Europas neue Staaten
Mit Schottland, Katalonien, dem Baskenland und Flandern dürften bald neue Staaten in Europa entstehen
BBC hat am Mittwoch gemeldet, dass Schottland 2014 über seine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich abstimmen wird. Edinburgh und London hätten sich darauf verständigt. Es ist Schottland, das nun den weiteren Weg aufzeigt, auf den sich auch andere Nationen ohne Staaten in Europa gemacht haben. Neben Schottland ist auch Katalonien klar auf diesen Pfad eingeschwenkt, weil der Mehrheit der Katalanen angesichts spanischer Bevormundung der Kragen geplatzt ist (Katalonien stimmt über Unabhängigkeit von Spanien ab). Anders als in London will Madrid aber das geplante Referendum verhindern. Es scheint, die reicheren Regionen suchten in der Krise einen Ausgang, doch das ist eine sehr verkürzte Sicht auf historische Vorgänge.
Mit dem üblichen Analyse-Muster, wonach vor allem die "reicheren Regionen" die jeweiligen Nationalstaaten verlassen wollen, wartete am Wochenende die einflussreiche überregionale Tageszeitung New York Times auf. Sie führt in einem ausführlichen Artikel die Entwicklungen in Katalonien als "Katalysator für eine neue Welle des Separatismus" an. Dass schon diese Ausgangsthese falsch ist, zeigen die Vorgänge in Schottland, die der Regierung in Madrid seit Jahren die Sorgenfalten auf die Stirn treiben (Schottische Unabhängigkeitsbestrebungen empören Spanien). Während sich im nordspanischen Katalonien gerade erst die kritische Masse für ein Referendum über die Unabhängigkeit herausbildet, ist sie in Schottland längst vorhanden.
2007 wurde die Alex Salmond zum schottischen Ministerpräsidenten gewählt. Der Führer der separatistischen linksliberalen "Schottischen Nationalpartei" (SNP) hat aus seinen Vorstellungen, das Land in die Unabhängigkeit zu führen, nie einen Hehl gemacht. Im Mai 2011 wurde die Regierung Salmond nicht nur bestätigt, sondern sie bekam bei den Wahlen eine absolute Mehrheit mit dem Programm, in dieser Legislaturperiode ein Referendum über die Unabhängigkeit durchzuführen. Nachdem die SNP sogar 69 von 129 Sitzen erhielt, sagte Salmond selbstbewusst: "Ein vom Vereinten Königreich unabhängiges Schottland ist jetzt nicht mehr aufzuhalten."
Die Schotten wollen sich beim Referendum nicht die Pistole auf die Brust setzen lassen
Nun hat sich die Regierung Salmond offensichtlich mit der konservativen britischen Regierung weitgehend geeinigt, diese Abstimmung im Herbst 2014 durchzuführen. Schon am Dienstag hatte die Tageszeitung Guardian gemeldet, dass ein Abkommen praktisch geschlossen sei. Die BBC legte am Mittwoch nach, und berichtete, der "Deal" werde in der kommenden Woche mit dem konservativen David Cameron vereinbart. Obwohl letzte Details noch geklärt werden müssten, hat Cameron am Mittwoch auf dem Parteitag der Konservativen angekündigt, sich am Montag mit Salmond zu treffen.
Von schottischer Seite wird nicht dementiert, aber man spricht von einem Frühstart. Salmond hält es für "unklug", von einem Abkommen zu sprechen, wenn es noch nicht vorliege. Der schottische Premier bestätigte aber, man sei "nah an einer Einigung". Denn der Streit, ob es nur eine Frage gibt, ist offensichtlich noch nicht vollständig beigelegt. Cameron will durchsetzen, dass es nur eine Abstimmung über die Unabhängigkeit gibt: "Ja" oder "Nein". Die schottische Seite will noch über eine Alternative abstimmen. Sie nennt sich "devolution max". Mit dieser weitergehenden Autonomie bekäme das schottische Parlament die Kompetenzen für alle "Gesetze, Steuern und Pflichten" übertragen, mit Ausnahme von "Verteidigung und auswärtigen Angelegenheiten, finanziellen Regulierungen, Geldpolitik und Währung", die weiterhin der Regierung des Vereinigten Königreichs vorbehalten wären.
