Klimakrise und gesellschaftliche Transformation in Zeiten von Corona

Seite 2: Verfechter des freien Markts: Zunächst einmal in einer schwachen Position

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Die "Klimafrage" ordnet sich dann in ein ganzes Bündel von essentiellen "Fragen" ein, die sich allesamt durch einer radikale Transformation der Reichtumsproduktion beantworten lassen, genauer gesagt, durch eine konsequente Ausrichtung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion an konkret-stofflichen Kriterien und am Ziel eines guten Lebens für alle.

Natürlich wird eine solche politische Zielsetzung heftige Konflikte provozieren; denn sie bedeutet schließlich eine grundsätzliche Infragestellung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die weit mehr ist als ein "Wirtschaftssystem", sondern tief eingelassen ist in die gesellschaftlichen Beziehungen und Subjektivitäten. Dennoch hat auch in dieser Hinsicht die Corona-Krise in gewisser Weise ihren Teil dazu beigetragen, so manche der bisher geltenden Selbstverständlichkeiten zu erschüttern.

Wenn Mietzahlungen vorübergehend eingestellt werden können, wenn im öffentlichen Nahverkehr auf Fahrscheinkontrollen verzichtet wird, wenn überall gefordert wird, die Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitssystems wieder zurückzunehmen, und wenn die Regierungen Unternehmen verstaatlichen wollen, um die öffentliche Versorgung zu sichern, dann wird damit die Logik des abstrakten Reichtums durchbrochen und der stoffliche Reichtum in den Mittelpunkt gestellt.

Zwar handelte es sich dabei nur um Notmaßnahmen mit vorübergehendem Charakter, die der Staat in der Wahrnehmung seiner Rolle als Bewahrer des Allgemeinen ausfüllt; trotzdem stellte es einen tiefgreifenden Bruch mit der neoliberalen Ideologie dar, die schon im Anschluss an die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 massiv unter Druck geraten war.

Deshalb wird jeder Versuch, nach der akuten Phase der Krise wieder zum politischen Status quo ante zurückzukehren, heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Frage hervorrufen, in welcher Weise die allgemeine Versorgung der Gesellschaft organisiert und gewährleistet werden solle. Auf der medialen Ebene hat dieser Streit ja schon begonnen.

Dabei finden sich die Verfechter des freien Markts zunächst einmal in einer schwachen Position wieder, weil die Corona-Krise gnadenlos offenlegt, dass die Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens und anderer Sektoren der öffentlichen Versorgung katastrophale Konsequenzen für die Gesellschaft hat. Angesichts dessen scheint eine breit angelegte Verstaatlichung bzw. Wieder-Verstaatlichung dieser Sektoren die naheliegende Lösung zu sein.

Im linken Diskurs werden vor diesem Hintergrund die Stimmen lauter, die für eine Erneuerung des keynesianischen Sozial- und Regulationsstaates oder sogar für den Staatssozialismus plädieren, und im grünen Spektrum macht man sich Hoffnungen darauf, den Kapitalismus durch staatliche Vorgaben und marktwirtschaftliche Anreize sozial-ökologisch zu reformieren.

Dabei wird jedoch übersehen, dass der Staat, schon ganz grundsätzlich betrachtet, in seinem Handeln und in seinem Zugriff auf den stofflichen Reichtum immer auf das System der abstrakten Reichtumsproduktion verwiesen bleibt. Innerhalb dessen hat er zwar durchaus Handlungsspielräume im Hinblick darauf, wie er die öffentlichen Aufgaben wahrnimmt, inwieweit soziale Ungleichheiten abgemildert werden und in welcher Weise er auf die Produktions- und Arbeitsbedingungen Einfluss nimmt.

Natürlich ist es politisch richtig, diese Spielräume zu nutzen, um soziale und ökologische Verbesserungen durchzusetzen, soweit das eben geht. Aber dennoch kann der Staat die grundlegende, selbstzweckhafte Dynamik der Produktion abstrakten Reichtums nicht ausschalten, sondern immer nur deren schlimmste Folgen irgendwie reparieren oder übertünchen.

Handlungsspielräume der Staaten

Hinzu kommt noch, dass die große Zeit des staatlich regulierten und sozial abgefederten Kapitalismus, der auf der Massenarbeit im Industriesektor und einer starken Binnenwirtschaft beruhte, schon lange vorbei ist und sich auch nicht wieder zurückholen lässt. In der Epoche der Finanzialisierung und Globalisierung sind aber die Handlungsspielräume der Staaten immer enger geworden, weil sie alles dafür tun müssen, um das eigene Territorium als Standort für das Kapital attraktiv zu halten und vor allem den Zufluss von fiktivem Kapital zu sichern.3

Denn seit durch die Dritte industrielle Revolution immer mehr Arbeitskraft in der Warenproduktion "überflüssig" gemacht wurde, hat sich die Akkumulation von abstraktem Reichtum in die Finanzmärkte verlagert und dort eine atemberaubende Dynamik entwickelt, die auf dem Vorgriff auf zukünftigen Wert in der Gestalt von Finanztiteln beruht (fiktives Kapital). Deshalb bleibt den Staaten gar nichts anderes übrig, als in den wiederkehrenden und mit jedem Mal schärferen Finanzkrisen alles zu tun "was nötig ist" (Mario Draghi), um das Finanz- und Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu retten.

Das wird auch in der Corona-Krise nicht anders sein. Denn zwar weicht der Verlauf dieser Krise von den Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte insofern ab, als sie von dem politisch verfügten Herunterfahren der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten ausgelöst worden ist und sich daher auch direkt auf die "Realwirtschaft" auswirkt. Trotzdem hat sie sogleich auch auf die ohnehin schon überreizten Finanzmärkte übergegriffen und dort gewaltige Erschütterungen ausgelöst, deren Konsequenzen noch nicht absehbar sind.

Es ist daher leicht vorherzusagen, dass die Prioritäten der Regierungen und Zentralbanken sehr bald wieder auf der Rettung des Banken- und Finanzsystems liegen werden. Denn wenn dort die Lawine ungedeckter Zukunftsversprechen abgeht, wird sie auch große Teile der "Realwirtschaft" und öffentlichen Versorgung mit sich in den Abgrund reißen.

Im Unterschied zu 2008/2009 sind aber diesmal die geldpolitischen Instrumente der Zentralbanken schon sehr weitgehend ausgereizt, und außerdem ist auch auf weltpolitischer Ebene nicht zu erwarten, dass sich die großen Wirtschaftsmächte auf ein gemeinsames Vorgehen einigen werden.

Vielmehr zeichnet sich ab, dass jede von ihnen ihre eigenen Interessen auf Kosten der anderen verfolgt und der ohnehin schon existierende Trend zur nationalistischen und regionalen Abschottung eine zusätzliche Dynamik gewinnt.4

Die deutsche Regierung macht das gerade vor, indem sie mit ihrer Ablehnung der Eurobonds den Sprengsatz an die EU legt, was nicht nur infam und schäbig ist, sondern auch noch borniert, weil die Bundesrepublik objektiv am meisten von der europäischen Einheit und dem Euro profitiert. Doch der Nationalismus folgt seiner eigenen, gefährlichen Logik, die keinesfalls funktional im ökonomischen Sinne sein muss.