Belgiens Staatskrise vertieft sich
Seit April hat die belgische EU-Präsidentschaft keine Regierung mehr und die Dauerkrise weitet sich in dem zerfallenden Land weiter zur Staatskrise aus
Als Belgien am 1. Juli turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft von Spanien übernommen hat, musste der Christdemokrat Yves Leterme geschäftsführend auch dieses Amt übernehmen. Doch auch vier Monate nach den Wahlen ist keine Regierung in Belgien in Sicht. Hochrangige Vermittler haben erneut unverrichteter Dinge ihre Mission aufgegeben und so wird Leterme die EU-Präsidentschaft kommissarisch abschließen. Der klare Wahlverlierer könnte noch lange Regierungschef bleiben, während sich die Regierungskrise in dem zerfallenden Land weiter zu einer massiven Staatskrise ausweitet. Inzwischen richtet sich aber der nervöse Blick der Finanzmärkte auch auf Belgien. Die Risikoaufschläge bei Staatsanleihen steigen und damit die Refinanzierungskosten, schließlich gehört das Land zu den am höchsten Verschuldeten im Euroraum, womit das Land bald neue ernsthafte Probleme bekommen könnte.
Die EU fällt bei den turnusgemäßen Präsidentschaften vom Regen in die Traufe. Nach dem Chaos in Tschechien, als mit dem Sturz der Regierung auch ein neuer EU-Präsident (Klaus und die Post-Demokratie) kam, sorgte zwar Schweden sechs Monate für etwas Stabilität. Doch dann tauchte mit Spanien die Präsidentschaft zum Jahresbeginn in die Versenkung ab (Das abwesende Spanien gibt die EU-Präsidentschaft ab). Mit der Übergabe an Belgien hat sich die Tauchfahrt beschleunigt. Wäre da nicht zufällig mit dem neuen ständigen Ratspräsident Herman Van Rompuy ein Belgier im Amt, würde man Belgien wohl nicht mit der Ratspräsidentschaft in Verbindung bringen.
Der derzeitige geschäftsführende EU-Chef Leterme überlässt seinem Landsmann und Parteigänger das Feld vollständig. Doch das führt nicht dazu, dass sich die chaotische Lage in und um Brüssel entwirren würde, über die schon seine Regierung gestürzt ist. Wann die unsicheren Zeiten Belgiens beendet werden, darüber lässt sich derzeit nicht einmal spekulieren. Eine handlungsfähige Regierung, die dringende Entscheidungen treffen könnte, ist derzeit nicht in Sicht. Inzwischen wird angesichts der sich ausweitenden Staatskrise die Frage in den Medien immer deutlicher gestellt, ob es nicht an der Zeit wäre, sich auf ein Ende Belgiens vorzubereiten? In Belgien ist die definitive Auflösung des Staates nicht mehr auszuschließen.
Schon mehrfach ist der Versuch gescheitert, eine Regierung zu bilden. Das Staatsoberhaupt König Albert II. hatte zuletzt im September den Rückzug des Chefs der frankophonen Sozialisten (PS), Elio Di Rupo, vom Amt des "Préformateur" gebilligt, nachdem auch dessen Vorverhandlungen zur Bildung einer Regierung gescheitert. Ernannt hat der Monarch danach den Sozialisten und Präsidenten der Abgeordnetenkammer André Flahaut und den Senatspräsident Danny Pieters von den flämischen Nationalisten, die ebenfalls vergeblich nach Wegen gesucht haben, um in den Verhandlungen eine Regierung zu bilden. Nach deren Rückzug macht sich im Land inzwischen Entsetzen breit. Es wird befürchtet, dass die Verhandlungen nun endgültig gescheitert sein könnten und die Staatskrise in eine neue Dimension eintritt.
