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Katalonien hat auch keine Angst vor Spanien

Kundgebung am Sonntag. Bild: Assemblea Nacional

Mehr als eine Million Menschen haben deutlich gemacht, dass sie gegen alle Repression am 1. Oktober über ihre Unabhängigkeit abstimmen werden

Fast könnte man einen Artikel [1] aus einem der letzten sechs Jahre kopieren, denn erneut sind am gestrigen katalanischen Nationalfeiertag (Diada) Hunderttausende in Katalonien auf die Straßen gegangen, um für die Unabhängigkeit von Spanien zu demonstrieren.

Aufgerufen hatten in diesem Jahr zahllose Organisationen. Es standen nicht mehr allein federführend die Katalanische Nationalversammlung (ANC [2]) und die Kulturorganisation Omnium Cultural [3] hinter dem Aufruf, sondern auch etliche Parteien und die Regionalregierung, auch wenn die beiden zivilgesellschaftlichen Organisationen erneut die Choreografie in Barcelona organisiert und koordiniert haben.

Die entscheidende Phase ist eingeleitet

Die massive Mobilisierung in diesem Jahr unterscheidet sich von den bisherigen dadurch, dass in Katalonien die entscheidende Phase in Richtung Unabhängigkeit eingeleitet worden ist [4]. Endlich soll aus Katalonien ein "neuer Staat in Europa" werden [5].

Das katalanische Parlament hat dazu kürzlich das Gesetz für das Referendum am 1. Oktober verabschiedet. U [6]nter diesem Vorzeichen standen auch die Feierlichkeiten in diesem Jahr, die die Bevölkerung gut gelaunt begangen hat. Durch die Verbote aus Madrid lässt man sich die Stimmung nicht verbieten.

Etwas anderes als Verbote und die Ankündigung repressiver Maßnahmen aus dem autoritären Madrid hatte ohnehin kaum jemand erwartet. Wider die Androhung von Haftstrafen gegen die Regionalregierung und Mitglieder des Parlamentspräsidiums [7] wurde das Übergangsgesetz verabschiedet, um bei einem Ja die Loslösung von Spanien in kurzer Zeit durchführen zu können [8].

Titelseite der Zeitung Gara

Keine Angst, Angst und Pfeifen im Wald

In Madrid will die Zentralregierung sogar weniger Teilnehmer gesehen haben als bei früheren Demonstrationen, obwohl Barcelona "übergelaufen" ist [9], wie diverse Medien bestätigen. Es ist wie das berühmte Pfeifen im Wald und darf als Treppenwitz der Geschichte einer spanischen Regierung verstanden werden, die sich in eine Sackgasse manövriert hat, weil sie seit Jahren nur Repression zu bieten hat. Ohnehin war Barcelona nicht der einzige Ort, an dem sich die katalanische Demokratiebewegung gefeiert hat [10].

Es ist bezeichnend, dass nicht nur auf Twitter [11], sondern auch auf den Straßen Barcelonas erneut gerufen wurde: "No tinc por" (Ich habe keine Angst). Das war der Slogan, unter dem eine halbe Million Menschen kürzlich in Barcelona nach den Terroranschlägen auf die Straße gingen, um islamistischen Faschisten die Stirn zu bieten [12]. Man mag darüber streiten, ob dies nun angemessen ist, aber es könnte Anlass in Spanien dafür sein, darüber nachzudenken, unter welcher subjektiven Bedrohung sich nicht wenige in Katalonien sehen.

Dass neben der Repression der Paramilitärs die spanischen Politiker ständig von einem Putsch in Katalonien [13] fabulieren, weil man die Bevölkerung abstimmen lassen will, und sie immer beteuern, das Referendum "mit allen Mitteln" zu verhindern oder die Verteidigungsministerin sogar schon mit Militär gedroht [14] hat, macht klar, dass die gefühlte Bedrohung nicht aus der Luft gegriffen ist. Es wäre an der Zeit, dass Berlin, London, Brüssel und andere die spanische Regierung endlich in die Schranken weisen, bevor sie weiter europäisches Geschirr zerschlagen kann.

