Kommunikation ohne Menschen

Ein Berliner Autorenteam von der Humboldt-Universität präsentiert ausgewählte Schriften von Claude Elwood Shannon

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Nun ist auch der letzte Held und Pionier des Information Age tot. Nach langem Leiden verstarb Ende Februar, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, im engsten Familienkreis, der Mathematiker und Nachrichtentechniker Claude Elwood Shannon an Alzheimer. Nach Aussagen von Beobachtern war die heimtückische Krankheit des Vierundachtzigjährigen zuletzt so schlimm, dass er am Ende nicht mehr zwischen Freunden und Fremden, Verwandten und seinen Kinder zu unterscheiden wusste.

Die Reaktionen auf seinen Tod waren verhalten. Außer der Meldung über seinen Tod, die mit ein paar schnell zusammengerafften, kaum verständlichen Sätzen aufgepeppt wurden, war in den Print- (SZ; Der Tagesspiegel; Die Welt) und Online-Medien wenig über den Meisteringenieur zu lesen. Dass er den Begriff der Entropie (Boltzmann) in die Nachrichtentechnik einführte; dass er ein mathematisches Maß für die Quantifizierung von Information entdeckte, dass er vermutlich als "Vater des Bit" (Vater des Bits) gelten kann; dass er die informatischen Grundlagen zum Bau eines Digitalrechners legte; dass er der berühmteste und beste Schüler Norbert Wieners war; und dass er häufig auf Einrädern jonglierend durch die weitläufigen Gänge der Bell Labs fuhr: all diese Geschichten sind bekannt und finden sich in jedem einschlägigen Lexikon der jüngeren Technik- und Computergeschichte.

Nur Friedrich Kittler hielt, wenn wundert's, in seiner unnachahmlichen Art in der FAZ vom 2. März einen flammenden Nachruf auf den Meister der Übertragungstechnik, der mehr über Leben und technische Leistungen Shannons verriet. Und schließlich lieferte auch die c't in ihrer Print-Ausgabe 06/2001 einen brauchbaren Text, der mehr als bloßes Lexikonwissen bot.

Paul ist tot, kein Freispiel drin.

Fehlfarben

Dieses geringe öffentliche Interesse an Shannon überrascht. Immerhin gehört Shannon mit zu den bedeutendsten, aber auch schillerndsten und skurrilsten Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts. Und zwar nicht nur, weil er das Betriebssystem der globalen Gesellschaft technisch revolutioniert hat. Sondern auch, weil er durch seine Forschungen zur Informationsübertragung, zur Verschlüsselung von Nachrichten und seinen patriotischen Dienst für das heimische Militär neben John von Neumann, Alan Turing und den ins "Manhattan-Projekt" von Los Alamos verstrickten Wissenschaftlern zumindest indirekt daran mitwirkte, dass Hitler-Deutschland besiegt, Europa seine zentrale und dominierende Rolle in der Welt verlor und der heiße im Kalten Krieg mit neuen Feinden und Gegnern seinen Fortgang nehmen konnte.

Und auch gerade deshalb, weil er, was mittlerweile in Vergessenheit geraten ist, bis zu seinem Eintritt in das National Defense and Research Committee (NDRC) um den damaligen Leiter und Koordinator des scientific warfare, Vannevar Bush, an der Naht- und Schnittstelle von Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik operierte, dort also, wo Informatik, Biopolitik und Kryptologie, "die" Leitwissenschaften des 21. Jahrhunderts, sich berühren und überschneiden. Genau diese Rolle, diese Funktion und diese Verstrickung machen Shannon für die Nachwelt, für die Wissenschaftsgeschichte, die vernetzte Weltgesellschaft und damit für uns höchst interessant.

Das Buch

Deswegen ist es nur zu begrüßen, wenn ein Autorenteam von der Humboldt-Universität im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts "Geschichte und Systematik der digitalen Medien" sich die Mühe gemacht hat, die wichtigsten Schriften Shannons aus den über tausend Seiten starken "Collected Papers" zu übersetzen, sie mit bislang unveröffentlichten Arbeiten (Patentschriften, Kriegsforschungsprojekten, Entwurfskizzen), die an den Bell Labs verfasst wurden und noch in den Archiven des MIT in Boston lagern, anzureichern und sie der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu präsentieren.

