Kennen Sie den anderen nuklearen Krisenherd der Welt?

Eine bleibende Warnung: Verwüstungen nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima in Japan durch die USA 1945. Bild: US Government / Public Domain

Im Moment richtet sich alle Aufmerksamkeit auf den Ukraine-Krieg und die Gefahr eines Atomkriegs dort. Dabei wird ein anderer nuklearer Hotspot übersehen. Über eine gefährliche Eskalationsspirale und ihre Geschichte.

Im Januar stellte das Bulletin of the Atomic Scientists die sogenannte Doomsday Clock, die Weltuntergangsuhr, nur 100 Sekunden vor Mitternacht. Damit steht sie so nah an einer möglichen Apokalypse, die jegliche Zivilisation auslöschen würde, wie niemals zuvor in der Geschichte.

Die Hauptgründe für die globale Bedrohung sind die Klimakrise und die Gefahr eines Atomkriegs. In beiden Punkten werden die Bulletin-Wissenschaftler, darunter elf Nobelpreisträger:innen, im nächsten Jahr keinen Anlass für Entwarnung finden. Im Gegenteil. Die fossile Energiekrise hat im Zuge des Ukraine-Kriegs nicht nur nicht zu einer Beschleunigung der globalen Energiewende geführt, sondern vielmehr zu einem Run auf bisher noch unerschlossene Öl-, Gas- und Kohlereserven.

Auch die atomaren Risiken haben zugenommen. Während westliche Staaten, vor allem die USA, Waffen im Wert von 100 Milliarden Dollar ans ukrainische Militär liefern, droht Russland damit, "zur Verteidigung Russlands und unseres Volkes alle Mittel einzusetzen, die uns zur Verfügung stehen. Das ist kein Bluff", so Wladimir Putin in seiner Ansprache zur Teilmobilmachung Ende September. Es ist offensichtlich, was der russische Präsident damit gemeint hat. Zwei Sätze später wird er noch deutlicher: "Und diejenigen, die uns mit Atomwaffen zu erpressen suchen, müssten wissen, dass sich der Wind auch einmal in ihre Richtung drehen kann."

Es ist tatsächlich nicht auszuschließen, dass Putin im Zuge weiterer militärischer Verluste bis hin zum Überschreiten der "roten Linie" Krim (was allseits als solche angesehen wird) die Zeit für Drohungen für beendet ansieht und glaubt, nur mit dem Einsatz einer Atombombe dem Westen klarmachen zu können, sich von der Ukraine zurückzuziehen.

Auch die Nato hat von Beginn an betont, dass "all options are on the table". Während in westlichen Sicherheitszirkeln nun Eskalations-Szenarien durchgespielt werden und man sich fragt, ob Putin nicht doch blufft, warnen der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan als auch Außenminister Antony Blinken in den USA die Russen vor "schrecklichen" und "katastrophalen" Folgen, sollte Moskau in der Ukraine taktische Atomwaffen einsetzen. Auch das ein klarer Hinweis auf eine nukleare Antwort, die letztlich ins Verderben führen würde.

Aber die Ukraine ist nicht der einzige Ort, an dem sich die Atomkriegsgefahr gerade verschärft. Auch der Streit um Taiwan könnte eine gefährliche Eskalationsspirale mit offenem Ausgang starten, wie Sicherheitsexperte Michael Klare auf TomDispatch in den USA herausstellt. Es gibt zwar keine expliziten Warnungen vonseiten Chinas und den USA, Atomwaffen einzusetzen. Doch die nukleare Drohung lauert deutlich im Hintergrund.

So sagte der chinesische Präsident Xi Jinping im Telefonat mit US-Präsident Joe Biden Ende Juli – als er ihn vor einem Taiwan-Besuch der Kongresssprecherin Nancy Pelosi warnte, der dann trotzdem stattfand, sowie vor jeglicher Unterstützung für die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung –, dass eine Änderung der Taiwan-Politik extreme Konsequenzen haben könne. "Diejenigen, die mit dem Feuer spielen, werden daran zugrunde gehen", versicherte er dem amerikanischen Präsidenten. Eine unbestimmte Warnung sicherlich, die aber den möglichen Einsatz von Atomwaffen offen lässt.

Während des Pelosi-Besuchs in Taipeh feuerte China elf Dongfeng-15-Raketen nahe der Insel ab. Es sind Raketen, die auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Das Gleiche gilt für die Dongfen-17-Raketen, die nach Bildern des chinesischen Staatsfernsehens in der Meeresenge von Taiwan positioniert wurden. Die USA haben im Gegenzug Kampfschiffe wie die USS Ronald Reagan in nahen Gewässern stationiert. US- wie chinesische Streitkräfte halten nun rund um die Insel immer wieder Militärmanöver ab. Für Beobachter wie Michael Klare eine gefährliche Zuspitzung der Lage:

Die implizite Botschaft auf beiden Seiten: Ein Atomkrieg könnte möglich sein. Und obwohl die amerikanischen Medien – anders als bei Putins Äußerungen – nicht die Art und Weise hervorgehoben haben, wie Taiwan einen solchen Flächenbrand auslösen könnte, ist das Potenzial nur allzu bedrohlich vorhanden.

