Briten und Schotten zeigen Europa die demokratische Karte
Die Schotten konnten in einer einzigartigen und zivilisierten Form ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben
Schottland hat am Donnerstag entschieden, in Großbritannien zu bleiben. Dafür haben sich per Referendum 55% der Bevölkerung ausgesprochen. 45% der Bevölkerung wollten dagegen lieber das Königreich verlassen und die Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Und so demokratisch, wie der britische Konservative David Cameron sich mit dem Schotten Alex Salmond auf den Prozess und das Referendum geeinigt haben (Europas neue Staaten), hat Salmond das Ergebnis anerkannt: "Ich akzeptiere das Urteil des Volkes, dass es zu diesem Zeitpunkt keine Unabhängigkeit geben soll", sagte er am Freitagmorgen vor Anhängern. Er sprach von einem "großen Erfolg eines demokratischen Prozesses" und bezog sich dabei auch darauf, dass sich 86% aller Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt haben. Bei den Europaparlamentswahlen im Mai nahmen in Großbritannien dagegen nur gut 34% teil.
Schotten und Briten haben mit dem Referendum ein demokratisches Lehrstück gegeben. Das zeigt nicht nur die enorme Wahlbeteiligung. Das zeigt auch, dass engagiert, friedlich und breit debattiert wurde und alle abstimmen durften, die in Schottland leben und die die Entscheidung direkt betrifft. So breit wie wohl nie zuvor wurde im Land über die wichtigen Fragen debattiert und vor allem die neoliberale Politik angegriffen, die die Londoner Regierung in Westminster macht. Die Schotten haben mit ihrem Votum auch der unsozialen Politik die gelbe Karte gezeigt.
Letztlich hatten die Schotten aber nichts zu verlieren. Denn eigentlich forderte Salmonds Scottish National Party (SNP) ursprünglich nur eine Ausweitung der Autonomierechte. Und die wird sie nun bekommen. Als die Umfragen zeigten, dass eine Mehrheit der Schotten für die Unabhängigkeit stimmen könnte, machten der konservative Cameron, der Sozialdemokrat Ed Miliband und der Chef der Liberaldemokraten Nick Clegg den Schotten plötzlich gemeinsam ein Angebot. Für ein "No" boten sie "umfangreiche neue Zuständigkeiten" auch über die Verwendung der Steuern und der Einnahmen aus dem Ölgeschäft an (Nach Finanzversprechen für Schottland:).
Offensichtlich hat dieses Angebot die vielen Unentschlossenen dazu gebracht, die auch am Donnerstag noch registriert wurden, gegen die Unabhängigkeit zu stimmen. Auf sie hat die Angstkampagne gewirkt, wonach Brüssel mit einem Rauswurf aus der EU drohte, die großen Banken das Land verlassen würden, es unsicher war, mit welcher Währung ein unabhängiges Land weitermachen würde, ob die Renten sicher sind, etc. Sie wollten lieber den Spatz in der Hand behalten, als nach der Taube auf dem Dach zu greifen.
In einer Rede hat Cameron in London am frühen Freitag erklärt, man habe den "festen Willen der Schotten" gehört. Nun sei es an der Zeit, sich gemeinsam für eine bessere Zukunft zu engagieren. Der Regierungschef kündigte eine Verfassungsreform an. Schon im Januar soll ein Gesetzesentwurf vorgelegt werden, um die Versprechen einer Ausweitung der Autonomie umzusetzen. Und diese Rechte sollen alle Nationen im Königreich erhalten. Die Gewinner des schottischen Referendums finden sich damit auch in England, Wales und Nordirland.
Schottland und Großbritannien stellen die EU vor die zentrale Frage, welche Gemeinschaft man bilden will
So stellte die stellvertretende Erste Ministerin Schottlands Nicola Sturgeon zwar fest, dass die Mitglieder der Yes-Kampagne enttäuscht seien, aber sie stellte auch fest, dass sich "Schottland für immer verändert hat". Denn allen ist nicht nur dort klar geworden, dass es sich lohnt, für seine Rechte zu streiten und einzustehen. Auch Großbritannien hat sich für immer verändert und Europa muss sich Gedanken machen, damit der Ärmelkanal nicht noch breiter wird.