Die Lage zwischen den zerstritten Blöcken ist offensichtlich zu verfahren und das verhindert, dass der klare Wahlsieger der Neuen Flämischen Allianz (N-VA) mit den wallonischen Sozialisten eine Regierung bilden kann. "Für mich ist diese Sache jetzt beendet", erklärte der N-VA-Chef Bart De Wever. Er plädiert dafür, "bei Null" mit den Verhandlungen neu zu beginnen. "Hören wir auf, uns im Kreise zu drehen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn man mir dafür den Schwarzen Peter zuschieben will, dann soll man das halt tun", sagte er selbstbewusst. "Wir wollen uns nicht an diesem Kinderspiel beteiligen."
Tatsächlich wird die Schuld am Scheitern der Verhandlungen in deutschen Medien vor allem der N-VA zugeschoben. Bisweilen wird noch erwähnt, dass auch die Christdemokraten von Leterme und Rompuy die Gespräche blockiert hätten. Kolportiert worden war zuvor, dass die Verhandlungen um die wesentlichen Streitpunkte schon sehr weit gediehen seien. Es soll in den Fragen der Staatsreform, mit der die Regionen mehr Kompetenzen erhalten sollen, ebenso weitgehende Übereinstimmung erreicht worden sein, wie bei den milliardenschweren Transferleistungen in die südliche Wallonie, die beschränkt werden sollten. Nun wird viel Kaffeesatzleserei betrieben. Die flämischen Separatisten hätten nie ernsthaft eine funktionsfähige belgische Regierung gewollt, wird behauptet. Andere vermuten einen Machtkampf, in dem De Wever nicht zu nachgiebig wirken wolle.
Dabei können keine konkreten Vereinbarungen vorgezeigt werden. Zum Beispiel keine Zustimmung der PS zur Forderung der N-VA, dass der jeweilige Landesteil die Verantwortung für wenigstens 50% der Einnahmen und Ausgaben übernimmt. Dazu hatte die N-VA ein Ultimatum gestellt. Eine definitive Einigung, wie mit dem Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde umgegangen wird, dessen Auflösung niemand anderes als das Verfassungsgericht angeordnet hat, liegt ebenfalls nicht vor. Der Zankapfel, wie Hauptstadt Brüssel finanziert werden soll, die inzwischen vorwiegend von französischsprachigen Belgiern bevölkert ist, wurde auch nicht beseitigt. Dass die Wallonen weiterhin die Vorrechte über die flämischsprachigen Bürger in den Umlandgemeinden von Brüssel verteidigen, wird auch nur selten erwähnt. Unterschlagen wird meist auch, dass es im wallonischen Block ebenfalls Machtkämpfe gibt. So will die PS unter Elio Di Rupo auch verhindern, dass die wallonischen Liberalen (MR) unter dem derzeitigen Vizepremierminister und Finanzminister Didier Reynders wieder an der Regierung beteiligt werden.
Zeit für eine flämische Republik?
Die MR stellt sich nicht gegen eine Staatsreform, die auch mehr finanzielle Eigenverantwortung der jeweiligen Region vorsieht. So behauptet die N-VA, sie habe den Stecker herausziehen müssen, weil ihr die Zugeständnisse, vor allem von der PS, mehr als Schritte von Gartenzwergen vorkamen. Das Land brauche aber eine wirkliche Reform, erklärte Bart de Wever. "Die N-VA flüchtet nicht vor der Verantwortung, will aber nicht das Opfer der alten belgischen Krankheit werden und sich mit einem schlechten Kompromiss abfinden, nur um überhaupt eine Vereinbarung zu haben." Tatsächlich zeigt sich in Belgien seit einiger Zeit, dass das Modell des kleinsten gemeinsamen Nenners erschöpft ist.
De Wever weiß auch, dass die Zeit für ihn spielt. Aus seinem Ansinnen, Belgien mittelfristig aufzulösen und "eine flämische Republik" aufzubauen, macht er keinen Hehl und das ständige Scheitern der Regierungsbildung treibt offensichtlich auch bei vielen Wallonen die Ansicht voran, dass es gemeinsam nicht mehr geht. Schon vor Jahren wurde im belgischen Fernsehen die Aufteilung simuliert (Zeit der Revanche). Jetzt findet sich im Internet eine Landkarte, auf der Belgien abgeschafft ist, die für großen Wirbel sorgt. Brüssel ist darin die Hauptstadt Flanderns.