Neben einer Neuübersetzung der "mathematischen Theorie der Kommunikation", die Shannon 1948 schlagartig berühmt machte, enthält das Buch endlich auch die laut Kittler "folgenreichste Magisterarbeit aller Zeiten", in der Shannon den Beweis erbrachte, dass Booles Laws of Thought in elektrische Schaltsignale gegossen werden kann, sowie den lange Jahre vom Pentagon unter Verschluss gehaltenen nicht-öffentlichen Teil der Kommunikationstheorie, den Abschnitt über "Secrecy Systems" (Chiffriersysteme), aus deren Geist die allgemeine "mathematische Theorie der Kommunikation" einst überhaupt erst hervorgegangen ist.

Mit diesen drei und neun weiteren, eher kürzeren Texten, die Shannon zwischen den 40er und 70er Jahren zur Sprachanalyse und Verfolgungstheorie, zur Breitbandtechnik und zum Bau von Schachcomputern, zur Labyrinthforschung und zur Strategieerkennung angefertigt hatte, ist insgesamt eine Auswahl von 12 Schriften entstanden, die dem Leser hier zu Lande einen reichhaltigen und ausgezeichneten Einblick in das vielfältige Wirken und Werken des Elektroingenieurs bietet und ihn uns als genialen Bastler, Tüftler und Konstrukteur zeigen, der für sprachliche, semantische und logische Probleme stets technische Lösungen anstrebt.

Schade nur, dass das Buch keinen Ausschnitt aus Shannons Dissertation zur Genetik enthält, in der er eine algebraische Theorie der Mendelscher Vererbungsgesetze formulierte und auf diese Weise eine Spur zur Digital- und Nachrichtentechnik legte. So bleibt das Gesamtbild Shannons unvollständig, die Überschneidungen von Biopolitik und Informationstechnologie, die durch seine Übertragungstheorie deutlich werden könnten, weiter im Dunkeln.

Die Form

An den A-C-G-T-Coup des FAZ-Feuilleton vom letzten Sommer rückerinnert fühlen werden sich manche, die dieses Buch aufschlagen und darin herumblättern. Vor Kurven und Diagrammen, Graphen und Schemata, Schaltplänen und Funktionsgleichungen wimmelt es dort nur so. Sicherlich keine leichte Kost, was die Herausgeber da den Lesern zumuten. Vor allem Leute, die gewohnt sind, über das Wünschenswerte und sozial Erlaubte nachzudenken, mit Beratung, Therapieangeboten und ähnlichem Zeugs ihre Brötchen zu verdienen und mit blitzgescheiten Einfällen, Stellungnahmen und Kommentaren in den Feuilletons der Massenmedien die Gesellschaft zu irritieren und zu unterhalten, werden dem Buch wenig abgewinnen und es ratlos beiseite legen, sollten sie es überhaupt jemals in die Hand bekommen. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich. Denn ohne ein gewisses mathematisches Vorverständnis, das über den Grundkurs Mathematik Kollegstufe hinausgeht, bleiben die Texte, Berichte und Zeichnungen, die Shannon an den Bell Labs anfertigte, meist ebenso kryptisch wie kyrillische Zeichen. Der Verlag dürfte das geahnt haben, weshalb nur 1000 Exemplare davon in Druck gingen.

Doch auch wenn die Lektüre dem theoretisch begabten und Deutungskompetenz beanspruchenden Schöngeist kaum wirklichen Genuss bereiten wird, er mit dem Ansinnen Shannons, Vielfalt, Komplexität und Mehrdeutigkeit der Bedeutungen in die Eindeutigkeit und Klarheit der Sprachen der Physik und Informationstechnik zu übersetzen und sie auf ihre Grunddaten: auf Ja/Nein Stellungnahmen, auf die An- und Abwesenheit von Signalen, auf Null und Eins zurückzuführen, wenig anzufangen weiß, anders als die Sokaliaden metaphernverliebter Cyberpoetiker, Kulturalisten und Pop-Philosophen überzeugt die Sprache Shannons durch seinen elektronischen Klartext. Wahr und falsch bleiben stets nachprüfbar. Wahr ist, was schaltbar ist; falsch hingegen, was nicht funktioniert. Tertium non datur.

