Katalanische Separatisten: Macron fürchtet den Präzedenzfall

Foto: Ralf Streck

Mélenchon plädiert für eine Volksabstimmung in ganz Spanien und der FN hält sich zurück - Reaktionen aus Frankreich

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Die französische Regierungslinie gegenüber der Unabhängigkeitserklärung der Katalanen und der Machtdemonstration Madrids steht völlig im Einklang mit den Stellungnahmen aus anderen EU-Ländern (und den USA sowie Kanadas).

Die Unabhängigkeitserklärung wird, wie Macron und sein Europa- und Außenminister Le Drain gestern bekräftigten, nicht anerkannt. Als einziger Ansprechpartner wird der spanische Premierminister Rajoy, genannt. An ihm wird keinerlei Kritik geübt. Ganz im Gegenteil lobt Macron, dass Rajoy die "besten Lösungen gefunden" habe, um die Situation zu befrieden.

Der Angst- und Sorgen-Pol

Das ist für einen Politiker, der Europa "neu gründen und gestalten" will, eine möglicherweise vorschnelle Äußerung. Das Verhalten der EU steht unter Beobachtung, auch wenn bislang die Kritik noch leise ist. Die EU hat wenig zur Entspannung beigetragen. Die unrühmliche Rolle Europas beim Aufschaukeln des Konflikts, das einem "Versagen" gleichkommt, wird vom talentierten Präsidenten leider keinerlei kritischer Reflexion unterzogen.

Wichtig ist ihm, dass am Standpunkt kein Zweifel aufkommt: "Es gibt einen Rechtsstaat in Spanien, mit verfassungsgemäßen Regeln. Rajoy will, dass sie respektiert werden, und er hat meine volle Unterstützung", erklärte Emmanuel Macron. Er appellierte nicht an einen Dialog, wie dies von anderen Politikern gefordert wird. Katalonien darf keinen Präzedenzfall in der EU schaffen. Das ist der Angst- und Sorgen-Pol, an dem sich die Reaktionen ausrichten.

Von der Regierung abgesehen zeigen sich in Frankreich unterschiedliche Lager, wenn es um Kataloniens Unabhängigkeit geht; dabei zeigen sich schon deutliche Unterschiede zwischen links und rechts.

"Viele haben Interesse daran, dass die Situation entgleist"

Auffallend ist, dass der einzige Vorschlag eines namhaften Politikers, der einen Lösungsvorschlag "nach vorne" macht, der sich von den üblichen Positionierungen, die sich entweder für die Seite Madrids oder Barcelonas erklären, unterscheidet, von Jean-Luc Mélenchon stammt. Der einzig verbliebene charismatische Links-Politiker in Frankreich plädierte gestern Abend für ein Referendum. Dem Sender France-TV sagte er:

Soll das spanische Katalonien unabhängig sein oder nicht? Das ist eine Angelegenheit des spanischen Volkes. Es liegt an ihnen hier den Punkt des Gleichgewichts zu finden.

Jean-Luc Mélenchon

Die Situation sei dabei zu entgleisen, so der Chef von "Frankreich, das sich nicht unterwirft", es sei keine gute Idee nun weiter Öl ins Feuer zu gießen, in dem man sich dem einen oder anderen Lager anschließe. Das würde nur Rajoy und der spanischen Rechten nützen. Einen Ausweg biete ein Referendum. Er habe den Eindruck, dass viele - "bien du monde" - Interesse am Zusammenkommen dieser "ungesunden Situation" haben. Es scheine ihm so, als ob es vielen genau darauf ankomme, dass die Situation entgleise.

"Unbändige Austeritätspolitik Rajoys" gegen eine pazifistische Generation von Jungen

Die traditionelle Linke, zu sehen etwa an der Publikation L'Humanité, der Kommunistischen Partei nahe stehend, fokussiert sich auf die autoritäre, anti-soziale Politik Rajoys, dem der "Pazifismus einer ganzen Generation junger indépendantistes aus Überzeugung" gegenübergestellt wird, der Rajoy mit seiner "unbändigen Austeritätspolitik" keinen Horizont gegeben habe.

