Karriere: Wie Erfolgstüchtigkeit über Qualität triumphiert

Seite 2: Die Inhalte sind verwirrend, das Ansehen der Person entscheidet

Angesichts der nicht mehr zu übersehenden Menge an Veröffentlichungen entscheidet häufig die Reputation des Verfassers.

Sie "bemisst sich nach Bekanntheit, Einfluss und Disposition über Kontakte, Beziehungen auch und gerade außerhalb der Wissenschaft. […] Reputation hat ihre Quellen nicht notwendig im Wissenschaftssystem selbst. Sie geht auch nicht notwendig mit wissenschaftlicher Qualifikation einher" (Grünberger 1981, 65).

Reputation kann aus Leistung entstehen, sich aber auch aus der Anerkennung in Szenen ergeben, in die man durch Kooptation aufgenommen wird.

Bald schnattern alle Enten im Teich auf der gleichen Skala; und wenn die eine oder andere nicht mitmacht, so erklärt die öffentliche Meinung des betreffenden Teiches, sie habe nicht die nötige Begabung.

Erwin Chargaff, zit. n. Richter 1990, 169

Man muss sich unentbehrlich machen, als Schüler, als Anhänger, als fleißiger Zuträger und Hiwi, als Teilnehmer am Zitierkartell und als Fußtruppe bei Fraktionierungen und Intrigen. So dient man sich an und dient sich hoch.

Die für die Erfolgstüchtigkeit zentrale Eindrucksmanipulation lebt von einer Voraussetzung. In der Öffentlichkeit und der Geisteswelt herrscht großes Durcheinander.

"Heute, wo alles Mögliche durcheinander geredet wird, wo Propheten und Schwindler die gleichen Redensarten gebrauchen, bis auf kleine Unterschiede, denen nachzuspüren kein beschäftigter Mensch die Zeit hat, [...] ist es sehr schwer, den Wert [...] einer Idee richtig zu erkennen."(Musil 1981, 326).

In der Postmoderne wird aus dieser Not eine Tugend: Auf der Grundlage eines "allgemeinen Relativismus" gilt: "nichts ist wahr, nichts ist objektiv, nichts ist wirklich, alles ist konstruiert. Das ermöglicht es Trump, sich desselben Prinzips zu bedienen […]. Lee McIntyre spricht von der Post-Truth-Epoche […] Die Postmoderne hat sich jedenfalls sehr angestrengt, eine bluff-freundliche Atmosphäre aufzubauen" (Prisching 2019, 300f.).

Diejenigen, deren Stärke in der Erfolgstüchtigkeit liegt, neigen zum Zynismus in Bezug auf Ansprüche, die sich auf etwas anderes als ihr persönliches Vorankommen beziehen.

Die Frage, ob etwas zu etwas nütze ist oder nicht, wird mit dem Argument beiseite gewischt, dass ohnehin niemand weiß, was gut oder böse ist, nützlich oder schädlich, des Menschen würdig oder unwürdig"

Schumacher 1980, S. 50

Angebote, die lanciert werden, sind auf Wirkung hin getrimmt.

Die vermeintliche Neuheit des Themas, die Originalität der Diktion oder der Unterhaltungswert sollen zählen. Im Wissenschaftsbetrieb führt der Unterschied zwischen sachrational und karriererational u. a. zu einer "Überfülle von unausgereiften und unnötigen Publikationen. ‚Gettings things into print becomes a symbolic equivalent to making a significant discovery’, bemerkt Merton. Die Auswahl von Themen und Mitteilungsweisen wird reputationstaktisch und nicht allein an Wahrheit oder Klarheit orientiert."

Die Folgen sind "der rasche Wechsel der Modethemen", das "unerledigte Liegenlassen vielbehandelter Probleme" und die "Oberflächendifferenzierung der Terminologien" (Luhmann 1970, 243).

Bisweilen geht der Marketingcharakter mit dem Individuum durch

Ein prägnantes Beispiel stellte der frühere Außenminister Joseph Fischer (Grüne) dar. Es "geht in die Irre, wer den einstigen Rebellen mit dem Außenminister vergleicht, um so das ganze Ausmaß seines angeblichen Selbstverlustes kenntlich zu machen. Fischer kommt heute, und Fischer kam schon immer, wenn auch auf extrem unterschiedliche Weise, auf seine Kosten. Einen Teil seiner Selbstfaszination zieht er gerade aus der Erfahrung, dass er sich die verschiedensten politischen Rollen erobern kann" (Geist, Ulrich 2004, 51f.).