Die Absicht, die die Berliner Kulturwissenschaftler mit der Publikation Shannonscher Theoreme verfolgen, ist leicht erkennbar. Kulturwissenschaften, die auf die Dauerkrise der Geisteswissenschaften reagieren, sollen an ihre Herkunft erinnert, auf ihre materiell-technischen Grundlagen zurückgeführt und von dort aus neu konzipiert werden; der Marxsche Gestus, der dabei wieder in Auftrag gegeben wird, den Geist vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen, ist unübersehbar.

It was truely visionary thinking

Arun Netravali, Lucent Technologies

Der Zugang

Vielleicht ist es am besten, wenn man das Buch entgegen aller Gewohnheit von hinten nach vorne zu lesen beginnt. Der Zugang wird dadurch leichter. Und zwar nicht nur, weil dort die kürzeren Arbeiten versammelt sind, Texte und Entwürfe, die eher experimentellen Charakter tragen. Sondern auch, weil der Leser da rasch mit Shannons mitunter sonderbarer und skurriler Gedankenwelt bekannt gemacht und konfrontiert wird. Beispielsweise mit jenem herrlich "bescheidenen Vorschlag", den Shannon Amerikanern macht, die mit dem Auto auf Englands engen und mit Steinmauern umsäumten Straßen unterwegs sind und dort der "wilden und gefährlichen Welt" des Linksverkehrs ausgesetzt sind. Ebenso Schmunzeln wie großes Vergnügen bereitet es zu hören, wie der in physikalischen Fragen beschlagene Ingenieur dieses Alltags- oder Kulturproblem technisch zu meistern beabsichtigt.

Als ob er gerade eine VR in 3D entwerfen würde, empfiehlt Shannon, das Gesichtsfeld des Fahrers mit einem Spiegelsystem so zu umgeben, damit dieser die Welt "da draußen" seitenverkehrt erlebt; zudem regt er den Einbau eines Differentialgetriebes im Lenkrad an, womit er jenes Fehlverhalten eliminieren möchte, das der "motorische Output" des Fahrers auf den "sensorischen Input" der Spiegelungen ausübt. Statt nach rechts steuert der Wagen beim Drehen des Rades selbstständig nach links und vice versa. Der Linksverkehr fließt zwar wie gehabt, der "vierdimensionale Dreh", durch den die Sensomotorik manipuliert wird, simuliert dem Fahrer aber den gewohnten Rechtsverkehr seiner Heimat. Alles wäre wieder, so Shannon, wie "es sich gehört". Das Fahren, Lenken und Steuern in fremdem Terrain würde zu einem kulturell vertrauten Akt.

Vor dem Heimischwerden hat die Physik jedoch die Bewältigung zweier weiterer Probleme gestellt, die wiederum durch die Umkehrung von Wahrnehmung und Bewegung entstehen. Aufgrund der Dreifachspiegelung können Verkehrszeichen, Wegweiser und Entfernungsangaben nämlich nur anders herum gelesen werden. Weswegen der Fahrer, will er sie entziffern, am Straßenrand anhalten, den Rückwärtsgang einlegen und dicht an das Straßenschild heranfahren muss, um die Information durch den Rückspiegel zu erfahren.

Eine fast unlösbare Aufgabe bereitet hingegen der Körper des Fahrers. Da Zentrifugalkräfte bekanntlich der Schwerkraft und nicht der virtuellen Welt der Screens und Spiegel folgen, drücken sie den Fahrer in einer scharfen oder lang gezogenen Kurve immer in die entgegengesetzte Richtung, auf die Dauer ein stressiger oder wie Shannon süffisant anmerkt, "höchst unangenehmer und verwirrender Eindruck" für ihn.