Warum soll Katalanen verwehrt bleiben, was den Schotten erlaubt war?

Es hilft nichts, wie spanische Kommentatoren von der angeblich linken El Páis bis zur rechtsradikalen La Razón schreiben, dass der Rechtsstaat und die Demokratie geschützt werden müssen und dass das Vorgehen in Katalonien verfassungswidrig sei. Es wird auch durch Wiederholung nicht richtiger. Man kann nur immer wieder darauf hinweisen, dass man auch die kanadische Verfassung hätte so auslegen können, wie es jetzt Spanien tut.

Doch die Verfassungsrichter dort haben im Fall von Quebec anders entschieden und zwei Referenden zugelassen. Schließlich beruhe die Verfassung auf dem "demokratischen Prinzip", hieß es. Deshalb könne der Wunsch Quebecs abzustimmen, nicht ignoriert werden, das Ergebnis müsse anerkannt werden [15].

Warum den Katalanen etwas verwehrt bleiben soll, was auch die Briten in ihrer demokratischen Grundhaltung den Schotten nicht vorenthalten haben, erklärt sich nicht [16]. Spanien könnte daraus, dass in Quebec und in Schottland mehrheitlich für Nein gestimmt wurde, auch den Schluss ziehen, dass die Mehrheit für einen demokratischen Staat, in dem Grundrechte geschützt und gewährt werden, eher verbleibt, statt sich auf Abenteuer einzulassen.

Das Gegenteil war bekanntlich in Mazedonien, Kosovo und der Krim [17] der Fall. Angesichts von Repression und einem fehlenden Rechtsstaat, ist vielen fast jedes Abenteuer recht.

Fake-News von El País

Wenn ausgerechnet El País nun anklagt, dass die katalanische Regierung die Katalanen "bedrohe, betrüge und belüge", ist mehr als dreist [18]. Gerade musste El País zurückrudern, weil die Zeitung die Leser und die halbe Welt belogen hat. Denn ihre Meldung, dass Barcelona die Teilnahme am Referendum verweigert habe [19], war nichts anderes als eine Fake-News der größten spanischen Zeitung, die immer stärker ihr früheres Renommée einbüßt.

Ohne eine Gegendarstellung zu bringen, titelte die Zeitung, die den Sozialdemokraten nahe steht, während der gestrigen Diada mit einem Zitat der Bürgermeisterin Ada Colau. Die erklärte unzweideutig [20]: "Wir werden alles tun, damit die Bevölkerung am 1. Oktober abstimmen kann." Eigentlich hat die ehemalige Anführerin der Empörten-Bewegung ihre Position nicht geändert.

Sie hat das immer vertreten, aber von der Regionalregierung "Garantien" gefordert, dass nicht auch die Beschäftigten ihrer Institution kriminalisiert werden. Auch sie hatte die Bevölkerung in Katalonien zur Teilnahme an den Demonstrationen aufgerufen, da Katalonien das Recht habe zu entscheiden und gehört werden müsse. Sie ist im Gespräch mit der katalanischen Regierung und es zeichnet sich eine Lösung ab, damit auch die 1,6 Millionen Katalanen der 7,5 Millionen Hauptstadt-Bewohner am 1. Oktober abstimmen können. Vermutlich werden Freiwillige, die sich zu Tausenden einschreiben, um das Referendum durchführen zu können, die Abstimmung in den üblichen Wahllokalen oder anderen Räumen der Stadt garantieren, aber keine Beamten und Angestellten.

In Richtung Madrid und dem spanischen Regierungschef Mariano Rajoy, der gebetsmühlenhaft erklärt, es werde kein Referendum geben, erklärte sie: "Ein guter Regierungschef sollte auf die Bevölkerung hören, dass es in Katalonien viele Stimmen gibt, die so etwas Grundlegendes wie ein Referendum wollen." Rajoy dagegen verstecke sich hinter Richtern und Staatsanwälten.

