Kippt die Stimmung? Gibt es in Deutschland eine kritische Masse an Systemverweigerern?
Den DeutschlandTrend kann man so im Hinblick auf die Corona-Krise interpretieren, als gebe es einen Anteil von 10 Prozent an Systemkritikern
Ein Leser hat mich gerade auf einen Text aufmerksam gemacht, den ich vor neun Jahren geschrieben habe. Darin geht es um Computersimulationen amerikanischer Wissenschaftler, mit denen sich berechnen lassen soll, wann in Gesellschaften eine kritische Masse erreicht wird, ab der sich die politische Position einer Minderheit durchsetzt und zur Mehrheitsmeinung wird (Gibt es einen kritischen Punkt, ab dem eine Minderheitsmeinung zur Mehrheitsmeinung wird?).
Veröffentlicht wurde die Studie kurz nach dem Arabischen Frühling, als sich genau dies in einigen Staaten ereignete und Regierungen stürzten, allerdings, mit Ausnahme von Tunesien, mit Folgen, die alles andere als wünschenswert sind.
Aufgrund ihrer sehr vereinfachten Modelle kam die vom Army Research Laboratory geförderte Studie zu dem Ergebnis, dass die kritische Masse bei etwa 10 Prozent der Bevölkerung liegt. Diese 10 Prozent sind aber keine Mitläufer, sondern es muss sich um einen harten Kern von fanatischen Wahrheitsverkündern handeln, die die Wissenschaftler Ideologen oder Missionare nennen.
Nach den Simulationen hängt es nur von der Zahl der "Missionare" oder "Ideologen" ab, ob sie die Mehrheit auf ihre Seite ziehen können, nicht aber vom Netzwerk oder der Gesellschaftsform. Stellen sie weniger als 10 Prozent der Bevölkerung dar, geschieht nicht viel und verbreitet sich ihre Meinung kaum oder gar nicht. Wenn die Missionare allerdings die kritische Grenze von 10 Prozent überschreiten, wird ihre Meinung schnell von der Mehrheit übernommen.
Bei der Interpretation des DeutschlandTrends habe ich gesagt, dass das politische System mitsamt der großen Koalition trotz eines Bevölkerungsanteils von 10 Prozent an "Systemkritikern" weiterhin stabil sei (Das "Merkel-Regime" wankt nicht). Damit kann ich natürlich falsch liegen. Allerdings müssten, wenn man die Zahl der Wahlberechtigten nimmt, die 2019 60,8 Millionen betrug, mehr als 6 Millionen Menschen vom Anti-Corona-und-Freiheits-Mem befallen sein.
Jetzt müsste man nur noch wissen, wie fanatisch diese Systemkritiker sind, die etwa an der Corona-Demo letzten Samstag in Berlin teilgenommen haben, um womöglich bereits eine kritische Masse zu sehen, die das System kippen könnte. Darunter sind in der Tat manche Fanatiker und Wahrheitsverkünder, die auch glauben, es wäre mehr als eine Million Menschen auf der "größten politischen Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik" unterwegs gewesen, was den Samstag zu einem "historischen Tag" mache (20.000 oder eine Million Corona-Protestierende in Berlin? Wer produziert Fake News?).
Zur nächsten Demo am 29.8. wird "Europa" nach Berlin eingeladen. Damit haben sich die Veranstalter unter erheblichen Druck gestellt, die Teilnehmerzahl der letzten Demo, die sie mit 1,3 Millionen angeben, überbieten zu müssen. Zu beobachten wird sein, ob womöglich eine kritische Masse erreicht wird, die die politische Stimmung im Land verändern könnte. Bei den Interviews, die Gaby Weber mit Demoteilnehmern geführt hat, war auffällig, dass viele der Meinung sind, es gebe keine Oppositionspartei, wenn dann wird noch die AfD angeführt ("Ich sehe keine Opposition in der Politik").
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