"Kolumbus hat Amerika auch ohne Abschluss entdeckt"

Wie integriert man sich in eine desintegrierende Gesellschaft? Der "Aufstieg durch Bildung" ist auch für Migranten zum hohlen Versprechen geworden. Teil 2 der Serie zu Integration und Bildung

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Im ersten Teil "Türken sind die wahren Bildungsbürger" bin ich dem Vorurteil nachgegangen, dass kulturelle Gründe - namentlich die islamische Prägung - orientalische Einwanderer darin hinderten, in Deutschland Integration auf dem Bildungsweg zu suchen. Es ließ sich anhand solider quantitativer Studien zeigen, dass dieses Vorurteil nicht nur falsch ist, sondern sogar die Tatsachen verdreht: Immigranten zeichnen sich stets durch eine hohe Bildungsaspiration aus, d.h., sie bemühen sich im Durchschnitt stärker um eine gute Ausbildung, als es Einheimische mit denselben Voraussetzungen tun.

Warum tun sie das? Und warum fallen uns dennoch so viele Migranten auf, bei denen dieses Bemühen offensichtlich gescheitert ist?

Das Zeugnis als Eintrittskarte

Wenn heute von "Bildung" die Rede ist, dann ist damit meistens (auch hier) Ausbildung gemeint. Schulische und universitäre Bildung dienen den meisten Absolventen als Qualifikation für den Arbeitsmarkt; das Abschlusszeugnis mithin als Berechtigungsschein für ein hohes Gehalt und eine gesicherte Existenz.

Nur diese Motivation kann ja erklären, weshalb überhaupt jemand Wirtschaftswissenschaften oder Jura studiert. Und sie ist umso stärker bei Einwanderern, die naturgemäß kein familiäres Kapital haben, auf dem sie aufbauen können. Das erklärt die hohe Bildungsaspiration von Migrantenkindern. Es erklärt auch, weshalb sie noch etwas häufiger Wirtschaft und Recht studieren als Deutsche, etwa gleich häufig Medizin und Ingenieurswesen, und seltener Sprach- und Kulturwissenschaften. Wer die Vorhut der Familie in das bessere Leben sein soll, wird keine brotlose Kunst wählen.

Leider ist auch dieser Weg nicht ohne Enttäuschungen. Und damit meine ich nicht die stets gegenwärtige Möglichkeit des Scheiterns. Sondern die Beobachtung, dass die Anstrengung allzu oft nicht honoriert wird. Ausländern geht es in dieser Hinsicht wie Frauen: Sie müssen doppelt so gut sein wie ein deutscher Mann, um dasselbe zu erreichen.

Daraus ergibt sich das, was holländische Forscher im Titel ihres Artikels als "paradox of integration" bezeichnet haben: Besser ausgebildete Immigranten haben zwar mehr Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung und stehen dieser auch offener gegenüber, fühlen sich aber stärker abgelehnt und diskriminiert. Im äußersten Fall führt diese Erfahrung dazu, dass sie sich enttäuscht abwenden. Mit womöglich kriminellen Folgen: Eine weitere Studie aus den Niederlanden fand, dass jugendliche Marokkaner, die in Polizeigewahrsam genommen worden waren, aus sozial höherstehenden Familien stammten, besser integriert waren und besser Niederländisch sprachen als Altersgenossen, die nicht auffällig geworden waren.

Die Erfahrung, nicht akzeptiert zu werden, egal wie man sich anstrengt, teilen viele Immigranten. Es genügt eben nicht, dass Ausländer sich integrieren - sie müssen auch integriert werden.

"Auch wenn ich mir den Arsch aufreiße, ich bleibe Ausländer"

In ihrer Masterarbeit hat meine Frau untersucht, welche unterschiedlichen Strategien Ausländer wählen, um in der deutschen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Bildung ist eine Möglichkeit, aber es gibt auch Freunde und Bekannte, die davon nicht viel halten. Sie haben eine andere Erfahrung gemacht: In Deutschland wird man geachtet, wenn man genügend Geld hat. Wer im Benz vorfährt, wird ernstgenommen.

Daher haben einige all ihre Geschäftstüchtigkeit und ihren Ehrgeiz darin gesteckt, reich zu werden. Und mit Erfolg. Deutsche ahnen meist nicht, wie viel Geld sich mit einem Dönerladen machen lässt - wenn er gut liegt. Oder mit einem türkischen Friseursalon - wenn er einem gehört (nicht, wenn man da arbeitet). Ganz zu schweigen von Grundstücken in der Türkei.

Meine Frau hat einige solcher Einwanderer-Millionäre interviewt. Ihre Aussagen voller Selbstbewusstsein, Bauernschläue und Enttäuschung lohnen sich, zitiert zu werden:

"Die Immigrantenkenner sind nett und höflich zu dir, die Nichtkenner sind missgönnerisch, skeptisch und gucken dich an, als wärst du ein Steuerhinterzieher. Auch wenn ich Arbeitgeber bin, schauen sie so, als ob ich vom Staat Geld bekommen würde. Mein Reichtum ist mein Schutzzaun."