Ein erster Cyberwarrior?

Darum schlägt er vor, den Fahrer in eine Flüssigkeit zu tauchen. Sie soll die Masse seines Gewichts neutralisieren und ihn in Balance halten. Damit der Körper aber nicht nach oben steigt, der Fahrer atmen kann und seine Haut Schaden nehmen könnte, steckt Shannon ihn kurzerhand in einen Taucheranzug, rüstet ihn mit Schnorchel aus und zurrt ihn mit einem Gurt am Sitz fest. Mag der Körper durch Apparate, Vorrichtungen und Gerätschaften zwar entfremdet sein, sensomotorisch ist er aber in ein vertrautes Umfeld platziert, sodass das Linksfahren durch Shannons fantastischer Konstruktion scheinbar endgültig zum Kinderspiel geworden ist. Unbekannt ist, ob das schon jemand erprobt hat. Genialität und Wahn: das ist der eine Teil von Shannons Welt.

Es gibt nur Ratten im Labyrinth, die einander beobachten.

Niklas Luhmann

Theseus kehrt doch wieder

Labyrinthe, Psychen, Netzwerke, Kryptogramme: das ist, das war der andere Teil von Shannons Welt. Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, Behaviorismus und Kybernetik boten Mittel, Wege und Verfahren, sich in diesen heillos verrauschten, von Zufällen, Dämonen und Unwägbarkeiten durchfluteten Systemen und Höhlengängen rational und erfolgreich zu bewegen. Wenig Vertrauen brachte er dabei der Intelligenz des Menschen entgegen, einfach deswegen, weil er, was Wahrnehmungsschwellen, Verarbeitungskapazitäten und Übertragungsgeschwindigkeiten angeht, der Denk-, Arbeits- und Rechenleistung von Maschinen hoffnungslos unterlegen ist.

Dass Shannon zudem ein leidenschaftlicher und unsäglicher Spieler war, der wie ein kleines Kind mit Spiel- und Setzkästen herumhantierte, diese Medien zur Lösung logischer Probleme verwendete, lehren uns wiederum zwei kleinere Arbeiten. Die eine präsentiert einen lernenden Automaten. Sie gilt als eine der ersten kybernetischen Maschinen, die nicht bloß Gedankenexperiment geblieben, sondern auch gebaut worden ist. Unter dem Titel "Shannons Maus" ist sie in die Geschichte eingegangen. Vorgeführt wurde dieser Apparat erstmals der staunenden Kybernetiker-Gemeinde (von Foerster, McCulloch, Bigelow ...) Anfang der 50er Jahre auf eine jener berühmten Kybernetikerkonferenzen, die die Josiah Macy Jr. Foundation organisiert hatte. Sie demonstriert, wie das Labyrinthproblem maschinell, also ohne Zutun des Menschen, gelöst werden kann.

Ausgelegt ist das Labyrinth mit 25 Quadraten. Zwischenwände können vom Experimentator beliebig herausgenommen und verändert werden. Der motorisierte Sucher, dem Shannon die Form einer Maus gab, wird von einem Sensor gesteuert oder von einem unter dem Labyrinthboden geführten Magneten. In Anlehnung an den Mythos der Griechen nannte Shannon die Maus "Theseus". Tastend bewegt sie sich von Feld zu Feld.

Shannons Maus

Kann das nächste Feld betreten werden, wird die Richtung gespeichert; hält eine Wand dagegen die Maus auf, versucht sie es in eine andere Richtung. Durch Trial and Error findet die Maus schließlich autonom das Ziel. Das kann sie, weil in ihr eine Entscheidungsfunktion eingebaut ist, die auf zwei Strategien fußt: einer Steuer- und einer Zielstrategie. Immer folgt die Maus den gespeicherten Richtungen und findet das Ziel, gleich wo man sie auch in das Labyrinth hineinsetzt. Platziert man sie an eine von ihr noch nicht betretene Stelle oder verändert etwas am Labyrinth, wendet sie wieder den Suchalgorithmus an und durchläuft die Route nach der gespeicherten Information. Schaltet man die Relais aus, hat die Maus alles, was sie wusste, wieder vergessen. Im Gegensatz zum Wunderblock Freuds, der alles der Datensenke des Unbewussten zuführt, oder zu kollektiven Psychen, die, von Staatswegen gezwungen werden, das Vergangene immer wieder anders und neu zu durchleben, herrscht dort nach dem Stopp der Energiezufuhr wirklich tabula rasa.

