Kastration im Namen des Volkes

Seit Anfang des Monats hat Polen sein eigenes Amstetten. Am 9. September tauchten in der Presse die ersten Berichte über den sechs Jahre andauernden sexuellen Missbrauch der Alicja B. durch ihren Vater auf

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Die Regierung von Donald Tusk, die in den letzten Wochen aufgrund mangelnder innenpolitischer Erfolge immer mehr in die Kritik geriet, griff dieses Thema sofort auf. Nach dem Willen der Regierung soll bereits nächste Woche das Parlament über eine Zwangskastration von Pädophilen abstimmen. Ein Vorschlag, der in Polen eine heftige Debatte auslöste und die tatsächlichen innenpolitischen Probleme in den Schatten stellte.

Alicja B. hat bisher viel gelitten in ihrem Leben. Seit ihrem 15. Lebensjahr wurde die heute 21-jährige Frau von ihrem Vater im elterlichen Haus gefangen gehalten und sexuell missbraucht. Ein Missbrauch, der nicht ohne Folgen blieb. Zwei Söhne, die sofort nach der Geburt zur Adaption freigegeben wurden, sind das Ergebnis dieser jahrelangen Tortur, die ihren Anfang in der Nähe Breslaus nahm und nun, nach einem Umzug der Familie vor zwei Jahren, in Siemiatycze, einem kleinen Dorf bei Bialystok, ein Ende fand. Dort hatte die junge Frau, gemeinsam mit ihrer Mutter, endlich den Mut gefunden, ihren Vater bei der Polizei anzuzeigen.

Doch das Martyrium der Alicja B. endete nicht, wie von ihr wahrscheinlich gehofft, mit der Verhaftung ihres Peinigers. Sogar im Gegenteil. Mit dem Bekanntwerden des Falles, der die Polen tief schockierte, begann östlich der Oder eine heftige Diskussion, die das Opfer sowohl in den Mittelpunkt der Medien als auch der Politik drängte. Wie konnte so etwas passieren? Warum hat die Mutter nichts gegen die Misshandlung ihrer Tochter unternommen? Warum haben die Nachbarn, vor denen die Tochter nicht versteckt wurde, nichts bemerkt? All solche Fragen werden von der Öffentlichkeit heftig debattiert, begleitet von einer gnadenlosen Berichterstattung der polnischen Boulevardpresse.

Jeden Tag kann man in der Fakt, dem polnischen Springer-Ableger der Bild, und dem Super Express Berichte über den polnischen Fritzl und das Monster von Podlasie, wie der Vater von Alicja B. vom Boulevard genannt wird, sowie das Leben der Familie lesen. Es sind Schlagzeilen, die auch aufgrund einiger Parallelen zwischen den beiden Taten, an jene vom April erinnern, als die Presse über das Böse in Amstetten berichtete. So wie damals gehen Fakt und Super Express auch diesmal mit einer Mischung aus Anteilnahme und Voyeurismus ihrer angeblichen journalistischen Pflicht nach und nehmen dabei keine Rücksicht auf das Opfer. Mittlerweile kennt jeder Leser der beiden Boulevardblätter nicht nur das Gesicht von Alicja B., sondern auch die Einzelheiten ihrer sechsjährigen Pein.

Experten warnen vor dieser Art von Berichterstattung. „Die Medien sollten das Mädchen endlich in Ruhe lassen. Denn mit solchen Berichten geben sie ihr nur eins deutlich zu verstehen: Du bist nur deshalb wichtig, weil Du vergewaltigt wurdest“, mahnte beispielsweise die Psychologin Maria Keller-Hamela in einem Interview. Gleichzeitig wehrte sie sich gegen einen Vergleich des Falls mit dem von Amstetten. „Fritzl sperrte seine Tochter für ein Vierteljahrhundert im Keller ein. Die Tochter von Krzysztof B. dagegen hatte losen Kontakt zur ihrer Umwelt. Sie wurde psychisch gefangen gehalten, und solch eine Isolation gibt es in vielen Familien“, sagte die für die Kinderschutzorganisation Dzieci Niczyje tätige Psychologin.