Cameron will nur verbindlich über die Unabhängigkeit abstimmen lassen, weil er darauf hofft, dass angesichts von Ängsten und Unsicherheiten, Altbekanntes aufzugeben, eine Mehrheit mit Nein stimmen könnte. Die Schotten wollen sich aber nicht die Pistole auf die Brust setzen lassen. Salmond will deshalb Ängste bei einigen Landsleuten aufnehmen. Der "Erste Minister" will die Bestrebungen nach Eigenständigkeit wenigstens für einen großen Schritt zu einer weitgehenden Autonomie nutzen, falls sich die Mehrheit nicht oder noch nicht für die Unabhängigkeit vom Königreich aussprechen will. "Es gibt genügend Beweise, dass, wo immer wir Vertrauen bekommen haben, wir reale Verbesserungen für die Menschen in Schottland schaffen konnten", sagte Salmond im Frühjahr am Rand des Cameron-Besuchs in Edinburgh. Es gehe darum, dass das schottische Parlament "mehr Macht und Einfluss" bekomme und "der konservative Einfluss" aus England substanziell vermindert werde.
Die These von den Autonomiebestrebungen der reichen Regionen greift zu kurz
An Schottland lässt sich schon bezweifeln, ob die These stimmt, dass die reichen Regionen die Unabhängigkeit anstreben. Schaut man sich Daten an, die das das Statistische Bundesamt (Destatis) im März veröffentlicht hat, dann lässt sich diese Ansicht nicht bestätigen. Auch wenn es diskutabel ist, den durchschnittlichen Reichtum an der Wirtschaftsleistung pro Kopf festzumachen (ohne die reale Verteilung zu beachten), liegt Schottland unter dem Durchschnitt des Vereinten Königreichs. Das gilt auch, wenn mit dem "Kaufkraftstandard" (KKS) gerechnet wird, der Unterschiede in Preisniveaus einbezieht. Mit 25.200 fällt Schottland zum Beispiel weit hinter die britische Hauptstadt London (44.400) zurück. Noch deutlicher, dass die Ausgangsthese sehr zweifelhaft ist, wird das an Nordirland. Dass es hier eine starke Unabhängigkeitsbewegung gibt, ist bekannt, schließlich hat sich die IRA viele Jahrzehnte auch mit massiver Gewalt für die Loslösung eingesetzt. Nordirland liegt mit 19500 KKS am Ende der Skala im Vereinigten Königreich und nur Wales ist mit 18700 noch etwas ärmer.
Schaut man sich Prozesse in Europa an, die in der neueren Geschichte real in die Unabhängigkeit geführt haben, dann lässt sich diese These schon gar nicht halten. Wer sich bei der Teilung der Tschechoslowakei von wem abgespalten hat, ist ohnehin fraglich. Jedenfalls hat man sich friedlich und einvernehmlich 1993 getrennt.
Die ärmere Slowakei (17300 KKS) hatte jedenfalls nichts gegen die Trennung von Tschechien (19300 KKS) einzuwenden. Auch bei jüngeren Prozessen im Kosovo passt die These, dass sich reiche Regionen von armen abspalten, ganz und gar nicht. Denn in diesem Fall haben sich die beiden armen Regionen gegen den erbitterten Widerstand der reicheren Serben abgespalten. Sogar in Quebec, wo die Bevölkerung schon zweimal über die Unabhängigkeit von Kanada abgestimmt hat, treibt die deutlich ärmere Region den Vorgang voran. Im zweiten Anlauf scheiterte die frankophone Bevölkerung nur noch knapp.
Wie Im Baskenland oder Katalonien stehen meist nicht finanzielle Fragen im Vordergrund
Diese Beispiele zeigen schon an, dass die gern verbreitete These der New York Times falsch ist oder viel zu kurz greift. Auch in den Fällen wie in Flandern und Katalonien, auf die sie zuzutreffen scheint, stehen meist andere als finanzielle Fragen im Vordergrund. Klar ist aber, dass in der schweren Wirtschaftskrise wie in Spanien die Widersprüche stärker werden. Auf die Tagesordnung wurde die Frage der Unabhängigkeit aber deutlich vor der Krise im wirtschaftlichen Boom (Aufstand der Zwerge).
Dass auch die Unabhängigkeitsbewegungen im Baskenland immer stärker werden, hat seine Wurzeln im Putsch der Generäle um Franco 1936 und hängt auch mit der mangelnden Aufarbeitung der Jahrzehnte der Diktatur zusammen. Denn Basken und Katalanen fanden sich einst in der spanischen Republik wieder, die das Selbstbestimmungsrecht beider Nationen anerkannte. Sie verteidigten die Republik im Bürgerkrieg bis 1939 gegen die Putschisten. Spanien hat nach dem Tod des Diktators aber eine historische Chance verpasst. Statt der Republik wurde die Monarchie restauriert. An der Spitze steht noch heute der vom Diktator als Nachfolger bestimmte König Juan Carlos als Staatschef, der zudem Chef der Streitkräfte ist.