Gemäßigte Sozialdemokraten wie Benoît Hamon halten sich mit lauten Äußerungen zurück. Er kritisiert allerdings die "Blockpolitik der EU" und plädiert - im Unterschied zum Präsidenten Macron - für eine Vermittlung ("médiation") im Sinne einer "nachhaltigen Lösung". Der PS ist ganz ähnlich wie die SPD in Deutschland derzeit vor allem mit ihrer Neuaufstellung beschäftigt.

Auch weiter rechts, beim FN, überwiegt Zurückhaltung - man darf nicht vergessen, dass sich unter den katalanischen Pro-Unabhängigen viele finden, die das Feindbild der nationalen Rechten ausmachen, sie werden als "Multi-Kulti"-Unterstützer bezeichnet.

Rechts gegen die "Ultras"

Marine Le Pen, sonst sehr aktiv mit Aktualisierungen auf Twitter, schweigt zu den aktuellen Ereignissen, ebenso der Twitter-Account der Partei. In einem Statement von Anfang Oktober betont der FN, dass man dem Rechtsstaat verbunden sei und den verfassungsmäßigen Regeln.

Vorsichtig wird Kritik an Rajoy geäußert und schon deutlicher am "technokratischen Brüssel". Man wolle sich nicht in interne Angelegenheiten einmischen und in die Souveränität eines befreundeten Landes, aber die "europäistische Regierung" Rajoys habe, nach Auffassung des FN, "nicht die besten Lösungen gefunden, um die Situation zu entschärfen". Etrwas schärfer fällt die Kritik an den indépendantistes aus, die von "der totalitären, anti-demokratischen extremen Linken" unterstützt wurden und die den Prozess erst initiiert hätten - gegen das Urteil des Verfassungsgerichts, wie betont wird.

Ganz ähnlich richtet sich der Leit-Kommentar des rechtskonservativen Figaro am heutigen Samstag vor allem gegen die katalanischen "Ultras", die "einen Großteil der Bevölkerung und den Präsidenten, dessen Namen man gar nicht erwähnt, "zur Geisel genommen hätten". Sie hätten Madrid eine Falle gestellt, nun zeige sich das "bis dato Undenkbare". Das Verrückteste sei, dass eine "radikale Randgruppe sieben Millionen Europäer in die Absurdität mitnehmen kann".

Todd: "Es liegt am Euro und an der Familienstruktur"

Zur Analyse der Situation steuert, wie so oft, Emmanuel Todd, Überlegungen bei, die den Kanon des Üblichen verlassen (wozu auch der Figaro-Kommentar gehört, der einzig auf Engführung und Aufwiegelung setzt). Der Historiker, Demograf und Anthropologe, dessen Äußerungen häufig für Kontroversen sorgen und wegen seiner EU-Kritik öfter in rechts-orientierten französischen Publikationen zitiert wird, fügt den Erklärungen zum Unabhängigkeitsstreben der Katalanen eine neue hinzu.

Zwar macht auch er traditionelle Spannung zwischen den Katalanen und der absolutistischen Zentralregierung geltend, die nun durch das "Joch des Euros" einen neuen Zuschnitt und eine Aktualisierung bekommen haben, weswegen er die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen mit dem Brexit vergleicht, aber der Demograf und Anthropologe hat noch anders in petto.

Er sieht in Katalonien ein bestimmtes Familienmodell vorherrschend, das "ethnozentrische Anschauungen" unterstütze. Es handel sich um ein Land mit einem traditionellen System von "Stammfamilien" ("familles souches"), die sehr mit Abstammungslinien verbunden seien, mit einem Erben in jeder Familie, meist dem ältesten Sohn. Dies, so folgert Todd, würde zu "sehr lebendigen lokalen demokratischen Traditionen" führen, die man auch in Japan, Deutschland oder der Schweiz sehen könne.

Die Zusammenhänge näher zu erklären oder zu untermauern, bleibt Todd allerdings schuldig.