"Von Menschenrechten sollte man hier also nicht sprechen"

Solche mahnenden Worte finden in der erhitzten Diskussion jedoch kaum Gehör. Auch deshalb, weil sich mit dem publik werden der Tat die Regierung in die Diskussion eingeschaltet hat. „In Polen sollte die chemische Kastration eingeführt werden, und zwar nicht auf Wunsch des Angeklagten, wie bisher, sondern als Zwangsmaßnahme. Menschenrechtler wird das bestimmt verstören, doch meiner Meinung nach verdienen Kreaturen, die so etwas machen, nicht die Bezeichnung Mensch. Von Menschenrechten sollte man hier also nicht sprechen“, sagte Premierminister Tusk am 9. September, den Tag als die ersten Berichte über den Fall erschienen, auf einer Pressekonferenz.

Und dass es Tusk ernst meint mit seiner Ankündigung, bewies der Premierminister auch bald. Bereits wenige Tage nach dieser Pressekonferenz traf sich der polnische Regierungschef mit seiner Gesundheitsministerin Ewa Kopacz und dem Justizminister Zbigniew Cwiakalski, um einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu beraten. In den Tagen darauf erarbeitete eine Kommission, bestehend aus Gesundheitsministerin Kopacz, Experten des Justizministeriums und dem Kanzleichef des Ministerpräsidenten, Slawomir Nowak, die entsprechende Gesetzesnovelle. Diese sieht vor, dass Kastration zur Pflichtbehandlung für alle Pädophile nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe wird. „So wie Gerichte über die Pflichtbehandlung von Alkoholikern und Drogensüchtigen entscheiden, soll auch über die Pflichtbehandlung von Pädophilen entschieden werden“, sagte Tusk am vergangen Montag dem Fernsehsender TVN24. „Jemand muss der erste in Europa sein“, begründete der Premier sein Vorhaben.

Über diese Gesetzesnovelle dürfte das polnische Parlament schon bald entscheiden. Wie Justizminister Cwiakalski einen Tag nach dem Fernsehauftritt seines Regierungschefs verkündete, soll der Sejm bereits kommende Woche über das Vorhaben abstimmen.

Ob Polen aber tatsächlich die härtesten Strafen für Kindermissbrauch in ganz Europa einführt, ist jedoch fraglich. Die kleinen Oppositionsparteien SdPl und DKP werfen Donald Tusk Demagogie vor, während der Vorsitzende der linken SLD, Grzegorz Napieralski, Donald Tusk mit Zbigniew Ziobro verglich, dem ehemaligen Justizminister von Jaroslaw Kaczynski. „Ziobro gab auch gerne populistische Slogans von sich“, sagte der Vorsitzende der größten linken Oppositionspartei in einem Radiointerview.

Und tatsächlich, Ziobro und Tusk scheinen in Bezug auf Pädophile auf der gleichen Wellenlänge zu sein. „Wir werden die Vorschläge des Premierministers prüfen“, sagte Zbigniew Ziobro vergangene Woche in Krakau. Gleichzeitig kündigte er jedoch an, dass die PiS einen eigenen Gesetzesvorschlag dem Parlament vorschlagen wird. „Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzesvorschlag dem Parlament vorgelegt, der von Donald Tusk und seiner Partei abgelehnt wurde. Nun werden wir es erneut tun und uns dadurch überzeugen, ob es Tusk ernst meint mit seinem Kampf gegen die Pädophilie“, erklärte Ziobro, wohl wissend, dass der Premierminister aufgrund innenpolitischer Differenzen und der eigenen Gesetzesnovelle dies wahrscheinlich nicht tun dürfte.