Damit die Maus aber nicht in eine Endlosschleife gerät und das Ziel dadurch verfehlt, haben österreichische Forscher sie später mit einem Ariadnefaden ausgestattet. Sie fügten ihr einen weiteren zwei Bit-Speicher zu, der vier weitere Möglichkeiten enthält. Dadurch wird ihr das schier endlose Herumirren im Labyrinth erspart. Sie merkt sich nicht nur die Route, sie findet auch zum Eingang wieder zurück. Anders als im Heldenmythos oder in Spencer-Browns Laws of Forms muss Ariadne keineswegs verzagen und um ihren Geliebten bangen (Ariadne hat sich umsonst erhängt). Weder muss sie über seine Abwesenheit in Depression verfallen noch muss sie sich erhängen. Der Faden reißt nie, Theseus kommt stets wieder.

Weil ein Schrittzähler einen Faden durch das Labyrinth legt, ist ein Out of control von vornherein ausgeschlossen. Und auch der menschliche Beobachter, der hinzukommt und seine Entscheidungen den Entscheidungen der Maus aufoktroyiert (Reentry), wird arbeitslos. Diese Kybernetik, die anders als der Metabiologismus des Systemkonstruktivismus sich nicht leichtfertig aller Kontrollmöglichkeiten beraubt, schafft es, der Postmoderne, dem Dekonstruktivismus und anderen Verunsicherungsstrategien den Stinkefinger zu zeigen. Während die künstliche Intelligenz die platonische Höhle verlässt, bleibt dem systemtheoretischen Beobachter nur die Option: sich einen möglichst guten Beobachtungsplatz im Labyrinth suchen, um andere Ratten zu beobachten, wie sie die an die Höhlenwände projizierten Bilder beobachten.

Das Höchste an Intelligenz ist, dumm zu sein.

Jacques Lacan

Mind reading

Der andere Text präsentiert eine Rechen- und Denkmaschine, die das so genannte Grad/Upgrad-Spiel beherrscht. Diskutiert wird das Spiel sowohl bei John von Neumann und Oskar Morgenstein als auch von Jacques Lacan und Edgar Allan Poe. Das Subjekt nimmt darin eine Spiegelstellung (das Imaginäre) ein. Es geht um ein Hineinversetzen in den anderen, darum, durch genaue Beobachtung des Mienenspiels, durch Lesen von Gedanken und Empfindungen das mögliche Verhalten eines Gegenspielers zu erraten.

Die gedankliche Kette, die im Kopf des Spielers dabei abläuft, und sowohl die Spielzüge des Gegners als auch die eigenen oder die eines neutralen Beobachters (generalized other) antizipiert, lautet: der Widersacher denkt, dass ich möglicherweise denken werde; also denke ich, was er über mich denkt, denke aber, das Gegenteil dessen zu tun, was er oder ein möglicher Beobachter denken, dass ich denke. Stets geht es hier um die Vorwegnahme eines Ereignisses, das in der Zukunft liegt, doch bereits vergangen sein wird, ehe es eintritt. Die Frage, die demnach zu beantworten ist, heißt: Welche Wahl wird ein Rivale oder Gegenspieler (Freund/Feind) treffen, wenn ich davon ausgehen muss, dass er täuscht oder blufft, trickst oder betrügt.