Denn es war unsäglich, wie sich die EU-Kommission aus Brüssel in einen tief demokratischen Prozess eingemischt hat und Millionen Schotten mit dem Rauswurf drohte, obwohl das in den Verträgen nicht vorgesehen ist (EU hilflos gegenüber Unabhängigkeitsbestrebungen). Daran hat sich gezeigt, dass "EU-Brüssel außer Rand und Band ist" und man am demokratischen Grundverständnis in Brüssel zweifeln darf. Warum sollten die Schotten einen Antrag zur Aufnahme stellen? "Bei der Aufnahme Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft zählten sie dazu und daran hat sich nichts geändert. Es ändert sich durch das Votum in Schottland nichts an der demokratischen Gesinnung und dem demokratischen Staatsaufbau Schottlands", stellt der Willy Wimmer, der ehemalige verteidigungspolitischen Sprecher der CDU/CSU, im Vergleich mit diversen Kandidaten zur Aufnahme fest.
Die EU und die Mitgliedsstaaten stehen nun auch vor der Frage, wie sie in Zukunft mit der Vielzahl von Unabhängigkeitsbestrebungen umgehen will. Man kann das Selbstbestimmungsrecht nicht Flamen, Katalanen, Basken… verweigern, wenn Schotten frei darüber entscheiden können und die EU Trennungsprozesse wie im ehemaligen Jugoslawien sogar aktiv gefördert hat. Damit steht auch die Entscheidung an, wie man den spanischen Konservativen umgeht.
Dass es mit deren demokratischen Grundverständnis nicht sonderlich weit her ist, ist nicht neu. Ministerpräsident Mariano Rajoy hat das am Mittwoch erneut verdeutlicht. Er erklärte), demokratische Abstimmungen wie in Schottland seien ein "Torpedo auf die Wasserlinie der EU". Anders als der Demokrat Cameron will der Postfaschist Rajoy nämlich mit allen Mitteln verhindern, dass auch Katalanen und Basken frei entscheiden können, ob sie in Spanien bleiben oder es lieber verlassen wollen. Die Frage ist, ob man ein Demokratie à la Rajoy oder Cameron bevorzugt.
Seine Volkspartei (PP), die sich vom Putsch und der Franco-Diktatur nicht distanziert hat, bietet mit ihren repressiven Ticks bislang nur die Konfrontation an und will demokratische Abstimmungen "mit allen Mitteln" verhindern. Mobilisiert werden schon jetzt Staatsanwälte und die Sicherheitskräfte, um das am 9. November geplante Referendum in Katalonien zu verhindern, für das Millionen demonstriert hatten. Statt mit Angeboten wie Cameron für einen Verbleib zu werben, droht Spanien sogar damit, die Autonomie in Katalonien auszusetzen. Statt Zuckerbrot und Peitsche bietet Spanien also nur die Peitsche.
Kein Wunder, dass auch Gibraltar lieber als Kolonie zu Großbritannien als zu Spanien gehören wollte (300 Jahre - Gibraltar will weiter eine Kolonie bleiben). Wundert man sich eigentlich noch, dass Spanien das Ergebnis eines Referendums in Gibraltar nicht anerkennt, obwohl 99% der Bevölkerung dort jeden Einfluss Spaniens über Gibraltar kategorisch abgelehnt hat? Nur 187 Bewohner sagten Ja zu einer "geteilten Souveränität" zwischen Großbritannien und Spanien und auch hier ließ eine Beteiligung von fast 90% keinen Zweifel daran, dass das Ergebnis repräsentativ war.
Schottland und Großbritannien stellen die EU vor die zentrale Frage, welche Gemeinschaft man bilden will. Ob weiterhin rechte Politiker wie Rajoy hofiert werden und Brüssel weiter auf diesem Weg geht, der es nun sogar ermöglicht, dass in der Ukraine offen agierende Neonazis unterstützt werden, was der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen kürzlich als "fatalen Tabubruch" kritisierte. Europa steht vor der Frage, ob man sich auf den Weg zu einer wirklichen Demokratie macht und dem Souverän die Möglichkeit gibt, über zentrale Fragen entscheiden zu können. Geht man diesen Weg nicht, wird die EU scheitern und zerfallen. Denn Cameron hat nicht nur die Schotten entscheiden lassen, ob sie im Königreich bleiben wollen. Er will die Bürger im Königreich 2017 auch über den Austritt aus der EU abstimmen lassen. Und darüber könnten auch die Schotten in drei Jahren die EU tatsächlich verlassen.