Kein Platz im Hotel Amerika

Seite 2: Im Exil

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Am 1. August 1919 trat der von Kommunisten und Sozialdemokraten gebildete Revolutionäre Regierende Rat zurück. Am 6. August putschten rechtsgerichtete Offiziere und leiteten so das blutige Ende der Räterepublik ein. Über die Zahl der Opfer gibt es nur Schätzungen. Die faschistischen Weißgardisten sollen 5000 Menschen getötet und mehr als 70 000 in Gefängnisse und Internierungslager gesteckt haben, in denen weiter gefoltert und gemordet wurde. Johann Leitner berichtete darüber in seinem Aufsatz "Der weiße Terror in Ungarn", der im Februar 1920 in der Zeitschrift Junge Garde erschien. Er war nach Wien geflohen, wohin ihm seine Geschwister bald folgten. János schreibt, dass es auch dort keine Sicherheit gibt:

Diese weißen Bluthunde kennen kein Asylrecht. Man hat erfahren, dass sie selbst aus Wien Genossen verschleppt und unter den schrecklichsten Martern getötet haben.

Das ist wohl der Grund, warum er den Bericht unter dem Namen "J. Lékai" veröffentlichte. Die Verschleierung der Identität konnte lebensnotwendig sein. Maria machte sich um fast zwei Jahre jünger, als sie sich in Wien anmeldete und als Geburtsdatum den 22. Dezember 1893 angab. Mit Eitelkeit hatte das nichts zu tun. Auf diese Weise war sie weniger leicht als jene Maria Leitner zu identifizieren, die am 19. Januar 1892 in das jüdische Geburtsregister von Varasdin eingetragen wurde.

Maria Leitner (zweite von links, sitzend) 1920 als Jugenddelegierte auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau

János reiste im Frühjahr 1922 im Auftrag der ungarischen KP und des Komintern in die USA. Dort arbeitete er als Chefredakteur des von ihm gegründeten Uj Elöre ("Neuer Vorwärts"), der einzigen linken Tageszeitung für in Amerika lebende Ungarn. Im September und November 1923 druckte der Neue Vorwärts in Fortsetzungen Marias ungarische Übersetzung von The Iron Heel ab, einen Roman des Seewolf-Autors Jack London. The Iron Heel ist die erste der großen Dystopien des 20. Jahrhunderts und genauso lesenswert wie Jewgenij Samjatins Wir (1920), Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells 1984 (1949).

Geschrieben unter dem Eindruck der 1905 von der Armee, der Geheimpolizei und den Todesschwadronen des Zaren niedergeschlagenen Revolution in Russland, ist der im Januar 1908 erschienene Roman auf eine unheimliche Weise prophetisch. Jack London schildert eine faschistische Gesellschaft (bei ihm sind die USA der Jahre 1912 bis 1932 betroffen), als habe er bereits Mussolinis Italien, Horthys Ungarn und Hitlers Deutschland gekannt. Jeder Widerstand wird gnadenlos unterdrückt. Die Herrschenden halten sich eine eigene Gewerkschaft, um die gegen Billiglöhne aufbegehrenden Arbeiter zu spalten. Die Geheimpolizei hat überall ihre Agenten und tötet Regimegegner. Terrorakte werden instrumentalisiert, um Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen durchzusetzen, ohne die der Schutz der Bürger nicht gewährleistet sei. Das Buch ist weiter aktuell.

In The Iron Heel geht die Macht von einer Oligarchie der Kapitalisten aus, die ihre Kriege von einer de facto ihr gehörenden Privatarmee führen lässt. Die Oligarchen leben in einer paradiesischen Stadt, zu der die Proletarier nur als Arbeitssklaven Zutritt haben. In den Straßenschluchten von Chicago bricht schließlich eine Rebellion aus. Man darf wohl annehmen, dass Thea von Harbou The Iron Heel kannte, als sie den Roman Metropolis und das Drehbuch für den Film von Fritz Lang schrieb. Das umstrittene Ende von Metropolis könnte von Harbous Antwort auf Jack London sein, bei dem sich ein Bischof den beißenden Spott des Helden zuzieht, als er fordert, dass sich Kapitalisten und Arbeiter die Hände reichen sollen.

Metropolis

The Iron Heel ist auch deshalb bemerkenswert, weil es einer der ersten von einem Mann verfassten Romane mit einer Ich-Erzählerin ist. Avis Everhard, die Witwe des Revolutionshelden, hinterlässt ein autobiographisches Manuskript. Avis selbst ist verschwunden und wurde wahrscheinlich von den Faschisten umgebracht. Das nimmt bereits das Schicksal Maria Leitners vorweg, die den Roman übersetzt hat.