Wo bei Poe Menschen gegen Menschen, bei Lacan bestenfalls Analytiker (Menschen) gegen Maschinen spielen, klaut Shannon das Spiel dem Menschen auf die selbe Weise wie seinerzeit der Minister den Brief der Königin in Poes Erzählung. Seine Mind Reading Machine, die er an den Bell Labs vorstellt, tritt letztendlich nur noch gegen andere Maschinen an, namentlich gegen die seines Kollegen David W. Hagelbarger. Die Welt des Realen (Natur, Rauschen, Unberechenbaren) wird damit unumkehrbar verlassen, das Feld des Symbolischen (Zahlen, Ziffern, Algorithmen) endgültig betreten. An die Stelle eines nervösen, quirligen oder sprunghaften Bewusstseins, das gezwungen ist, ständig zwischen verschiedenen Positionen (I, Me, The Other) zu oszillieren, sind das Programm, der alphanumerische Code oder das Schließen und Öffnen von Relais getreten.

Das Gespür für die psychologische Situation, die Militär-, Partei- und Unternehmensführer an den Tag legen müssen, wenn sie entscheiden, ist in diskrete Rechenoperationen gegossen worden. Ziffernfolgen oder Zahlenreihen, Kombinatorik und Permutationen der Maschine bestimmen von nun an das strategische Feld. Eine reflexive Position ist damit per se ausgeschlossen, es gibt kein Selbst in der Maschine, auch wenn mancher Luhmaniac darauf hofft oder darüber spekuliert. Die Welt der Maschine - das ist die Welt des Symbolischen (F. Kittler). Seitdem werden Menschen wie Zufall, Kontingenzen wie Handlungsoptionen behandelt und in Algorithmen gefasst. Die Identifikation mit dem Rivalen oder Aggressor, die der Psychoanalytiker annimmt, fällt damit ebenso aus oder weg wie die Deutung von Physiognomien oder die Reflexion über mögliche Züge.

Menschen wie Gari Kasparow, den Big Blue, das Monster, das die Ingenieure von IBM erschaffen hat, später besiegen wird, werden nicht mehr in tiefe Depressionen gestürzt, wenn sie verlieren. Maschinen konkurrieren mit anderen Maschinen, sie und nicht Menschenhand programmieren und entwerfen bessere und leistungsfähigere Maschinen. Irreversibel ist das Take Off der Maschinen und Operatoren geworden. Wann sie das Regiment übernehmen, den Menschen in Rente schicken, darüber darf nach und mit Shannon trefflich spekuliert werden. Für Shannon ist dieser Fall anno 1950 schon eingetreten, also zu einer Zeit als KI-Propheten wie beispielsweise Ray Kurzweil noch in den Windeln lagen.

In Trauer muss der Mensch über diese Selbstentfaltung der Technik aber nicht geraten; und auch über eine vierte narzisstische Kränkung oder neue anthropologische Scham (G. Anders) muss er sich nicht grämen. Immerhin kann das Bewusstsein jetzt, da die Rationalität und der Formalismus der Programme und Maschinen das Spekulieren, Konstruieren und Entscheiden vollziehen wie beispielsweise an der Börse, in der künstlichen Evolution oder bei Waffengängen, sich verstärkt um das Hegen, Pflegen und Kultivieren seiner Individualität kümmern. Es kann seinen Lebensstil verfeinern, das Spiel mit Masken, Schminke und Mimikry forcieren und/oder nebenbei Systemtheorie treiben. Spätestens seitdem ist es möglich, mit "Individualisierung" soziologische Lehrstühle zu erobern, hoch dotierter Kolumnist und gern gesehener Talkgast in den Massenmedien zu werden.

Alles muss sich im Geheimen abspielen.

Jean Baudrillard

Den Signal-Rausch-Abstand überwinden

Was aber wäre ein Kommentar über Shannon ohne seine Informationstheorie? Seine Leistung ist und war es, Mathematik und Physik in Kommunikationsprobleme überzuführen. Selbstverständlich ist sie darum auch das Herzstück des Buches. Sie hier ausbreiten zu wollen, hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Zu bekannt ist sie seit vielen Jahren. Jederzeit kann sie im Web abgerufen oder downgeloadet werden.

