Zwangswahlen in Katalonien
Nach dem absonderlichsten Wahlkampf, in Belgien begonnen und in Madrid abgeschlossen, wird in Katalonien über den Unabhängigkeitsprozess entschieden
Es liegt eine gespannte Erwartungshaltung über Katalonien. Offiziell ist der Wahlkampf vor den aus Spanien verordneten Wahlen am "Besinnungstag" vor dem eigentlichen Wahltag am Donnerstag verboten, an dem erstmals seit dem Ende der Diktatur an einem Wochentag gewählt wird. Die Sonne schien wie üblich, während zur Wahl stehende Politiker von Wahlplakaten herablächeln und die rechte Inés Arrimadas von den Ciudadanos (Bürgern) mit Blick auf das Referendum am 1. Oktober erklärt: "Jetzt wählen wir tatsächlich." Allerdings ist nicht mal das Wahlplakat der Unionistenpartei, die die Wahlen gewinnen will, in korrektem Katalanisch verfasst.
Doch Arrimadas hat sogar recht. Bei den von Spanien angesetzten Zwangswahlen, nachdem die katalanische Autonomie ausgesetzt und die katalanische Regierung aus Madrid aufgelöst wurde, werden die Wähler nicht wie beim Referendum durch eine "militärähnliche Operation" von Seiten der spanischen Paramilitärs und Polizei um Leib und Leben bei der Stimmabgabe bedroht, wie sie internationale Beobachter am 1. Oktober haben feststellen müssen. Die katalanischen Parteien versuchten nicht, die Zwangswahlen zu behindern oder zu boykottieren, sondern stellten sich ihrerseits einer demokratischen Herausforderung, wozu Spanien und seine Parteien nicht bereit oder in der Lage sind.
"Viel zum Besinnen gibt es nicht", meinte jedenfalls Noemí an der Metrostation Drassens in Barcelona gegenüber dem gerade in der katalanischen Hauptstadt eingetroffenen Autor, während sie ihre Jacke wegen der auch hier herrschenden kühlen sechs Grad bis ganz oben zuknöpfte. "Die Entscheidungen sind längst gefallen, die übergroße Mehrheit weiß, ob sie den Unabhängigkeitsprozess unterstützt oder sich dagegen stellt."
Die gelbe Schleife am Revers zeigt sofort, auf welcher Seite die Frau im mittleren Alter steht. Viele Menschen tragen sie aus Protest darüber, dass die Präsidenten der großen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Minister der katalanischen Regierung inhaftiert oder ins Exil gedrängt wurden, weil sie nach dem Ausgang des Unabhängigkeitsreferendums am 27. Oktober die Katalanische Republik ausgerufen haben. Am Wahltag dürfen die Schleifen bei der Wahl nicht getragen werden. Auch wer einen gelben Schal, Mütze, Jacke oder Hose trägt, darf nicht wählen, habe der spanische Wahlrat bestimmt, empört sich Roser Pineda.
Für Noemí, die trotz Studium in einem Restaurant im Zentrum "jobben" muss, damit sie und ihre Familie über die Runden kommen, ist nur unklar, welche der Parteien sie wählen wird, die für die Unabhängigkeit eintreten. Das ist nicht anders im Lager der Unionisten. Und wie die pensionierte Lehrerin Pineda zweifelt auch Noemí nur, ob sie die linksradikale CUP oder die Republikanische Linke (ERC) wählt. Die ERC soll nach der letzten, gestern in der Zeitung Periòdic de Andorra veröffentlichten Umfrage, die Wahlen gewinnen. In Spanien dürfen schon seit Tagen keine Umfragen mehr veröffentlicht werden und schon gar nicht am Tag der Besinnung vor den Wahlen am Donnerstag.
