Katalonien: "Es gibt nur noch einen Ausweg"
Bei den Wahlen hofft die katalanische Unabhängigkeitsbewegung den Sieg zu erreichen, um den Weg in die Katalanische Republik weitergehen zu können
Die kleineren Schlangen am frühen Donnerstag vor Wahllokalen in Katalonien ließen vermuten, dass bei den aus Spanien verordneten Zwangswahlen die Beteiligung höher ausfallen könnte als 2015, als Katalonien auf den Unabhängigkeitsweg gebracht wurde. Mit den riesigen Schlangen, die sich am 1.Oktober beim Referendum gebildet hatten, ließen sie sich ohnehin nicht vergleichen. Vor zwei Jahren hatten sich 77 % der Wahlberechtigten beteiligt. Die Parteien der Unabhängigkeitsbewegung erreichten zwar eine Sitzmehrheit, aber sie verpassten die absolute Mehrheit mit 48% knapp Nachdem Spanien über den Verfassungsparagraph 155 die Autonomie ausgesetzt, die katalanische Regierung und das Parlament Ende Oktober aufgelöst und Teile der Regierung inhaftiert oder ins Exil getrieben hat, haben viele erwartet, dass die Beteiligung weiter steigen würde.
Das galt vor allem für die spanischen Parteien, die das Vorgehen über § 155 stützen und den Weg in die am 27. Oktober ausgerufene Katalanische Republik wie die rechten Ciudadanos (Bürger) abbrechen wollen, für die heute das "Verfallsdatum" des Prozesses gekommen sein soll. Eine hohe Beteiligung der nun 5,5 Millionen Wahlberechtigten - erstaunliche 136.000 mehr als 2015 - halten sie für entscheidend, da sie meinen, eine schweigende Masse sei gegen die Unabhängigkeit. Extra hatte die spanische Regierung die Wahlen erstmals auf einen Wochentag gelegt. Die Wähler bekamen das Recht, sich vier Stunden von der Arbeit befreien zu lassen, um eine hohe Beteiligung zu garantieren. Da am Wochenende viele mit anderen Plänen abwesend sein könnten, bewegte die rechtsradikale Volkspartei (PP) zu diesem Schritt.
D21 - Katalonien wählt (4 Bilder)
Daten um 13 Uhr lassen vermuten, dass es wohl keine neue Rekordbeteiligung gibt. Mit 34,6 liegt die Teilnahme einen halben Prozentpunkt unter der vor gut zwei Jahren um diese Uhrzeit. Die Zahl derer, die Briefwahl beantragt haben, ging von 107.000 auf knapp 82.000 um 26% zurück. Die Zahl der Katalanen, die im Ausland die Wahl beantragt haben, hat sich fast verdoppelt, konkret sind es 81% mehr. Statt 24.000 haben nur mehr als 40.000 beantragt, im Ausland zu wählen. 2015 hatten dort mehr als 60% der Auslandskatalanen überdurchschnittlich die Parteien der Unabhängigkeitsbewegung gewählt. Angesichts der Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft diese entscheidenden Wahlen nicht beobachtet, hat die Unabhängigkeitsbewegung eine massive Kontrolle organisiert, da sie Wahlbetrug befürchtet. "Allein in der Altstadt Barcelonas haben wir 150 Prüfer und Bevollmächtigte", erklärt Enrique Pineda. Er gehört zu den 39.000 Beobachtern, die die Bewegung mobilisiert hat, um alle 2680 Wahllokale und die Auszählung der insgesamt 8247 Wahlurnen zu überwachen.
Pineda ist für die Republikanische Linke (ERC) im Rathaus Barcelonas. "Wir sind hier allein sieben von der ERC", denn die Partei will sich nicht den erwarteten Wahlsieg nehmen lassen. Die Partei, deren Spitzenkandidat Oriol Junqueras weiter inhaftiert ist, führt eine parallele Zählung durch, um möglichen Wahlbetrug aufzudecken.
Für Pineda ist es eine Schande, dass es den Wählern verboten wurde, mit einem gelben Schal, Mütze, Jacke, Hose oder Schleife zur Wahl zu gehen, weil das wegen einer Bezugnahme auf die Unabhängigkeitsbewegung vom spanischen Wahlrat verboten wurde. "Schau, damit haben die kein Problem", erklärt er verweist auf einen Wähler, der mit einer großen umgehängten spanischen Fahne erscheint und unbehindert wählen kann.
Auch die linksradikale CUP hat viele Prüfer mobilisiert. In der Drassanes-Schule erklärt David Gervilla gegenüber Telepolis, dass nicht nur der Wahlprozess sehr sonderbar ist, sondern auch der gesamte Wahlkampf, mit dem Präsidenten Carles Puigdemont im belgischen Exil, der an den Wahlen nicht teilnehmen kann und Spitzenkandidaten von Parteien im Knast. Der Politologe CUP-Anhänger beschreibt, dass faktisch in Katalonien derzeit "eine Partei regiert, die heute mit fünf oder sechs Prozent" zur schwächsten Kraft werde.
Gervilla meint, es sei für die Spanien regierende Volkspartei (PP) zweitrangig, ob sie in Katalonien noch unbedeutender werde, so lange sie mit der Politik gegen Katalonien Stimmen in Spanien gewinne. Dabei sollte sie darüber nachdenken, dass ihnen die rechten Bürger immer stärker auf die Pelle rücken, aber die Unabhängigkeitsbewegung in den letzten Jahren gerade über ihre Politik gestärkt worden sei. Der 49-Jährige hätte sich
noch vor wenigen Jahren "niemals" vorstellen können, dass es jemals eine Mehrheit für die Unabhängigkeit geben oder man ein Referendum wie am 1. Oktober durchführen könnte, bei dem sich trotz der gewaltsamen Versuche, es zu verhindern, die Stimmen von 2,3 Millionen Menschen ausgezählt werden konnten, von denen sich mehr als 90% für die Unabhängigkeit ausgesprochen haben. "Jetzt gibt es nur noch einen Ausweg", sagt er und hofft, dass die Unabhängigkeitsparteien trotz der Repression und Angstkampagne aus Spanien ihr Ergebnis verbessern und auch mehr als 50% der Stimmen erhalten.
Für die Anarchistin Roser Pineda war es ein schwieriger Gang an die Wahlurne. "Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal für einen eigenen Staat einzutreten und wählen zu gehen", erklärt sie. Nun trat sie als Wählerin an den Wahltisch, dem das Mitglied der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT am 1. Oktober beim Referendum noch als Vorsitzende vorstand. Ob sie sich letztlich zur "nützlichen Stimmabgabe" für die ERC entschieden hat, weil das absurde Wahlgesetz große Parteien bevorzugt oder doch für die linksradikale CUP gestimmt hat, wollte sie Telepolis nicht verraten.
Vor dieser Frage standen viele Wähler, wie der Autor in Erfahrung bringen konnte. Für die CUP ist entscheidend, weiter im Prozess eine entscheidende Rolle zu spielen und vor der rechten spanischen PP zu landen, erklärte Gervilla und hofft auf ein großes Fest am Abend.