Kein Frieden ohne Aufrichtigkeit

Schon ziemlich auf Abstand: Putin und Scholz vor zwei Wochen in Moskau. Bild: kremlin.ru, CC BY 4.0

Wer den russischen Krieg in der Ukraine beklagt, sollte sich dem Gesamtbild nicht verweigern. Das betrifft die Ursachen, die Akteure, aber auch eine Friedensbewegung, die in Russland derzeit stärker ist, als sie in der Ukraine je war

Es ist Krieg in Europa, und Krieg endet immer in einer Lose-lose-Situation. Wie konnte das passieren? Eine objektive Bewertung wird es erst aus zeitlicher Distanz geben. Aber sicher ist schon jetzt: Dauerhafter Frieden ist nur mit Aufrichtigkeit möglich, und um diese ist es schlecht bestellt. Denn der Westen hat kapitale Fehler gemacht in einer Eskalation, die vor einer Woche noch vermeidbar gewesen wäre.

Zur jüngeren Vorgeschichte gehört, dass die Separatistengebiete Donezk und Luhansk seit Jahren einem Beschuss durch ukrainische Nationalisten ausgesetzt sind – ein militärisch völlig sinnloser Terror gegen die Zivilbevölkerung, nicht selten durch bekennende Neonazis

Dies wurde in westlichen Medien völlig ausgeblendet, aber in Russland eben nicht. Aus dortiger Sicht gab es jedoch noch ein größeres Problem: Die Ukraine wird seit Jahren vom Westen massiv aufgerüstet, soll früher oder später in die Nato integriert werden, sodass man auf lange Sicht die Aufstellung von Raketensystemen an den russischen Grenzen befürchtet, so wie dies in Polen und Rumänien bereits erfolgt ist.

Russland hat dies oft als rote Linie bezeichnet, deren Überschreitung man keinesfalls hinnehmen würde, auch angesichts seiner momentanen militärischen Überlegenheit durch Hyperschallwaffen.

Das Angebot lag auf dem Tisch

Deswegen wurden der Nato und den USA in einer beispiellosen diplomatischen Initiative Mitte Dezember Vorschläge zu einer nachhaltigen Sicherheitsordnung unterbreitet. Mit Ausnahme von einigen untergeordneten Punkten gab es darauf keine Antwort.

In einer öffentlichen Abstimmung mit Sergej Lawrow wurde dieser dann von Putin nochmals beauftragt, Russlands Sicherheitsanliegen in einem Brief zu bekräftigen. Obwohl die Nato-Mitglieder sogar einzeln angeschrieben wurden, ist von einer Reaktion nichts bekannt. Die westliche Diplomatie beschränkte sich auf das Arrangieren von zahlreichen Treffen, inhaltlich war man aber offenbar nicht bereit, Putin zuzuhören.

Stattdessen dominierte im Westen die Empörung über die Drohkulisse, die Russland aufgebaut hatte. Selbstverständlich hatte das Militär auch Pläne für eine Invasion ausgearbeitet, bis vor zehn Tagen deutete jedoch nichts darauf hin, dass Putin diese tatsächlich ausführen wollte. Allerdings sollte es nun endlich zu Fortschritten bei der Umsetzung des Minsker Abkommens kommen, welches die Ukraine von Anfang an torpediert hatte, sogar durch öffentliche Erklärungen.

Versprechungen über entsprechende ukrainische Schritte, wie sie von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 15. Februar in Aussicht gestellt wurden, erwiesen sich als heiße Luft. Stattdessen wurden weitere Waffen an die Ukraine geliefert und der Beschuss auf den Donbass verstärkt. Es ist sicherlich nicht falsch zu sagen, dass der Westen Putins Geduld hinsichtlich des Minsker Abkommens überstrapaziert hat.

Warum ist eine Anerkennung aggressiv?

Wahrscheinlich hat aber auch Putin die Geduld seiner eigenen Regierung und Bevölkerung überstrapaziert. Als die Duma am 15. Februar mit überwältigender Mehrheit für die Anerkennung der Donbass-Republiken stimmte, bezeichnete dies Putin noch als Vorschlag, über den der Präsident zu befinden habe. Die Republiken erhöhten nun den Druck mit einer Evakuierungsaufforderung, und es wurde klar, dass zehntausende Flüchtlinge, die nun in die Region Rostow am Don strömten, kein Dauerzustand wie in den letzten acht Jahren sein konnten. Was auch immer Putin geplant hatte, die Anerkennung war schon rein innenpolitisch für ihn unausweichlich.

Im Übrigen stellt sie mitnichten einen aggressiven Akt dar. Man darf von einem Vertrag zurücktreten, den der andere Teil jahrelang ignoriert hat. Der Westen spricht heute über die Verletzung von "territorialer Integrität", einen Begriff, der in der politischen Sprache überhaupt noch nicht existierte, als Helmut Kohl beispielsweise im Jugoslawien-Konflikt Slowenien und Kroatien anerkannte.

Um Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht von ethnischen Gruppen scheint es überhaupt nicht mehr zu gehen. Aber das ist nur einer der vielen doppelten Maßstäbe, die der Westen an das Völkerrecht angelegt. Jeder US-amerikanische Präsident kann beliebig viele Bomben auf etliche Länder werfen, ohne dass davon überhaupt Notiz genommen wird. Der von Russland mit den Donbass-Republiken abgeschlossene Vertrag berechtigt hingegen zumindest formal zur Gegenwehr im Falle eines Angriffs.

Wie man auch immer das beurteilt, war jedoch vollkommen klar, dass die Rede Putins am 21. Februar zur Anerkennung eine allerletzte Warnung war, den Granatenbeschuss auf Donezk, den auch die OSZE dokumentiert hatte, einzustellen. Schon im April letzten Jahres hatte Putin geäußert, dass ein Angriff auf den Donbass ein Ende der Staatlichkeit der Ukraine zur Folge hätte. Die Haltung war bis dahin völlig rational und durchaus vorhersehbar.

Hauptsache Feindbild

Schon früher stand bei Telepolis, wie realitätsfremd die küchenpsychologische Charakterisierung des russischen Präsidenten in den westlichen Medien ist. Die Evidenz sagt zwar das Gegenteil, aber nehmen wir mal einfach rein hypothetisch und nur zum Zweck des Diskurses an, Putin sei tatsächlich der psychisch verletzte, durch den Niedergang des Sowjetreichs gedemütigte, unberechenbare und hinterhältige Möchtegernzar, als der er so gerne porträtiert wird.

Kann man dann den Umgang unseres Bundeskanzlers Scholz mit ihm als klug bezeichnen? Scholz fährt nach Moskau, erhält von Putin mutmaßlich einige Stunden Geschichtsunterricht, hat dann aber in der Pressekonferenz plötzlich vergessen, dass es schon mal einen Krieg in Jugoslawien gab. Nun ja, so Scholz, damals mussten die Nato-Bomben ja einen Genozid verhindern (den, nur nebenbei, sein Parteikollege Scharping teilweise erfunden hatte).

Putins folgende Bemerkung, für Russland sei der Beschuss des Donbass auch ein Genozid, findet Schulz dann "lächerlich". Bravo. Ein Deutscher, dem jemandem mit Herkunft aus Leningrad erklärt, was ein Genozid ist und was dagegen noch nicht so schlimm – das ist sicher die Art von Humor, die man in Russland schätzt.

Wenn also Putin wirklich der reizbare, emotionale Impulsmensch wäre, müssten die Apologeten dieser Sichtweise eingestehen, dass Scholz vielleicht seinen Anteil am Kriegsausbruch hat.