Während die alte Anarchistin Pineda tendenziell zur CUP tendiert, damit sie "weiterhin den Unabhängigkeitsprozess vorantreiben und darin die soziale Frage vertiefen kann", tendiert Noemí eher zur ERC. Die Feministin kritisiert zum Beispiel, dass anders als bisher bei der CUP nur noch wenige Frauen auf der Liste sind, die bisher klar dominiert haben. Sie begründet die vermutliche Entscheidung für die ERC, obwohl ihr die CUP politisch näher steht, auch mit dem Wahlgesetz, das große Parteien bei der Sitzverteilung bevorteilt.
Wahlkampf aus dem Exil
Aber wie für Pineda ist auch für Noemí bedeutsam, dass Marta Rovira katalanische Präsidentin werden könnte. Da der ERC-Spitzenkandidat Oriol Junqueras noch immer in Madrid inhaftiert ist, könne eben dessen Stellvertreterin und Listenzweite Rovira dann Präsidentin werden. "Es ist Zeit, dass eine linke Frau regiert", sagt Noemí. Das ist auch der Grund, warum Pineda noch keine definitive Entscheidung getroffen hat. Für sie ist aber auch klar, dass eine Wahl des Christdemokraten Carles Puigdemont nicht in Frage stellt. Den hält auch Noemí weiter für ihren "legitimen Präsidenten", wie Puigdemont das immer wieder aus seinem Exil in Belgien betont.
Anders als der noch inhaftierte Junqueras konnte der bisherige katalanische Präsident und Spitzenkandidat seiner Liste "Junts per Catalunya" (Gemeinsam für Katalonien) wenigstens aus dem Exil per Liveschaltung über Video am Wahlkampf teilnehmen. Er würde aber in Spanien vermutlich sofort verhaftet, käme er nach Katalonien zurück. Allerdings musste die spanische Justiz den europäischen Haftbefehl gegen ihn und die vier ehemaligen Minister zurückziehen, weil sie so absurd waren, dass die belgische Justiz die Auslieferung aller Wahrscheinlichkeit nach verweigert hätte. Um eine Schlappe zu vermeiden, zog man die Haftbefehle zurück.
Da Puigdemont und ein Teil seines früheren Kabinetts nicht nach Spanien kommen können, fand am 7. Dezember die größte Wahlveranstaltung in diesem absonderlichen Wahlkampf in Brüssel statt. Mehr als 50.000 Katalanen sind in die belgische Hauptstadt gereist, um Puigdemont und die vier Exilminister zu unterstützen und um im "Herzen Europas" gegen die spanische Repression zu demonstrieren und zu fordern, dass Europa im Sinne der Demokratie interveniert.
Eine saubere und faire Wahl sieht jedenfalls anders aus, auch wenn im ebenfalls intervenierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht über die Demonstration in Brüssel berichtet werden durfte und dort auch den Journalisten eine Wortwahl aufgezwungen wird. Dazu kommt, dass auch der Zweite der Puigdemont-Liste, der ehemalige Präsident der großen Katalanischen Nationalversammlung (ANC), im Knast sitzt und mit dem ehemaligen Innenminister Joaquin Forn auch der Kandidat auf Listenplatz 7 keinen Wahlkampf machen konnte. Der frühere ANC-Präsident Jordi Sànchez ist, wie der Präsident von Òmnium Cultural, Jordi Cuixart, sogar schon seit 65 Tagen inhaftiert.
Der Wahlkampf verlief sehr absonderlich, in dem sogar sozialdemokratische unionistische Politiker wie Josep Borrell in faschistoider Wortwahl davon sprachen, "Katalonien desinfizieren" zu wollen. Die rechtsradikale spanische Vizeministerpräsidentin brüstete sich ihrerseits damit, die Unabhängigkeitsbewegung über das Exil von Puigdemont und die Inhaftierung von Junqueras "geköpft" zu haben, womit sie sogar zugibt, dass es eine Gewaltenteilung in der Frage nicht gibt und die Justiz im Auftrag der Regierung handelt.
