffentlichen Bereichen von Kitas, Schulen bis zu Nahverkehr durch und verscherbele Sozialwohnungen.
Auch dazu könnte Riexinger ja mal eine Video-Konferenz anberaumen. Und darüber könnten die nun auf einmal so schweigsamen Genossen am morgigen Donnerstag bei einem der regelmäßig stattfindenden parlamentarischen Abende mit der ver.di-Führung sprechen. Gesprächsbedarf gibt es alle Male.