Kollaps und Endgame: Kann mehr Hilfe für die Ukraine noch etwas erreichen?

Seite 2: 2,5 Millionen Granaten in diesem Jahr benötigt

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erklärte, die Ukraine benötige in diesem Jahr 2,5 Millionen Granaten – oder etwa 208.000 pro Monat –, um ihre Kriegsoperationen aufrechtzuerhalten, was auf eine Rate an verbrauchten Geschossen hindeutet, die der Westen kurz- bis mittelfristig selbst mit dem zusätzlichen Abkommen über eine Finanzierung nicht decken kann.

Kiews ernste Materialdefizite gehen mit einem ebenso fatalen Mangel an Soldaten einher, ein Problem, das der Westen nur durch eine direkte Militärintervention in der Ukraine lösen kann.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich schwergetan, eine tragfähige Mobilisierungsstrategie zu entwickeln, während die Zahl der ausländischen Freiwilligen seit ihrem Höchststand von 20.000 Anfang 2022 zurückgegangen ist.

Diese Engpässe sind nicht nur auf die ukrainischen Opfer zurückzuführen, die Berichten zufolge die von Selenskyj im letzten Monat angegebene Gesamtzahl von 31.000 Gefallenen übersteigen, sondern auch auf die Entvölkerungstendenzen, die so stark sind, dass sie an einen demografischen Kollaps grenzen.

Kollaps denkbar: Ukraine läuft auf Sparflamme

Kiew muss sich auch mit den Auswirkungen eines langwierigen und kostspieligen totalen Krieges auseinandersetzen. Ein umfangreicheres Mobilisierungsprogramm würde noch mehr Menschen aus dem Erwerbsleben reißen und die anämische ukrainische Kriegswirtschaft weiter belasten.

Moskau ist kein statischer Akteur in diesem sich entzündenden Drama. Die Russen nehmen die Schwächen der Ukraine sehr genau wahr und versuchen, diese in vollem Umfang auszunutzen, indem sie ihre enormen Vorteile in Bezug auf Personal und Feuerkraft nutzen, um nach dem Fall von Awdijiwka entlang der gesamten Kontaktlinie in der Ost- und Südostukraine Druck auszuüben.

Kurz gesagt, die ukrainischen Kriegsanstrengungen laufen auf Sparflamme. Zum ersten Mal seit dem Beginn der russischen Invasion im Jahr 2022 ist ein Zusammenbruch des Landes durchaus möglich.

Was kann das 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket in Anbetracht dieser düsteren Realität bewirken? Es wird der Ukraine zweifellos helfen, die Kosten für den russischen Vormarsch zu tragen und dessen Tempo zu verlangsamen.

Der fatale Maximalismus

Auch wenn es die anhaltende Gefahr eines Zusammenbruchs nicht abwenden kann, wird es der AFU in den kommenden Monaten wahrscheinlich eine neue Chance geben. Aber, wie Senator J.D. Vance von den Republikanern treffend feststellte, wird sie "die Realität auf dem Schlachtfeld nicht grundlegend ändern".

Das Eingeständnis der Grenzen westlicher Hilfe ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass die weitere Unterstützung der Ukraine absolut keinen Wert hat. In der Tat wäre ein Szenario, in dem die AFU zusammenbricht und die Ukraine von den russischen Streitkräften überrollt wird, für alle Beteiligten gefährlich und würde das Erreichen einer dauerhaften Lösung erschweren.

Aber es ist auch richtig, dass jeder Plan zur Unterstützung der Ukraine mit einer nüchternen Einschätzung dessen einhergehen muss, was in diesem Stadium des Krieges erreicht werden kann und was nicht.

Die Aussicht auf fortgesetzte westliche Hilfe für die Ukraine ist eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Hebelwirkung gegenüber Moskau in diesem Krieg, aber diese Hebelwirkung verpufft, wenn sie nicht genutzt wird. Das Problem ist nicht die Hilfe als solche, sondern vielmehr das fortgesetzte Beharren auf maximalistischen Kriegszielen, die sich zunehmend von den Realitäten dieses Krieges entfernen.

Wiederholung der gescheiterten Gegenoffensive nächstes Jahr?

Vorschläge, die Verteidigung der Ukraine bis 2024 aufrechtzuerhalten, um Kiew zu einer neuen Gegenoffensive im Jahr 2025 zu drängen, bereiten die AFU auf eine Wiederholung der katastrophalen Gegenoffensive von 2023 vor, wenn nicht sogar auf Schlimmeres. Pläne, die einen Nato-Einsatz in der Ukraine vorsehen, wurden von den meisten westlichen Staats- und Regierungschefs aus gutem Grund abgelehnt.

Die Befürworter maximalistischer Kriegsziele in der Ukraine waren in den letzten zwei Jahren bemerkenswert erfolgreich, ihre politischen Konzepte wirksam werden zu lassen auf dem Schlachtfeld sowie auch außerhalb.

Von Himars-Raketenwerfern und Scalp-Marschflugkörpern bis hin zu Patriot-Raketensystemen und Leopard 2A6-Kampfpanzern wurde die Ukraine mit einer breiten und effektiven Palette westlicher Waffen ausgestattet.

Was ist das Endspiel?

Das internationale Sanktionsregime gegen Russland ist bei Weitem das umfangreichste in der Geschichte und wächst weiter. Die EU hat bereits das dreizehnte Paket restriktiver Maßnahmen verabschiedet, während das US-Finanzministerium ständig nach Möglichkeiten sucht, die Schrauben gegen Moskau noch fester anzuziehen.

Der 60-Milliarden-Dollar-Zuschlag ist die jüngste Maßnahme dieser Art. Aber das Problem war nie ein Mangel an Maßnahmen – es ist das Fehlen eines tragfähigen Endspiels in der Ukraine.

Parlamentspräsident Mike Johnson hat die Regierung Biden aufgefordert, "eine klare Strategie für die Ukraine zu formulieren, einen Weg zur Lösung des Konflikts". In der Tat ist es von entscheidender Bedeutung, die Ukraine-Debatte wieder auf einen Konsens über einen realistischen Rahmen für die Beendigung des Krieges zu konzentrieren.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Mark Episkopos ist Professor für Geschichte an der Marymount University in den USA. Er forscht über Fragen der nationalen Sicherheit und schreibt über internationalen Beziehungen.