"Kaum Schlimmes an dem Begriff 'islamisch'"

Krieg in Syrien: Hauptsache Gotteskrieger? Wie sieht der "islamische Stempel" eigentlich genauer aus, den alle Rebellenführer vom Westen gleichermaßen aufgedrückt bekommen?

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Die Situation bei den syrischen Rebellen ist amorph, da nichts zentral und alles regional geprägt ist. Während im Ausland noch die Rede von Jabhet al-Nusra ist, wird diese im Inland partiell schon wieder abgedrängt. Andere Formationen bilden sich; einige koalieren in einer losen "islamischen Allianz"; ein neuer Dachverband nennt sich "Armee des Islam" . All dies kann sich morgen wieder umschichten. Eine Tendenz aber ist klar: Syriens Rebellenverbände lassen das Chaos ihrer Anfangszeit hinter sich, organisieren sich besser - und selbstbewusster.

So sagte sich die "islamische Allianz" unlängst von dem vom Ausland umhegten Oppositionsbündnis - der Nationalen Koalition - offiziell los.

Bei all diesen Umbrüchen tauchen immer wieder die Namen bestimmter Milizenführer auf. Es handelt sich ausnahmslos um Syrer, die sich dem bewaffneten Aufstand früh angeschlossen haben. Ins öffentliche Bewusstsein katapultierte sie jedoch erst der von Qatar finanzierte Nachrichtensender Al Jazeera: Im Frühsommer stellte er die Männer in einer aufsehenerregenden Interviewreihe vor.

Der Zeitpunkt für diese PR-Offensive war kaum zufällig gewählt: Kurz zuvor hatte die schiitische Hizbollah dem syrischen Regime zu entscheidenden Siegen verholfen. Das sunnitische Gegenlager wurde indes nicht nur vor der Kamera aktiv: Arabischen Medien zufolge wurde hinter den Kulissen längst ein Masterplan zur Neusortierung der gesamten Rebellenszene erarbeitet. Der Krieg in Syrien hat offenkundig eine neue Etappe erreicht.

Damaskus auf der Jagd nach den neuen Milizenchefs

Das weiß freilich auch Damaskus - und sucht entsprechend fieberhaft, die neuen Milizenchefs wieder auszuschalten. Bei einem von ihnen gelang dies bereits: Am 17. November erlag Abdel Qader al-Saleh, der Führer der Aleppiner Tawhid-Brigade, den Verletzungen infolge einer Angriffsserie von Regierungstruppen.

Abdel Qader al-Saleh; Ausschnitt aus dem Al-Jazeera-Interview

Ein schwerer Schlag für die Opposition - und möglicherweise auch für das Regime selbst: Der überaus populäre Saleh galt als eine der pragmatischsten und deshalb wohl auch verhandlungsfähigsten Figuren in der Rebellenszene. Es ist nicht auszuschließen, dass seine mannstarke Brigade nach seinem Tod ins Extremistische kippt.

Telepolis stellt in loser Folge die wichtigsten Gruppierungen und ihre Führer vor. Den Auftakt bilden Liwa' al-Tawhid mit Abdel Qader al-Saleh in Aleppo-Stadt und Liwa' al-Islam mit Zahran Alloush im Großraum Damaskus. Letzterer gilt vielen bereits jetzt als Syriens einflussreichster Rebellenchef.

Aleppo-Stadt: Liwa‘ al-Tawhid, der Hass der Bevölkerung und Gegenreaktionen

Die im Juli 2012 gegründete Gruppierung beteiligte sich vehement an der Schlacht um Aleppo. Dort ist sie bis dato aktiv und nicht zuletzt mit der Verdrängung anderer Brigaden befasst. So unterzeichnete Liwa‘ al-Tawhid jüngst Aufrufe, die die al-Qaida-nahen Jabhet al-Nusra und ISIL in ihre Schranken (und am liebsten aus dem Land) weisen. Parallel hält die Gruppierung Ausschau nach angesagten Verbündeten und schloss sich der Armee des Islam sowie der "islamischen Allianz" an.

Al Tawhid verfügt landesweit über ca. 11.000 Kämpfer, die in 29 Regimenter unterteilt sind, von denen jedes u.a. militärische, administrative und juristische Abteilungen aufweist. Ein beachtlicher Fortschritt, denkt man an jenes wüste Brigadenkonglomerat zurück, als das Liwa‘ al-Tawhid begann.

Doch die Anfangsfehler lassen sich nur schwer ausbügeln: Übergriffe auf Leben und Besitz der Einwohner Aleppos haben die Männer in der Bevölkerung verhasst gemacht.

Entsprechend karitativ gibt sich die Gruppierung mittlerweile: Pünktlich zum neuen Schuljahr eröffnete Liwa‘ al-Tawhid diesen Herbst Lehreinrichtungen in den von ihr kontrollierten Teilen Aleppos.

Auch in punkto Kämpferauswahl soll ein neuer Ton herrschen: Angeblich akzeptiert die Brigade in ihren Reihen nurmehr Kämpfer mit vorzugsweise syrischer Herkunft zwischen 18 und 24 Jahren, die zudem ein Leumundszeugnis von Angehörigen oder Vorgesetzten erbringen müssen.

Wer bezahlt?

Wer diese und andere Aktivitäten Liwa‘ al-Tawhids steuert, ist unklar. Grundsätzlich gilt die Gruppierung als der Muslimbruderschaft nahe stehend, womit sich Qatar als Hauptfinancier anböte. Allerdings berichten Tawhid-Mitglieder auch von saudischen Finanzspritzen - obgleich Saudi-Arabien nicht eben als Freund der Muslimbrüder gilt. Die Feststellung, dass die Lage auch in punkto Gelder fluktuiert, dürfte daher der Wahrheit wohl am meisten entsprechen.