Zwar wurden den Nationen schließlich Autonomierechte eingeräumt, doch schnell ging das Gezerre mit Madrid los, weil viele Kompetenzen nie übertragen wurden. Als die Katalanen 2005 mit 90 Prozent der Stimmen im Parlament in Barcelona ein neues Autonomiestatut verabschiedeten, drohte gar das Militär erneut mit Putsch. Die beabsichtigte Wirkung trat ein, das Autonomiestatut wurde schon auf dem parlamentarischen Weg in Madrid verstümmelt. Der sozialistische Präsident der Verfassungskommission, Alfonso Guerra, sprach vom "Abhobeln". Dabei hatte sich der damalige sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero verpflichtet, einen Entwurf unverändert durchzuwinken, wenn sich die Katalanen mit großer Mehrheit auf einen Text einigen.
Doch der Volkspartei (PP) war dieser Hobel noch zu fein. Die vom Franco-Minister Manuel Fraga Iribarne gegründete Partei, der im Januar verstarb, klagte das Statut weiter vor dem Verfassungsgericht nieder. Ein Gericht, wegen seiner Besetzung mit fragwürdiger Legitimität, kippte 2010 weitere wesentliche Teile aus dem Statut, das die Katalanen trotz der Hobelei 2006 in einem Referendum mit 74% angenommen hatten. Katalonien darf nicht mehr im ersten Artikel als "Nation" bezeichnet werden, die katalanische Sprache wurde nicht für Richter, Militärs und Beamte zur Pflichtübung. Katalanisch sollte nicht bevorzugt werden. Erstmals kam es danach zum massiven Aufschrei und mehr als eine Million Menschen gingen in Barcelona auf die Straße (Über eine Million für die Unabhängigkeit Kataloniens).
Dieser Unmut wurde noch größer, als zudem 2011 erneut auf Antrag der PP der richterliche Hobel an der katalanischen Sprache angesetzt wurde. An der Frage ihrer Sprache ist mit den Katalanen nicht zu scherzen. Gegen alle Autonomierechte wurde entschieden, dass Spanisch wieder gleichberechtigt zum Katalanisch unterrichtet werden soll. Der konservative katalanische Regierungschef Artur Mas warnte damals die spanischen Konservativen, dass damit eine "rote Linie" überschritten werde. Aus all diesen Vorgängen resultiert, dass letztlich am Nationalfeiertag kürzlich fast zwei Millionen Menschen auf die Straße gingen und eindeutig für "einen neuen Staat in Europa" demonstrierten.
Mas versuchte noch, diesen Unmut so umzulenken, damit die Region endlich ein Finanzierungssystem erhält. Es könne nicht sein, dass die Region, die mit 20% überdurchschnittlich zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt, nicht genug Geld erhält, um über die Runden zu kommen. Deshalb ist Katalonien die mit 42 Milliarden Euro am stärksten verschuldete Region im spanischen Staat. Nachdem sich der rechtskonservative spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy weigerte, die Finanzierungsituation in Katalonien zu verbessern, kündigte auch Mas "Entscheidungen von großer Tragweite" an. Schließlich setzte er vorgezogene Neuwahlen für den 25. November an. Er will sich damit wie Salmond in Schottland vor einem Jahr, die Legitimierung für die angestrebte Abstimmung über die Unabhängigkeit holen.
Katalanen sollen nach dem spanischen Kulturminister "hispanisiert" werden
Den Katalanen ist definitiv der Kragen geplatzt. Sie wollen sich mühsam erkämpfte Autonomierechte nicht noch weiter aushöhlen lassen. Dass soll nun geschehen, weil sie wegen ihrer ungenügenden Finanzierung fünf Milliarden Euro beim staatlichen Rettungsfonds (FLA) beantragen mussten, um auslaufende Anleihen refinanzieren zu können. Während Spanien sich einerseits dagegen wehrt, dass Brüssel im Rahmen eines Rettungsantrags die Souveränität ausgehöhlt und das Land kontrolliert, will Madrid andererseits über den FLA noch tiefer in Katalonien hineinregieren. Dabei wären die Katalanen wie die Basken kaum verschuldet, wenn sie ebenfalls ein angemessenes eigenes Finanzierungssystem hätten. Dass die Postfaschisten der PP weiter an der Re-Zentralisierung des Staates arbeiten, verhüllen sie ohnehin kaum. Kultusminister José Ignacio Wert sorgte am Mittwoch für Aufregung, als er offen den Diskurs anschlug, den die Katalanen und Basken aus den langen Jahren der Diktatur gewohnt waren. Er will Katalonien "hispanisieren" und die "katalanischen Schüler spanischer machen". (Praktisch alle Fraktionen hielten ihm seinen Diskurs vor, der auf Zeiten vor der Verfassung zurückgeht und sogar die Sozialisten fordern seinen Rücktritt.