"Ich persönlich halte vom deutschen Bildungssystem nicht viel, die Deutschen sind Fachidioten. Sie lernen nur ihr Fach, aber wie man mit der Kundschaft umgeht, wissen sie nicht. Sie sind nicht einfallsreich. Sie haben wenig Menschenkenntnis und freundlich sind sie auch nicht. (lacht)"

Was muss man tun um sich zu integrieren? Welche Strategien gibt es?

Antwort: Nichts. Du kannst ein wenig mit der Sprache bewegen, aber viel kannst du auch nicht daran ändern. Die sehen dich so, wie sie die aus dem Fernsehen kennen, auch wenn du Doktor bist. Bei Strategien, da sehe ich nur Geld und vielleicht Sprache.

Was bedeutet für Sie Integration?

Antwort: Sich klein machen gegenüber den Deutschen, ja und Amen sagen.

Wozu ist Bildung gut?

Antwort: Bildung wird überbewertet. Ich habe viele Studenten, die bei mir arbeiten, um über die Runden zu kommen. Ich sehe sie später nach dem Abschluss wieder, sie sind arbeitslos, haben viele Schulden. Wie heißt das? BAföG, ja. Oder sie arbeiten als Taxifahrer, Frauen als Kindermädchen, oh Mann, nein, nein. Kolumbus hat Amerika auch ohne Abschluss entdeckt.

Sind Sie integriert?

Antwort: Ich mache mir keinen Kopf, auch wenn ich mir den Arsch aufreiße, ich bleibe Ausländer. Schreib das mal ganz dick hin! Darum bemühe ich mich nicht um Integration.

Meine Frau hat auch Migranten befragt, die in Deutschland erfolgreich studiert haben. Sie fühlen sich insgesamt besser integriert, aber zufrieden mit ihrer Aufnahme sind auch sie nicht:

"Es ist so, ich bin schon so lange hier, mal fühle ich mich integriert, mal nicht. Wenn etwas an mir positiv gesehen wird, werde ich integriert und als Deutsche gesehen. Wenn etwas an mir negativ ist, bin ich wieder Türkin. Die Deutschen sind wie das Wetter, mal sind sie so, mal sind sie so."

"Ich kann fast nur Deutsch, denke und handle deutsch, habe eine deutsche Frau und deutsche Kinder. Trotzdem, wenn ich zu manchen Patienten gehe, schauen und sprechen sie den deutschen Assistenzarzt an und fragen ihn ihre Fragen (lacht). Ich sehe schon fast wie ein Deutscher aus, aber mein Name ist türkisch, und schon bin ich in die unterste Kategorie gerutscht."

Ich habe das vor einiger Zeit die "Caliban-Theorie der Integration" genannt, nach der Sottise von Oscar Wilde im "Dorian Gray": "Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht. Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht." Der deutsche Caliban sieht sich als Kulturmensch im Gefolge Goethes, und gerät in Wut, wenn ihm der Ausländer den Spiegel vorhält: "Denen geht es nur ums Geld!" - Ja, Caliban. Dir auch. Denn die Romantiker unter den Migranten, die es mit einer akademischen Karriere versuchen, sind Dir ja auch nicht ähnlich genug.

Gesellschaftliche Teilhabe ist eine starke Motivation in jedem Menschen. Jeder will dazugehören und anerkannt sein. Die Unterstellung, "die Ausländer" wollten sich nicht integrieren, kann nur in Abwesenheit von Menschenkenntnis gedeihen. Im Gegenteil: Sie versuchen es. Die einen, indem sie an die Universitäten gehen, die anderen, indem sie einen Benz fahren. (Und es ist immer ein Mercedes - so deutsch, so deutsch.)

Wenn es nicht klappt, liegt es nicht an ihnen.

Bildungsreise nach Jerusalem

Treten wir daher mal einen Schritt zurück. Ist es überhaupt angemessen, Bildung als Königsweg zur Integration zu propagieren? (Und, das folgt daraus, Bildungsverweigerer als Integrationsverweigerer zu schmähen?)

Es stimmt einerseits, dass ein hoher Bildungsabschluss eine notwendige Bedingung für gutbezahlte und hochangesehene Berufe ist. Er ist aber mitnichten eine hinreichende Bedingung. Es gibt zahlreiche arbeitslose und sogar obdachlose Akademiker. Überdies ist ein hoher Bildungsabschluss bekanntlich nicht für jedermann gleichermaßen zu erreichen. Die soziale Durchlässigkeit in Deutschland ist im internationalen Vergleich sehr gering. Kinder aus Unterschichtshaushalten haben - bei gleicher Befähigung - viel seltener Abitur oder einen Uniabschluss.