Der militärische Kopf und sein Erbe

Als militärischer Kopf von Liwa' al-Tawhid fungierte bis zu seinem Tod vor zwei Wochen der 33-jährige Syrer Abdel Qader Saleh. Wie viele Zivilisten hatte sich der ehemalige Honighändler dem bewaffneten Aufstand angeschlossen und es aufgrund seiner Führungsstärke, Volksnähe und seines Charismas rasch zu beträchtlichem Einfluss gebracht. Qader Saleh war der militärische Führer der Liwa' al Tawhid.

Der formale Führer der Brigade, Abdelaziz Salame, angeblich ebenfalls bei den Angriffen Mitte November verletzt, wird immer wieder erwähnt. Seine Bedeutung wird von Experten aber in den Schatten von Qader Saleh gestellt.

Nach Salehs Tod ist sehr ungewiss, wie die Frage nach dem Führer der Liwa' al-Tawhid beantwortet wird, die als eine Art Dachorganisation für viele regionale Milizen fungiert. Spekuliert wird, dass sich die Liwa‘ al-Tawhid aufspaltet und in Teilen extremer wird.

Aus einem 30-minütigen Interview, das Abdel Qader al-Saleh Mitte Juni Al Jazeera arabisch gegeben hat, sowie aus offiziellen Erklärungen von Liwa‘ al-Tawhid lassen sich folgende Positionierungen herauslesen.

Gottesstaat? "Kaum Schlimmes an dem Begriff 'islamisch"'

Die Vorgeschichte der Gruppierung in dieser Frage ist widersprüchlich und ein Zeugnis der amorphen Gesamtsituation: Im November 2012 gab Liwa‘ al-Tawhid mit anderen, im Großraum Aleppo agierenden Rebellengruppierungen bekannt, dass sie sich für eine islamische Herrschaft ausspricht.

Letzteres besagt an sich wenig, da vieles in Syrien derzeit den islamischen Stempel trägt. Dennoch wurde es den Beteiligten als Aufruf zum Gottestaat ausgelegt. Schockwellen rasten infolge durch das Ausland und die Brigaden mussten um ihre Geldgeber im Golf und im Westen bangen. Also wurde stande pedes um- und eingelenkt.

So war der Militärkommandant Abdel Qader al-Saleh kurze Zeit darauf erneut vor die Kamera und vor ausgewechselte Requisiten getreten - die schwarze Flagge der islamischen Herrschaft war kurzerhand gegen das Logo von Liwa‘ al-Tawhid eingetauscht worden - und hatte verkündet, es sei lediglich ein "gerechter Staat" "auf der Basis der Gesetze Gottes" gemeint. Auch dies kann alles und nichts heißen, klingt jedoch weniger brisant als "islamischer Staat".

"Kaum Schlimmes an dem Begriff 'islamisch"'. Qader al-Saleh, aus dem Al-Jazeera-Interview

Seither hält sich Liwa‘ al-Tawhid an diese moderate, und im übrigen unter nahezu allen wichtigen syrischen Brigaden derzeit verbreitete Terminologie. In dem Interview, das er diesen Juni Al Jazeera gab hatte Saleh lediglich nachgesetzt, dass kaum Schlimmes an dem Begriff "islamisch" sein könne, schließlich führten manche Parteien ein "christlich" in ihrem Namen, um ihrer Identität stolzen Ausdruck zu verleihen.

Dasselbe soll auch Muslimen vergönnt sein, zumal wir niemandem etwas aufzwängen und die Angehörigen von Minoritäten als gleichberechtigte Bürger behandeln wollen.

Es ist freilich zu früh, um aus diesen Worten Schlüsse zu ziehen.

Auffällig ist lediglich die Art, wie Saleh sie sagt: Anders als der nachfolgend vorgestellte Zahran Alloush etwa wirkte Saleh nie angespannt, sondern äußerte alles mit Charisma und im menschelnden syrischen Dialekt - ganz so, als sei es ihm in eben diesem Moment spontan eingefallen. Dies schien darauf hindeuten, dass der ehemalige Händler Saleh ein gehöriger Pragmatiker war.

Distanz zum Westen, Distanz zu al-Qaida

Gegenüber Al Jazeera betonte Saleh, dass man das Land nach dem Sturz Baschar al-Assads niemandem überlassen dürfe, der womöglich "noch schlimmer" sei. Wen er damit meinte, verriet er nicht.

Allerdings distanzierte sich seine Brigade inzwischen sowohl von al-Qaida als auch von der vom Westen propagierten politischen Opposition.

"Kein Salafist", aber für die Anwendung der Scharia

Saleh war kein Salafist, aber überaus konservativ und sprach sich für die Anwendung der Scharia aus. Dies überrascht wenig: Auf dieser basieren schon seit den Osmanen zahlreiche Belange der syrischen Rechtsprechung. Die Frage ist daher nicht, was de jure, sondern was de facto nach einem potentiellen Regimesturz kommen soll. Hierzu gab sich Saleh stets bedeckt, woraus man taktisches Manövrieren schlussfolgern kann.

Oder aber schlichtes Unwissen - immerhin ist nicht zu vergessen, dass Saleh weder Jurist noch Politikwissenschaftler, sondern ein Händler war, der binnen weniger Monate zu einem Kriegsführer mutierte. Auf die Entrüstung über den angeblichen Aufruf zum Gotteststaat im November 2012 hatte er allerdings derart pragmatisch reagiert, dass ihm viele Syrer das Potential eines verhandlungsfähigen Realpolitiker zugetraut haben.