Wie konnte es so weit kommen?

Wie konnte es so weit kommen? Um das zu beantworten, muss man historisch einen Schritt zurückgehen. In den 1970er Jahren erkannte Washington China als Großmacht an und damit zugleich die "Ein-China-Politik", mit der China Taiwan als Teil des Mutterlands ansieht. Zudem galt die Doktrin der "strategischen Mehrdeutigkeit", die Taiwans Sicherheit und Autonomie garantierte. Danach durften die USA Taiwan zwar defensive Waffen liefern, aber keine offiziellen Beziehungen zur Führung dort unterhalten.

Außerdem hielt man in gewisser Weise den Ball flach, wenn es um einen militärischen Beistand für Taiwan ging. Washington unterließ es, China explizit damit zu drohen, sollte Peking den Status der Insel gewaltsam ändern wollen, während man nur von "großer Besorgnis" im Angesicht eines solchen Szenarios sprach. Das gab weder Taiwan eine amerikanische Beistandsgarantie noch China die Gewissheit, dass bei einem chinesischen Einmarsch die USA einfach daneben stehen bleiben würden. Das habe, so Klare, den Frieden gewahrt und Taiwan sogar geholfen, sich voll zu entfalten.

Doch seit 2018 änderte sich die Sicherheitsstrategie ausgehend vom Pentagon. Um Chinas Einfluss im Pazifik "einzudämmen" – die aufsteigende Wirtschaft- und Militärmacht der Region –, wurde die Insel zunehmend zu einem entscheidenden Faktor für die US-Planer. Der stellvertretende Verteidigungsminister für Sicherheitsangelegenheiten im indopazifischen Raum, Ely Ratner, sagte letzten Dezember im Senatsausschuss:

Taiwan befindet sich an einem kritischen Knotenpunkt innerhalb der ersten Inselkette und verankert ein Netzwerk von Verbündeten und Partnern der USA, das für die Sicherheit der Region und die Verteidigung lebenswichtiger Interessen der USA im Indopazifik von entscheidender Bedeutung ist.

Das hat auch zu einer Änderung der diplomatischen Eckpunkte geführt, die seit Jahrzehnten bestimmend gewesen sind für das Verhältnis der USA zu Taiwan und China. So sagte Biden in einem Fernsehinterview im September, dass man Taiwan bei einem chinesischen Angriff militärisch helfen werde.

Gleichzeitig wurden die diplomatischen Beziehungen zur Inselrepublik vertieft und offizieller, während man Taiwan Waffenlieferungen in Milliardenhöhe versprach. Damit haben die USA die "Ein-China-Politik" faktisch aufgegeben. Seitdem fahren chinesische und US-amerikanische Kampfschiffe regelmäßig durch die Meeresenge von Taiwan, immer mit der Gefahr von nicht-intendierten Zwischenfällen, die schnell außer Kontrolle geraten können.

Für Klare besonders besorgniserregend ist dabei, dass diese Entwicklungen mehr oder weniger unter dem medialen Radar ablaufen. Die provokativen militärischen Aufrüstungen von beiden Seiten werden angesichts des Ukraine-Kriegs kaum öffentlich wahrgenommen und entsprechend der Bedrohung diskutiert. Das erhöhe das Risiko für eine Eskalation bis hin zum Atomkrieg.

Leider finden derzeit keine Verhandlungen zwischen den USA und China statt, um die Taiwan-Frage zu lösen, ungewollte Zusammenstöße in der Straße von Taiwan zu verhindern oder das Risiko einer nuklearen Eskalation zu verringern. Vielmehr hat China nach Pelosis Besuch in Taiwan öffentlich alle Gespräche über bilaterale Fragen, von militärischen Angelegenheiten bis hin zum Klimawandel, abgebrochen.

Genau das braucht es aber dringend, wie auch im Ukraine-Krieg: Gespräche zwischen den beiden Großmächten, um einen Kompromiss auszuhandeln und damit die atomare Bedrohung zu bannen. Ansonsten sind die Chancen sehr hoch, dass die Doomsday-Clock in ein paar Monaten auf einen zweistelligen Sekundenwert vorgestellt wird und wir damit nur noch einen Zündfunken vom totalen Desaster entfernt sind.

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