Diktatoren schmoren in der Hölle

Eines der wenigen Photos, die es von ihr gibt, zeigt Maria mit anderen Jugenddelegierten des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale (Komintern), der im Sommer 1920 in Moskau abgehalten wurde. Dort lernte sie vermutlich Willi Münzenberg kennen. Die Verbindung zu ihm scheint nie abgerissen zu sein. Man weiß, dass er empfahl, Texte Marias in der zu seinem Presseimperium gehörenden A-I-Z (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung) zu veröffentlichen. Möglicherweise wurden ihre Artikel auch in Arbeiterzeitungen in den USA abgedruckt, zum Beispiel in der New Yorker Volkszeitung, zu deren Redaktion János gute Kontakte hatte. Weil nur in Ausnahmefällen noch Unterlagen über gezahlte Honorare vorhanden sind, lässt sich das schwer nachweisen. Um die Autoren vor Verfolgung zu schützen, erschienen die Artikel in linken Zeitungen und Zeitschriften oft anonym.

1921/22 arbeitete sie für den Verlag der Jugendinternationale in Berlin-Schöneberg, einem kosmopolitischen Treffpunkt und Debattierplatz für Linke und KP-Funktionäre aller Nationalitäten. Das bestätigt Luise Kraushaar, die dort Mädchen für alles war:

Maria Leitner war - soweit ich mich erinnere - täglich im Verlag. Ob sie dort angestellt war, weiß ich nicht. Sie saß immer in einem winzigen Zimmer, in das gerade ein Schreibtisch und ein Sessel hineinpassten. [...] Hier arbeitete die kleine zierliche Ungarin, immer auf einem untergeschlagenen Bein hockend. Sie sprach sehr gut deutsch, aber mit starkem Akzent. [...] Sie war wenig gesprächig und arbeitete offenbar sehr intensiv.

1923 erschien im Berliner Axel Juncker Verlag ihre erste Buchveröffentlichung: Tibetanische Märchen, von ihr ausgewählt und (wohl aus dem Englischen) ins Deutsche übertragen. Bestimmt hoffte sie auch auf Leser in Ungarn und anderen Teilen des habsburgischen Vielvölkerstaates, der nun zerfallen war. In Gesellschaften mit einer strengen Zensur gewöhnen sich die Leser daran, auf den unter der Oberfläche versteckten Subtext zu achten. Märchen, die zunächst ganz unpolitisch wirken, waren schon immer gut geeignet, eine Botschaft zu transportieren, die nicht offen ausgesprochen werden konnte, ohne Autoren bzw. Leser in Schwierigkeiten zu bringen.

Tibetanische Märchen

Eines der Themen in Maria Leitners Sammelband ist die Macht und deren Missbrauch. Der Königssohn im Märchen "Der stumme Krüppel" etwa kann sich an seine bisherigen Leben erinnern. Nach einer früheren, 60-jährigen Herrschaft wurde er in der Hölle wiedergeboren und musste 60 000 Jahre lang schlimmste Qualen erdulden. Deshalb will er nicht wieder König werden. Um sich der Herrschaft zu entziehen, "welche zu töten und zu quälen zwingt", tut er so, als sei er behindert. Sein Vater will die Thronfolge sichern und inszeniert eine Hinrichtung, um seinen Sohn zum Einlenken zu zwingen. Einmal fragt der Prinz, ob in der Hauptstadt keine Menschen wohnen. Was nach dem Satz eines Verrückten klingt, findet eine einfache Erklärung. Er habe, so der Prinz, die Stadt für unbewohnt gehalten, weil sich niemand traute, den Herrscher nach einer Begründung für das Todesurteil zu fragen. Maria Leitner, das steht fest, lebte in einer anderen Stadt.

Schwierige Aufgabe: Reise nach Amerika

Mitte der 1920er trat sie einen mehrjährigen Amerika-Aufenthalt an. Ihre dort entstandenen Artikel erschienen in verschiedenen Publikationen des liberalen Ullstein-Verlags, insbesondere in der Monatszeitschrift Uhu. Im Septemberheft 1925 des Uhu heißt es:

Wir haben unsere Mitarbeiterin Fräulein Maria Leitner mit der schwierigen und mutigen Aufgabe nach Amerika geschickt, die dortigen Erwerbsmöglichkeiten, die sich dem Europamüden in erster Linie bieten, durch das Opfer persönlicher Dienststellungen zu studieren.

Und im Augustheft 1928:

Maria Leitner ist für den "Uhu" drei Jahre in Amerika gewesen und hat in etwa 80 verschiedenen Stellungen: als Kellnerin, als Dienstmädchen [...] und vieles andere, Einblicke in das häusliche Leben des amerikanischen Mittelstandes gewonnen, wie sie sonst selten Amerikareisende erhalten [...].