Schematisches Diagramm eines allgemeinen Kommunikationssystems

Daher wollen wir das Augenmerk mehr auf ihre Herkunft und Entstehungsgeschichte legen, auf den Verdacht, den alle deutsche Mediengeschichtsschreibung hegt und der mit Shannon bekräftigt werden kann, wonach die Quelle aller Medientechnologie immer noch der Krieg ist. Denn mit dem Kriegseintritt Amerikas 1941 wird Shannon nicht nur mathematischer Berater der Signal Intelligence Agency, jener Behörde also, die den gesamten Nachrichtenfluss der Amerikaner während des Zweiten Weltkrieges von und nach Europa überwacht und kontrolliert. Während er Vannevar Bushs Differential Analyzer auf digitale Beine stellt, macht er mit Alan Turing zusammen die Telefonleitung zwischen Churchill und Roosevelt abhörsicher. Im selben Jahr wechselt er aber auch in die mathematische Abteilung der Bell Laboratories, wo er Techniken der Feuerleitung für die Flugabwehr entwickelt, um feindliche Flugzeuge massenweise vom Himmel zu holen.

Das Problem, das Shannon dort meistern sollte, bezeugt interessanterweise Lacan. "Für die Bell Telephone Company ging's darum zu sparen, das heißt die größtmögliche Anzahl von Kommunikationen über einen einzigen Draht laufen zu lassen." Weder das Ungeteilte wie bei Spencer-Brown noch der Sound wie in Hörischs spekulativer Mediengeschichte stehen, wenn wir Lacans Worten trauen, demnach am Beginn aller Kommunikation, sondern ihre Zerlegung, Verdichtung und Komprimierung. Shannon löst diesen Auftrag seiner Arbeitgeber durch Quantifizierung. Er klammert überflüssige Semantik, die entschlossene Konstruktivisten gemeinhin so schätzen, aus, konzentriert sich ausschließlich auf das materielle Outfit der Sprache und reduziert sie auf das, was das exakte oder approximative Ankommen der Nachricht am Bestimmungsort garantiert.

Aus dem Problem, wie viel Information pro Zeiteinheit in einem System in Abhängigkeit von einer begrenzten Bandbreite übermittelt werden kann, geht als Lösung, wie wir wissen, das Bit, die Maßeinheit der Information hervor, sowie die berühmte Formel H, die dem heiligen Felsen der Entropie (Konfusion) entgegengesetzt ist.

Information ist nach Shannon sowohl als eine übertragbare und stochastisch zu berechnende Auswahl von Wahlmöglichkeiten zwischen einem Sender und einem Empfänger zu verstehen, als auch als Maß der Ungewissheit des Raumes der Möglichkeiten, in dem Sender, Empfänger, Kanal und (De)Codierungstechniken sich bewegen. Information entsteht, wenn Systeme offen sind und brutalst mögliche Freiheit bei der Wahl der Nachricht gegeben ist; sie bleibt aus, wenn Wahlfreiheit ausgeschlossen ist und der Anschluss von vornherein feststeht.

Doch Information ist nicht gleich Information. Zwischen Quelle einer Nachricht und Datensenke steht, seitdem die Botschaft nicht mehr automatisch mit ihrem Überbringer zusammenfällt, der Kanal. Was in den Drähten läuft oder nicht läuft, ob das Kommunikation ist oder Jam, hängt vom Rauschwiderstand ab und davon, ob das geschaltet werden kann, was selektiert und übertragen werden soll. In Friedenszeiten ist das zu Überwindende der information overload. Um im Meer der Daten, die täglich durch die Kanäle rauschen, vernommen und wahrgenommen zu werden, greifen Sender darum immer mehr auf Mittel der Übertreibung, der Drastik und der Skandalisierung von Ereignissen zurück oder setzen Prominenz als Selektionswaffe im Kampf um Aufmerksamkeit, Einschaltquoten und Werbegelder ein.