Doch die N-VA ist an einem unkontrollierten Zerbrechen des Landes nicht interessiert. De Wever hatte deshalb ja sogar auf die Präsidentschaft Di Rupo angeboten, wenn es zu einer wirklichen Reform kommen würde. Zwischenzeitlich hatte er aber, um zu einer Einigung kommen zu können, vorgeschlagen, eine von der N-VA tolerierte Minderheitsregierung unter Leterme zu bilden. Dessen geschäftsführende Regierung solle sich verkleinern und könne dann als neue Regierung fungieren.
Trotz des erneuten Scheiterns sind nun alle Pflöcke eingerammt. Allen ist klar, dass für eine Regierungsbildung die PS weitere reale Zugeständnisse machen muss, vor allem in Fragen der Finanzierung und im Sprachenstreit im Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde. Dann könnte es auch im kommenden Jahr zu einer handlungsfähigen Regierung kommen, die statt unter dem Namen "compromis à la belge" und dem neuen Namen "compromis wallon-flamand" in die Geschichte eingehen könnte, wie das Belgieninfo schreibt. Dann könnte Di Rupo, Wallone italienischer Abstammung, doch noch Regierungschef werden.
Belgien wird zum Problemstaat
Die Entwicklungen an den Finanzmärkten dürften die Regierungsbildung in den nächsten Wochen ebenfalls beschleunigen. Ausgehend von der schweren Krise in Irland, das wegen der Bankenrettung auf eine Pleite zusteuert, die dem Land in diesem Jahr sogar ein Haushaltsdefizit von über 30% bescheren wird, steigt die Nervosität an den Finanzmärkten. Neben Griechenland, Portugal und Spanien rückt auch verstärkt Belgien ins Rampenlicht. Das ist nicht verwunderlich, denn die Finanzierungsprobleme in dem Land haben längst dazu geführt, dass sich Belgien 2009 mit fast 97% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei der Staatsverschuldung abgeschlagen in der Spitzengruppe mit Italien (115,8%), Griechenland (115,1%) steht.
Das Land wird dieses Jahr die magische Schwelle von 100% überschreiten und verliert, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) meint, zunehmend an Handlungsspielraum (IWF warnt vor hohen Staatsschulden). Die Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung liegt deutlich über der, die angebliche Problemländer wie Portugal (77%) oder Spanien (53%) 2009 ausgewiesen haben. Im Rahmen der Irland-Krise steigen nicht nur die Risikoaufschläge für Staatsanleihen Irlands, Portugals und Spaniens, sondern auch Belgien kommt die Verschuldung zunehmend teurer. Der Aufschlag gegenüber den zehnjährigen deutschen Anleihen ist inzwischen auf fast 1% angewachsen. Schon Ende September musste das Land höhere Renditen bieten, als Anleihen am Markt platziert wurden. Der von Experten geschätzte Aufschlag von 10 bis 15 Basispunkten ist mit den Problemen um die Regierungsbildung längst Geschichte.
Noch wird dem Land bei Ratingagenturen eine Kreditwürdigkeit bescheinigt, die besser als die Griechenland, Irlands und sogar Portugals ist, obwohl Belgiens Verschuldung deutlich höher als die von Irland oder Portugal ist. Da aber inzwischen Länder wie Spanien abgestuft werden, dessen Staatsschuldung im Verhältnis zum BIP sogar nur halb so hoch ist, darf angesichts der politischen und fiskalischen Probleme bald mit einer Reaktion der Ratingagenturen gerechnet werden. Noch hält Belgien bei Standard & Poor's (S&P) die drittbeste Note "AA", auf die Spanien unlängst von S&P zurückgestuft. Nimmt die internationale Nervosität zu, dürften sich bald auch massiv Spekulanten auf das Land stürzen. Dann könnte es, angesichts der hohen Verschuldung, in ernsthafte Bedrängnis kommen.