Das sind die Entwicklungen, die letztlich in Katalonien dazu gebracht haben, um Spanien zu verlassen, dessen politische Führer - ob sozialistisch oder konservativ - in der Krise deutlich versagt haben. Es ist erstaunlich, dass nun die Regierung einräumt, ohne Katalonien könne "Spanien nicht im Euro bleiben", wie Justizminister Alberto Ruiz Gallardón am Montag sagte. Dabei wurde Jahrzehnte behauptet, Katalonien sei eigenständig nicht lebensfähig. "Ein unabhängiges Katalonien als Hypothese trennt nicht Katalonien von Spanien ab, sondern setzt Spanien ein Ende."
Doch das ist keine Erkenntnis, aus der man Konsequenzen ziehen würde, um den bedeutsamen Regionen mehr Mitbestimmung zu geben. Anders als in Deutschland gibt es in Spanien keinen Bundesrat, über den dies wenigstens teilweise möglich wäre. Es ist eine Warnung. Und es sind spanische Politiker, die Regionen immer mehr Vorschriften machen wollen, wie sie wirtschaften und welche Politik sie machen sollen, obwohl Katalonien und das Baskenland nachweislich erfolgreicher sind und nachhaltiger wirtschaften. Deshalb kommen sie wesentlich besser durch die Krise, besonders das Baskenland mit der eigenen Finanzierung, wie deutlich niedrigere Arbeitslosen‑ und Verschuldungsquoten zeigen.
Dass man arme Regionen in Spanien oder in Europa solidarisch unter die Arme greifen muss, daran haben Basken und Katalanen nie einen Zweifel gelassen. Doch dass in der Krise ausgerechnet die große Schere an den Sozialleistungen angesetzt wird und die einfache Bevölkerung zur Kasse gebeten wird, kritisiert in beiden Regionen die große Mehrzahl der Menschen. Basken und Katalanen sehen zum Beispiel nicht ein, warum man sich nicht das Königshaus erspart und warum marode Banken gerettet werden, die zudem für die Krise eine besondere Verantwortung tragen. Kritisiert werden auch die Kriegseinsätze, für die sie zur Kasse gebeten werden, obwohl in beiden Regionen beim Referendum den Beitritt Spaniens zur Nato mehrheitlich abgelehnt haben.
Interessant ist, wie man in Vereinten Königreich oder im Königreich Spanien mit den Bestrebungen umgeht. Während sogar die konservativen Briten keine größeren Probleme damit haben, die Schotten in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts entscheiden zu lassen, hat Spanien panische Angst davor. Spanien hat auch den Kosovo nicht anerkannt, weil damit die Argumente gegenüber Basken und Katalanen noch schwächer wurden. Einst wollte der PP-Ministerpräsident Aznar sogar die in den Knast bringen, die eine entsprechende Abstimmung durchführen ("Alle ins Gefängnis?).
Nicht viel besser verhielt sich aber der Sozialist Zapatero. Seine PSOE verbot mit Unterstützung der PP sogar, dass die Basken 2008 nach dem Plan des baskischen Ex-Regierungschefs Ibarretxe über den "freiwilligen Anschluss an Spanien" abstimmen durften. Erneut haben beide großen spanischen Parteien am Dienstag ihre Stimmen im Parlament vereint, um zu verhindern, dass Katalonien ein Referendum durchführen kann. Es wurde verweigert, die entsprechenden Kompetenzen an die katalanische Regierung zu übertragen. Dass damit der Vorgang noch aufzuhalten ist, darf bezweifelt werden. 2014 könnte auch Katalonien über seine Unabhängigkeit abstimmen. Es handelt sich um den 300. Jahrestag, an dem Katalonien im Rahmen des Erbfolgekriegs seine Eigenständigkeit verlor und unter die Herrschaft der Bourbonen fiel.