Auf die Palme hat der Podemos-Chef Pablos Iglesias in Katalonien die spanischen Nationalisten von links bis rechts gebracht, die von demokratischen Abstimmungen und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker nichts wissen wollen. Dabei hat auch Spanien den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der UNO ratifiziert, der schon im ersten Artikel das Selbstbestimmungsrecht als Menschenrecht verankert. Das rechtsradikale Blatt ABC titelt [21] wie El País - die allerdings ins Spanische übersetzt [22], dass Iglesias in seiner Rede als "stolzer Spanier" erklärte: "Visca Catalunya lliure i sobirana!" (Es lebe ein freies und souveränes Katalonien).

Die historische Herausforderung und Gerichte

Er fügte an, dass die Negation der katalanischen Souveränität einen Namen habe: den der regierenden "Volkspartei" (PP). Deshalb sei es eine "historische Herausforderung" diese Partei aus der Regierung zu vertreiben. Sein Problem ist nur, dass er dafür nicht nur die katalanischen und baskischen [23] Parteien braucht, sondern auch die "Sozialisten" (PSOE).

Die tun sich aber auch unter Pedro Sánchez weiter als gute spanische Nationalisten hervor und stellen sich hinter die PP-Repressionspolitik. Sánchez stellt sich nicht hinter sozialistische Bürgermeister in Katalonien, die sich am Referendum beteiligen wollen, sondern will sie sogar bestrafen [24].

Die Repression wird nun nach dem 11. September weiter zunehmen. So hat das Verfassungsgericht heute auch das Übergangsgesetz durch Aussetzung bis zum definitiven Urteil praktisch verboten [25]. Zudem wurden Verfahren gegen die Regierungs- und Parlamentsmitglieder auf Basis der Anschuldigungen durch das Ministerium für Staatsanwaltschaft eröffnet, da das Gericht sie nun angenommen hat [26].

Die ebenfalls (erneut) beschuldigte Parlamentspräsidenten Carme Forcadell erklärt dazu: "Es sind Anklagen, die sich dagegen richten, eine Debatte im Parlament zugelassen zu haben." Die Angeschuldigten meinen, dass auf ein gesamtes Volk losgegangen wird [27]. Forcadell ist deshalb schon in zwei Fällen angeklagt. Schon darin sehen Parlamentarier aller Parteien im britischen Parlament eine klare "Verletzung des demokratischen Grundrechts der Meinungsfreiheit".

Die britische Parlamentariergruppe sieht dafür "in der neueren Geschichte Westeuropas nach 1945 keinen Vorläufer". Sie verweist darauf, dass damit gegen die Satzung des Europarats verstoßen werde, in dem auch Spanien Mitglied ist [28].

Vorgeladen wurde heute auch der Chef der Regionalpolizei, der sich nach den Anschlägen in Barcelona und Cambrils durch sein effizientes Vorgehen einen Namen gemacht hatte. [29] Josep Lluís Trapero musste heute Vormittag bei der Staatsanwaltschaft antreten.

Die Mossos werden politisch vereinnahmt

Die verkündete ihm, dass seine Mossos d'Esquadra das Referendum verhindern soll [30]. Es ist klar, dass die Zentralregierung die heiße Kartoffel zumindest zum Teil weitergeben will, es also die Mossos sein sollen, die Urnen und Wahlzettel beschlagnahmen, um einen Spaltungskeil in die Bewegung zu treiben.

Schloss man die Regionalpolizei bisher von Daten zur Terrorbekämpfung zum Beispiel von Europol aus und beschuldigte sie sogar mit gefälschten CIA-Meldungen [31], soll sie nun gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden. Der katalanische Regierungschef, dem die Polizei untersteht, hat gefordert, die "Mossos in Frieden zu lassen", schließlich führe Trapero eine Polizei an, die von den Menschen geliebt werde.

"Wenn sie zwischen der Entfernung von Urnen und dem Schutz von Menschen wählen müssen, haben sie Prioritäten", kündigte [32] Carles Puigdemont an. Die Polizei habe keine Politik zu machen, sondern weiter die gleiche Aufgabe wie bei der unverbindlichen Volksbefragung 2014 [33], die ebenfalls verboten worden war. Damals schritten weder die Mossos noch die paramilitärische Guardia Civil noch die Nationalpolizei ein, um vom Militär nicht zu sprechen.