Viel wird von der Wahlbeteiligung und den Stimmen für Podemos abhängen
Ein sonderbarer und unfairer Wahlkampf wurde so auch unorthodox von der Partei abgeschlossen, die mutmaßlich als Wahlsieger daraus hervorgehen wird. Erstmals seit der zweiten Spanischen Republik, die 1936 durch den Putsch gestürzt wurde, soll die traditionelle Unabhängigkeitspartei ERC wieder stärkste Kraft werden. Und Rovira, ihr Team und etliche Anhänger beendeten den Wahlkampf nicht in Katalonien, sondern sie fuhren am Dienstag in die spanische Hauptstadt zu einer Kundgebung am Knast Estremera, wo ihr Parteichef Junqueras einsitzt.
Die vermutliche zukünftige katalanische Präsidentin Rovira erklärte vor den Mauern, bevor sie ihren Parteichef als Anwältin besuchte: "Wir wollen klar und deutlich sagen, dass er wegen seiner politischen Vorstellungen inhaftiert ist, die nicht respektiert, sondern verfolgt werden." Junqueras sei auch im Knast, da er "der beste Kandidat ist, um Katalonien in die Zukunft zu führen". Rovira forderte Spanien erneut auf, den Konflikt demokratisch zu lösen. Sie fügte aber an, man habe gelernt, "dass der Staat zu allem bereit sei". Das sagte sie im Hinblick auf das brutale Vorgehen der Polizei beim Referendum und darauf, dass aus Madrid mit Toten auf katalanischen Straßen gedroht worden sein soll, was sie zuvor berichtet hatte.
Während Noemí und Roser hoffen, dass die Unabhängigkeitsparteien gemeinsam auf über 50% der Stimmen kommen und auch die Stimmenmehrheit erhalten, hoffen die spanischen Unionisten darauf, dass die Ciudadanos (Bürger) unter Inés Arrimadas die Wahlen gewinnen. Die in Katalonien gegen die Unabhängigkeitsbewegung gegründete Partei hofft auf eine "nützliche Stimmabgabe", also dass sie auch viele Stimmen der rechten spanischen Volkspartei (PP) und der Sozialdemokraten (PSOE) erhält. Die in Spanien regierende PP dürfte nun sogar schwächste Partei im Parlament werden. Es gäbe eine "historische Chance", um Unabhängigkeitsbestrebungen zu beenden, meint Arrimadas. "Am Donnerstag ist das Verfallsdatum des Prozesses", erklärte sie zum Wahlabschluss im Stadtteil Barcelona Nou Barris, das einst eine PSOE-Hochburg war.
Letztlich hängt aber fast alles davon ab, ob es eine faire Wahl gibt und wie sich die Anhänger der spanischen Linkspartei Podemos (Wir können es) verhalten. Sie hat sich an der Unabhängigkeitsfrage gespalten. Der aus Madrid kürzlich geschasste Chef Albano Dante Fachin ist zuletzt auf Veranstaltungen der ERC und der CUP aufgetreten, kandidiert aber anders als zunächst erwartet für keine der beiden Parteien, da die Zeit zur Ausarbeitung einer Übereinkunft nicht ausreichte. Seine ehemalige Formation sei mit ihrem Schwenk "bedauerlich". Sie zu wählen, bedeute jetzt, das Projekt der spanischen Rechten gegen die Demokratiebewegung zu unterstützen.
So hängt am Donnerstag nicht nur viel von der Wahlbeteiligung ab, sondern auch davon, wie viele Stimmen Fachin und seine aus Madrid geschassten Mitstreiter mitziehen können. Vor zwei Jahren kam die Koalition "Katalonien kann es" auf 9% der Stimmen, da sie sich wachsweich für ein Selbstbestimmungsrecht eingesetzt hat, aber nie klar gemacht hat, wie das umgesetzt werden soll, wenn der spanische Staat sich verweigert. .