Dem Tricksen, der Kontaktpflege zu "wichtigen" Personen sowie anderen Geschicklichkeiten, die den eigenen Aufstieg befördern, gilt ein sportlicher Ehrgeiz. Manche nutzen bereits Aushilfs- und Ferienjobs schon während ihrer Ausbildung als Trainingsfeld, um sich Fertigkeiten der Beeinflussung von Vorgesetzten und nützliche Kniffe für das Fortkommen zulasten anderer Kollegen anzueignen.

Entsprechend Trainierende meinen, lange vor dem Ernstfall müsse man sich die Fertigkeiten für das Sich-Beliebtmachen bei Vorgesetzten sowie das Gespür für den kleinen Dienstweg und Vorformen von Korruption aneignen – im "Learning by doing".

Bei Joseph Fischer hat sich "seine hohe politische Befriedigung von der jeweiligen Rolle längst abgelöst: er hat eine unglaubliche Fähigkeit zur Metamorphose und kann sich von Rolle zu Rolle und situativ von einer Minute auf die andere verändern. Wenn Fischer zusammen mit anderen Politikern trauert, dann schaut er am traurigsten, wenn er neben Bischöfen sitzt, wird er zum Kardinal, vor dem Weißen Haus könnte er glatt als amerikanischer Senator durchgehen, und in Israel wachsen ihm, wenn er nicht Acht gibt, Schläfenlocken" (Ebd.).

Ein aktuelles Beispiel dafür, wie weit die Parole "Inhalte überwinden" (der Satire-Partei) verbreitet ist, liefert in Serie der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder. Je nach seinem Kalkül, womit er gut ankommt, war er 2020 und 2021 für ganz scharfe Einschränkungen zur Bekämpfung der Seuche oder für sehr weitgehende Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Anlässlich der gegenwärtigen Sorge um die Gasversorgung plädiert er für die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, obwohl nur 11 Prozent des in Deutschland genutzten Gases in Stromkraftwerken Verwendung finden.

Söder und seinesgleichen setzen "darauf, dass Medien trotzdem ausführlich berichten und Wähler*innen den Eindruck bekommen, Atomkraft sei eine reale Alternative. Wenn die Energiepreise dann, wie allgemein erwartet wird, weiter steigen, können Söder und Co behaupten, dass das nicht passiert wäre, wenn man nur auf sie gehört hätte – und damit vermutlich sogar politisch punkten" (Malte Kreutzfeld, Taz, 22.6.22).

Schluss

In der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie kommt es zu einer Fehlentwicklung von Sinnen, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen. Die Erfolgstüchtigkeit bildet eine Teilmenge davon. Der Erfolg bekommt ein unangemessenes Gewicht.

Er rückt zum Güteausweis vor, wo der menschlich-soziale Wert von Angeboten nicht oder nur schwierig sich vergegenwärtigen lässt. Aus dieser magnethaften Anziehungskraft des Erfolgs verstärkt sich die Schwindsucht der Urteilskraft. Erstaunlich, dass dies im Lob der "Resonanz" bei Hartmut Rosa (2016) keine Rolle spielt.

Verkaufstalente und "Berater" ziehen einen guten Teil ihres recht speziellen Berufsstolzes daraus, Fertigkeiten der Überredung entwickelt zu haben, die es ihnen erlauben, selbst einen Südseeinsulaner vom Wert einer Heizdecke zu überzeugen. Auch andere Berufstätige erfreuen sich daran, Tricks, Techniken und Taktiken manipulativen Umgangs "drauf" zu haben. Im modernen Kapitalismus werden die Menschen "ständig angehalten, [...] sich besser zu verkaufen" und "mit allen Mitteln" ihre "Wettbewerbsfähigkeit" zu steigern.

Bekanntlich fördert das gerade nicht den Teamgeist und das kooperative Verhalten, wohl aber die Selbstanpreisung, das Aufschneiden, Angeben und Schaumschlagen, das Intrigieren und Beinestellen und nicht zuletzt die Meinung, dass die Ehrlichen und Gewissenhaften obsolet, also irgendwie sehr blöd sind" (Zinn 2007, 20).

Diese recht spezielle Kultur hat große Ausmaße angenommen. Sie geht nicht nur zulasten von Qualitätsbewusstsein, sondern auch auf Kosten derjenigen, die sich auf ihre Gewitztheit etwas einbilden. Diese Schlaumeier merken meist nicht, was sie als betrogene Betrüger durch ihre Korrumpierung, durch die Schwächung des Sinns für Wertvolles jenseits ihres "Erfolgs" und durch ihren Zynismus verloren haben.

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