Sie stellte sich also nicht als Journalistin aus Deutschland vor, die eine Artikelserie über die amerikanische Arbeitswelt schreiben wollte, sondern als arme, ungelernte Einwanderin (oder, wenn nötig, als erfahrene Fachkraft mit erfundenem Lebenslauf). So lernte sie - von ganz unten - im Land der Freien und der Gleichen ein Amerika kennen, in dem es sehr wohl soziale Hierarchien und Klassengegensätze gab und das wenig mit dem romantisierten Bild zu tun hatte, das man sich von den USA vielerorts machte. Man kann ihre Texte gut in Verbindung mit Chaplins Modern Times lesen, oder auch mit Der verlorene Sohn, einem einige Jahre später entstandenen Wirtschaftskrisenfilm des stark unterschätzten Luis Trenker, der ähnlich abenteuerlustig und neugierig war wie Maria Leitner. Vieles von dem, was sie vorfand, hatte Jack London bereits in The Iron Heel beschrieben. Dessen überlebensgroße Helden gibt es bei ihr allerdings nicht.

Der verlorene Sohn

Eine ihrer ersten Stationen ist "eine der größten über ganz New York verstreuten Massenabfütterungsanstalten", ein Automatenrestaurant. Dort erlebt sie etwas, das ihr noch oft widerfahren wird: anstelle ihres Namens erhält sie vom Arbeitgeber eine Nummer. Die Gäste erscheinen ihr wie entindividualisierte Roboter, obwohl alle Nationen und Kulturen vertreten sind:

Und doch sind sich alle so ähnlich, wie zwei Brüder sich ähnlich sein können. Sie tragen alle die gleichen billigen Kleider, die gleichen Hemden, die gleichen Ausverkaufsschuhe, sie essen alle jeden Tag die gleiche Tomatensuppe, [...] sie verdienen den gleichen Wochenlohn, sie arbeiten alle gleich schwer, gleich lang. Die Roboter essen meist stehend, oder sie sitzen nur gerade so lange, bis sie die nötigen Kalorien und Vitaminmengen zur Instandhaltung der Maschine zu sich genommen haben. Sie werden von klein auf zu dem Tempo erzogen, das sie, wenn sie in dieser Welt vorwärtskommen wollen, einhalten müssen.

Später wird sie - als Fließbandarbeiterin in einer Schokoladenfabrik, als Tabakdreherin in einer Zigarrenfabrik - weiter eine Welt erforschen, in der das Wohl der Maschinen immer wichtiger ist als das der Menschen, die zu deren Verlängerung geworden sind. Im Automatenrestaurant zeichnet sich das bereits ab:

[...] auch hinter den Automaten stehen unsichtbar in dem schmalen, heißen Gang Automaten. Sie legen Sandwiches auf Teller, immer wieder neue, sie verteilen Kuchen und Kompott. [...] Wir anderen Automaten tragen die schweren Tablette, räumen immer wieder das schmutzige Geschirr ab, das sich alle fünf Minuten auf jedem Tisch von neuem auftürmt. Automaten stehen ganz unten in der Tiefe [...] und waschen Geschirr, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Automaten sitzen an der Kasse und [...] Automaten gehen auf und ab zwischen den Tischen und geben acht, den ganzen Tag, den ganzen Abend, ob die Essautomaten auch ihre Pflicht erfüllen, den ganzen Tag, den ganzen Abend, und essen, schnell essen.

Modern Times

Maria wird Dienstmädchen bei einem reichen Alkoholschmuggler, Scheuerfrau im größten Hotel der Welt und "Verkäuferin" in einem Warenhaus, wo ihre Aufgabe darin besteht, Ladendiebe in flagranti zu erwischen. Dieses Kaufhaus ist die moderne Variante von Charles Dickens' London, und das gruselige Gegenstück zu dem, was Charlie Chaplins Tramp nach Ladenschluss in Modern Times erlebt. Das schlimmste Verbrechen überhaupt ist das Eigentumsdelikt. An den Wänden des Verkaufsraums hängen Bilder von Gefängniszellen und gefesselten Händen, Zeitungsausschnitte mit Berichten über verurteilte Diebe und Warnungen, dass diesen die Deportation droht:

Auf der Balustrade aber steht ein ganzes Heer von Polizisten, unbeweglich, wie Wachspuppen in einem Panoptikum. Sie warten nur auf ein Alarmzeichen, um zum Leben zu erwachen und die Sünder ihrer wohlverdienten Strafe zuzuführen.