Es wird also eher umgekehrt ein Schuh daraus: Nicht mangelnde Bildung führt zu Armut, sondern Armut zu mangelnder Bildung. Und ebenso: Nicht Bildung bewirkt Reichtum, sondern Reichtum bewirkt Bildung. Dass ein "Aufstieg durch Bildung" gesichert sei, ist, wie Christoph Butterwegge kürzlich geschrieben hat, ein Mythos. Allenfalls gibt es einen Abstieg ohne Bildung. Aus dieser Abstiegsangst erklärt sich (wie Stefan Gärtner in seiner leider beendeten Kolumne nicht müde wurde zu beleuchten) die Verbissenheit, mit der das Bildungsbürgertum an den Gymnasien die Privilegien seiner Sprösslinge verteidigt, und erklärt sich wohl auch die parteigewordene Abneigung gegen die neuen Konkurrenten aus dem Orient.

Was natürlich auch daran liegt, dass wir es mit einem Reise-nach-Jerusalem-Spiel zu tun haben. Die guten Arbeitsplätze sind rar und werden rarer, der gesellschaftliche Reichtum konzentriert sich auf weniger und immer weniger Menschen. Dass denen gegeben wird, die schon haben, ist geradezu die Definition von Kapitalismus. Für immer mehr bleibt immer weniger übrig. Der manische Kampf um gute Schul- und Studienabschlüsse ist also das hektische Rennen um die Stühle, die immer weniger werden. Für jeden, der es schafft, in die Gesellschaft der Stuhlsitzer aufzusteigen, steigt zwingend mindestens ein anderer ab.

Diejenigen, die seit der ersten Spielrunde am Rande stehen, wissen das längst. Hauptschüler, die im Unterricht beigebracht bekommen, wie man den Hartz IV-Antrag ausfüllt, haben begriffen, dass sie in dieser Gesellschaft nicht gebraucht werden. Wer will es ihnen verdenken, wenn sie resignieren? Und lieber auf diejenigen Fähigkeiten setzen, die ihnen im unmittelbaren Umfeld Dominanz sichern: Muskeln, Gewalt, laute Töne, teure Klamotten?

Nach Wilhelm Heitmeyers Desintegrationstheorie hat gesellschaftliche Teilhabe drei Dimensionen: die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, die Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen und Entscheidungen, und die Teilhabe an gesellschaftlicher Anerkennung. Für immer mehr Menschen in der Unterschicht, im sogenannten Prekariat, ist diese Teilhabe nicht mehr gegeben. Sie erleben täglich, dass sie nicht an Geld kommen, dass ihre Stimme nichts zählt und ihre Persönlichkeit miss- oder gar verachtet wird. Diese Menschen sind in die Gesellschaft nicht integriert. Und das gilt unabhängig davon, ob sie mit Nachnamen Müller oder Yılmaz heißen. Auch Deutsche können in Deutschland nicht integriert sein.

Daraus folgt: Wenn die desillusionierten Verlierer des Systems sich gegenseitig zerfleischen, wenn urdeutsche Bildungsverlierer ihre Enttäuschung und Machtlosigkeit in rassistische Wut kanalisieren - dann ist das ein Geprügel im Arenasand, während die Oberschicht auf den Rängen Kolibrizungen nascht. Rassismus in jeder Form ist der - leider allzu oft erfolgreiche - Versuch der Reichen, die Verlierer des Kapitalismus gegeneinander zu hetzen. Solange die Plebs mit sich selbst beschäftigt ist, besteht für die Patrizier keine Gefahr.

Fazit

Integration ist kein Kulturproblem, sondern ein Schichtenproblem. Menschen mit Migrationshintergrund sind sogar überdurchschnittlich motiviert dazu, durch eine gute Ausbildung einen sozialen Aufstieg zu erreichen und sich dadurch gesellschaftliche Teilhabe zu erwerben. Wenn sie scheitern, liegt das nicht an vermeintlichen kulturellen Vorbehalten - Islam, Patriarchat, Moralvorstellungen etc. -, sondern an der geringen sozialen Durchlässigkeit unserer Gesellschaft, an der auch urdeutsche Mitglieder der Unterschicht scheitern.

"Integrationsverweigerung" ist kein originäres Problem, allenfalls ein sekundäres: Wie Einwanderer überall auf der Welt beobachten auch Migranten in Deutschland mit sehr wachen Augen, welches Verhalten hier erwartet wird, und versuchen es zu liefern. Erst wenn ihnen das unmöglich gemacht wird, wenden sie sich womöglich trotzig ab.

Wer sich, dies sehend, etwas auf seine vermeintliche kulturelle Überlegenheit einbildet und das Problem bei den Ausländern verortet, stabilisiert nur das System, das auch ihn zum Verlierer macht. Sonderlich klug ist das nicht.

Die Masterarbeit meiner Frau, auf die ich mich mit diesem Artikel beziehe, ist auch veröffentlicht worden: Devrim Lehmann-Kaya (2015) "Integration: Master oder Mercedes." Bibliotheca Academica, Reihe Soziologie, Band 12, im Ergon-Verlag.

Meine Integrationskomödie "Love love pilav. Ein Sommernachtsmärchen" ist 2019 im Deutschen Theaterverlag (DThV) erschienen. Die ersten Aufführungen sind bisher leider an Corona gescheitert.