Keiner will's gewesen sein: Wenn Militärs auf Zivilisten schießen

Seite 2: Luftschlag von Kundus: Auf Entschädigung warten die Opfer bis heute

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Militärs, die versehentlich Zivilisten abschießen. Politiker, die sich aus der Verantwortung stehlen. Auch in jüngster Vergangenheit finden sich für dieses Muster zahlreiche Beispiele: Am 4. Oktober 2001 stürzte eine russische Passagiermaschine mit 78 Menschen an Bord über dem Schwarzen Meer ab. Nach anfänglichem Leugnen musste die ukrainische Armee zugeben, das Sibir-Flugzeug 1812 irrtümlich während eines Militärmanövers abgeschossen zu haben.

Am 23. März 2007 traf eine Rakete ein weißrussisches Flugzeug mit Hilfslieferungen über Mogadishu und tötete alle 11 Insassen. Verantwortung übernommen hat für den Abschuss bis heute niemand. Und auch die Hinterbliebenen der 298 Toten von Flug MH17, der am 17. Juli 2015 über dem Osten der Ukraine abstürzte, warten bis heute auf Entschuldigungen und Entschädigungen durch die Verantwortlichen.

Auch die Bundesrepublik hat in jüngster Vergangenheit gezeigt, wie wenig man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn das eigenen Militär Zivilisten töten. Zwar haben deutsche Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg keine zivilen Passagiermaschinen mehr abgeschossen, doch liefert der Umgang der Bundesrepublik mit dem Luftangriff von Kundus ein Lehrbeispiel dafür, wie man es in solchen Fällen nicht machen sollte. Bis zu 134 Menschen starben, als Bundeswehr-Oberst Georg Klein am Morgen des 4. September 2009 amerikanischen Kampfpiloten den Befehl gab, Bomben auf zwei Tanklaster zu werfen, um die sich zahlreiche Zivilisten versammelt hatten, um Benzin abzuzapfen.

Hatten Bundeswehr und Bundesregierung den Vorfall zu Beginn noch als einen Akt der Selbstverteidigung und gezielten Angriff auf Taliban ohne zivile Opfer dargestellt, fiel das Konstrukt bald Stück für Stück in sich zusammen. Immer mehr Reports lokaler und internationaler Organisationen, Aussagen der beteiligten Kampfpiloten und schließlich sogar Berichte der NATO widerlegten die offizielle deutsche Darstellung. Am Ende war klar: Eine unmittelbare Bedrohung hatte es nie gegeben. Der zuständige Oberst hatte gegen NATO-Regeln verstoßen, das Bundesverteidigungsministerium mehrmals Informationen zurückgehalten und die Bundesregierung die Öffentlichkeit getäuscht.

Als Franz Josef Jung, der zum Zeitpunkt des Angriffes das Verteidigungsministerium leitete und mittlerweile ins Arbeitsministerium gewechselt war, am 27. November schließlich doch noch zurücktrat, tat er dies - nach eigener Aussage - nicht wegen der Toten, sondern aufgrund des "Medien-Hypes." "Ich kann mir eigentlich keinen Fehler vorwerfen, da haben Sie vollkommen recht", sagte Jung rückblickend im NDR-Interview. Auch Oberst Klein bekam keine Konsequenzen zu spüren. "Es ist die Aufgabe und Pflicht eines Dienstherrn, Menschen, die auch Fehler machen, nicht fallen zu lassen", nahm der damals designierte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Klein kurz nach dem Angriff in Schutz. Ein Ermittlungsverfahren gegen Klein wurde am 19. April 2010 eingestellt. Statt einer Verurteilung erhielt er später die Beförderung zum General.

Am deutlichsten zeigte sich die fehlende Bereitschaft der Bundesregierung, Verantwortung für die Tötung von Zivilisten zu übernehmen, allerdings am Umgang mit den Opfern. Statt Entschädigungszahlungen für die Hinterbliebenen gab es Hilfspakete für bedürftige Familien der betroffenen Region. Die Reaktion auf den opferreichsten Angriff deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg umfasste unter anderem 50 Kilogramm Mehl, 4 Kilogramm Bohnen und eine Wolldecke.

Erst rund ein Jahr später erklärte sich die Bundeswehr im August 2010 dann doch noch bereit, den Familien von 91 Toten und 11 Schwerverletzten als "humanitäre Geste" je 5000 US-Dollar zu zahlen. Ein Eingeständnis von Schuld war damit explizit nicht verbunden. Weitergehende Entschädigungsforderungen der Hinterbliebenen hat der Bundesgerichtshof im Oktober 2016 endgültig abgelehnt. Auf eine Entschuldigung und angemessene Entschädigung warten die Hinterbliebenen des Luftangriffes von Kundus bis heute.