Zweifel an dem Gesetzesvorhaben des Premierministers dürfte aber auch die Regierungskoalition, bestehend aus der rechtsliberalen Bürgerplattform und der gemäßigten konservativen Bauernpartei PSL, haben. Auch deshalb, weil die Mahnungen und Bedenken von Verfassungs- und Menschenrechtlern mehr als nur laut sind. „Menschenrechte gelten auch für Pädophile“, erklärte beispielsweise das polnische Helsinki Komitee, während der ehemalige Verfassungsrichter Marek Safjan mahnte, dass die Zwangskastration „die Rückkehr in vergangene Epochen“ bedeuten würde.

Regierung greift mangels politischen Erfolgen zu populistischen Parolen

Über den Gesetzesvorschlag schockiert zeigten sich aber nicht nur Oppositionsparteien, Menschen- und Verfassungsrechtler, sondern auch die liberale Presse, die bisher eher wohlwollend mit Donald Tusk und seiner Regierung umgegangen ist. „Tusk ist wie eine Boulevardzeitung“, schrieb beispielsweise Piotr Pacewicz, Journalist und Mitbegründer der Gazeta Wyborcza, in einem Kommentar für die eigene Zeitung. Populismus und mangelnde Sachkenntnis warf er dem Premierminister darin vor, sowie den Versuch, mit dem Vorschlag von den eigentlichen politischen Problemen ablenken zu wollen.

Und damit dürfte Pacewicz den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Seit nun fast einem Jahr ist Donald Tusk polnischer Regierungschef, doch seine Bilanz sieht bisher eher dürftig aus. Mit dem Abzug der polnischen Soldaten aus dem Irak hat er zwar ein Wahlversprechen erfüllt, und mit dem für Polen günstigen Abschluss der Verhandlungen über das amerikanische Raketenabwehrsystem auch einen außenpolitischen Erfolg erzielt, doch innenpolitisch wurde bisher noch kein einziges Problem gelöst, was in den letzten Wochen immer mehr bemängelt wurde. Dabei trat Donald Tusk vor einem Jahr mit dem Versprechen an, Polen zu reformieren. Doch bis heute wurde weder eine Gesundheitsreform, die das dortige Gesundheitssystem dringend bräuchte, noch eine Änderung des Steuerrechts, die Tusk ebenfalls ankündigte, erarbeitet oder gar beschlossen.

Ein Hang zum Populismus, um von den eigentlichen Problemen abzulenken, hat in Polen aber schon eine gewisse Tradition. Schon Anfang 2007 nutzte die damalige Regierung von Jaroslaw Kaczynski den Sexualmord an einem 7-jährigen Mädchen, um mit einer erneuten Debatte über die Todesstrafe, trotz fehlender innenpolitischer Erfolge, Stimmung für sich zu machen.

Und so wie Jaroslaw Kaczynski und sein Justizminister Ziobro es damals verstanden, in populistischen Parolen ihr Heil zu finden, scheint auch Donald Tusk erfolgreich diesen Fußstapfen zu folgen. Bedingt durch weitere Missbrauchsfälle, die in den letzten Tagen in die Öffentlichkeit drangen, stieg die Zahl der Kastrationsbefürworter enorm. Wie eine repräsentative Umfrage für das polnische Staatsfernsehen TVP ergab, sprechen sich momentan 79 Prozent der Polen für die chemische Kastration von Pädophilen aus.

Doch bei der ganzen Debatte wird übersehen, dass selbst polnische Sexualwissenschaftler die Pläne der Regierung kritisieren. „Sexueller Missbrauch von Kindern hat in den meisten Fällen gesellschaftliche Ursachen und nicht die Pädophilie“, heißt es aus den Reihen der Fachleute. Die Regierung scheint dies aber nicht von ihrem Vorhaben abzubringen. „Wir handeln zum Schutze der Opfer“, erwiderte Justizminister Cwiakalski immer wieder in den letzten Tagen den Kritikern .

Ob dies aber so stimmt, darf bezweifelt werden. Alicja B. deren Schicksal die Debatte auslöste, lebt nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in einem Polizeiheim wieder in dem Elternhaus, in dem sie von ihrem Vater vergewaltigt wurde – und macht sich Sorgen um die finanzielle Zukunft der Familie.