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[1] https://www.heise.de/tp/news/Unabhaengigkeit-Kataloniens-2017-3318959.html
[2] https://assemblea.cat/
[3] https://www.omnium.cat/
[4] https://www.heise.de/tp/features/Entscheidende-Stunden-in-Kataloniens-Bruch-mit-Spanien-3823211.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Katalonien-ein-neuer-Staat-in-Europa-3395659.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Gesetz-zum-Unabhaengigkeitsreferendum-fuer-Katalonien-beschlossen-3824399.html
[7] https://www.heise.de/tp/news/Katalonien-Referendum
[8] https://www.heise.de/tp/news/Katalonien-Referendum-wird-auch-bei-einem-spanischen-Klage-Tsunami-durchgefuehrt-3825486.html
[9] http://www.eldiario.es/catalunya/politica/marea-independentista-desborda-Barcelona-respaldar_0_685582061.html
[10] http://www.regio7.cat/bergueda/2017/09/11/bergueda-sentir-seva-veu-barcelona/433243.html
[11] https://twitter.com/seny1714?lang=es
[12] https://www.heise.de/tp/news/Barcelona-hat-keine-Angst-3813505.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Katalanischer-Putsch-3725435.html
[14] https://www.heise.de/tp/news/Katalonien-Sofortige-Unabhaengigkeit-nach-Referendum-3764081.html
[15] http://books.google.fr/books?id=qCEEDMgT9Y8C&pg=PA245&lpg=PA245&dq=Verfassungsgericht+Kanada+Referendum+Quebec&source=bl&ots=pAMTtTNcGw&sig=fMtrTTYb-FaA3g05PjFAXm3U9h8&hl=de&sa=X&ei=HdcnVNr9Mc_caJ_5gpAI&ved=0CCkQ6AEwBA#v=onepage&q&f=false
[16] https://www.heise.de/tp/features/Briten-und-Schotten-zeigen-Europa-die-demokratische-Karte-3367468.html
[17] https://www.heise.de/tp/news/Unglaubliche-Zahlen-im-Krim-Referendum-2146560.html
[18] https://elpais.com/tag/c/aac32d0cdce5eeb99b187a446e57a9f7
[19] https://elpais.com/ccaa/2017/09/08/catalunya/1504885655_859212.html
[20] http://www.lavanguardia.com/politica/20170911/431204013144/ada-colau-referendum-1-o-diada-11s.html
[21] http://www.abc.es/espana/abci-pablo-iglesias-barcelona-visca-5572062574001-20170911024002_video.html
[22] https://elpais.com/ccaa/2017/09/11/catalunya/1505158593_814232.html
[23] https://www.heise.de/tp/news/Rajoy-regiert-zunaechst-in-Spanien-weiter-3745064.html
[24] http://www.lavanguardia.com/politica/20170628/423735617617/ami-psc-51-alcaldes-sancion-1-o-referendum-psoe.html
[25] http://www.lavanguardia.com/politica/20170912/431221867496/tribunal-constitucional-tc-suspende-ley-de-transitoriedad.html
[26] http://www.lavanguardia.com/politica/20170912/431221590047/tsjc-querellas-govern-mesa-1o.html
[27] http://www.lavanguardia.com/politica/20170912/431223272727/querellados-mesa-parlament-gobierno-pueblo.html
[28] https://www.heise.de/tp/news/Unabhaengigkeit-Kataloniens-am-1-Oktober-auf-der-Tagesordnung-3740215.html
[29] https://www.heise.de/tp/features/Katalonien-hat-schon-so-reagiert-als-waere-es-ein-Staat-3811948.html
[30] http://www.elnacional.cat/es/politica/fiscalia-trapero-mossos-impedir-referendum_190653_102.html
[31] https://www.heise.de/tp/news/CIA-Warnung-zu-Anschlaegen-in-Barcelona-gefaelscht-3819205.html
[32] http://www.lavanguardia.com/politica/20170912/431219359501/puigdemont-mossos-referendum-1-o.html
[33] https://www.heise.de/tp/features/81-fuer-die-Unabhaengigkeit-Kataloniens-von-Spanien-3368406.html