In Kriegszeiten geht es hingegen um den sicheren Transport von A nach B, also darum, die Kanäle und die zu übermittelnde Nachricht vor unliebsamen Gästen (Störern, Lauschern, Schnüfflern) zu schützen und sie gegen ihre mögliche Entwendung, Verzerrung oder Verfälschung durch anonyme Piraten, Datenklauer oder andere Abfangjäger zu sichern. Gleichzeitig geht es im Gegenzug auch darum, die Übertragungswege des Feindes anzuzapfen, sich Informationen ohne Wissen des Gegners auf den eigenen Server zu laden und ihn mit Falschmeldungen oder gezielter Desinformation entweder in Konfusion zu stürzen oder mit Hinzufügungen in Sicherheit zu wiegen. Geheimhaltung der eigenen und die Offenlegung fremder Daten; die Manipulierung von Daten und das Streuen von Gerüchten genießen deswegen Vorrang.

Um in diesem Feld, das Dekonstruktivisten so lieben, die Oberhand zu behalten, entwickelt Shannon eine algebraische Theorie der Entschlüsselung und Verschlüsselung, die dem untrusted user (Spion, Agent, Feind) am Kanalausgang wie Rauschen vorkommt. Natur im Ohr oder am Bildschirm kann laut Shannon seither genauso gut heißen, dass es einem Dritten (Hacker) gelungen ist, eine Nachricht an B nochmals zu überschreiben. In Shannons idealem Chiffriersystem fällt Rauschen mit Information zusammen. Weswegen auf Entnehmerseite das Problem entsteht, wie überhaupt noch zwischen Information und Rauschen erfolgreich unterschieden werden kann, wenn das Decodierungsverfahren unbekannt ist und die Länge des Bit-Schlüssels zur Rückverwandlung in einen lesbaren Text nicht ausreicht.

Seitdem stehen sich nicht mehr nur Maschinen und Programme gegenüber, die um Bandbreiten, Programme und Rechenleistung ringen, sondern auch Kryptoanalysten auf der einen und Cipher Designer auf der anderen Seite, die zum Halali auf höchste Primzahlen blasen, um ihre Nachrichtenkanäle vor Verzerrungen oder Störungen frei zu halten und ungebetenen Gästen die Kunst medialen Rauschens vorzuführen.

Wir glauben, dass Menschen und andere Tiere in wissenschaftlicher Hinsicht wie Maschinen sind ..., dass Menschen als Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung sich von Maschinen nicht unterscheiden.

Arturo Rosenblueth/Norbert Wiener

Die Zukunft berechnen und vorhersagen

Für Shannon, dem Amerikaner irischer Abstammung, saß der Feind in Zentraleuropa, er benutzte zur Verschlüsselung seiner Daten die Enigma, das mächtigste Codesystem der damaligen Welt. Sie zu knacken, ihr ihre Geheimnisse zu entlocken, ohne dass der Feind das merkte, war die Aufgabe, vor der die amerikanischen Ingenieure standen. In der globalen Welt hingegen ist der Feind nur noch schwer lokalisierbar. Überall kann er lauern, darauf, Versorgungssysteme zu blockieren, die Daten abzufangen, sie umzuleiten oder zu fälschen.

Mögen sich Cyberterroristen und Infowarriors wie einst Partisanen und Guerilleros auch in schwer zugänglichen Gelände des Cyberspace bewegen und aufhalten, "unerreichbar" sind sie deswegen aber noch lange nicht. Jede Nachricht, die im Datennetz übermittelt wird, hinterlässt ihre digitale Spur. Von gewieften Technikern der Macht kann die Position des Feindes geortet und jederzeit auf ihren Absender zurückverfolgt werden. Auch darauf macht Shannons algebraische Theorie der Verschlüsselung und Entschlüsselung aufmerksam: die Quelle einer Nachricht und die Datensenke von den materiellen Bedingungen der Kommunikation her zu lesen und nicht von den Semantisierungen, die menschliche Beobachter vornehmen.

Am NDRC ging es zwar seinerzeit noch nicht um Datennetze, immerhin aber bereits um Datenglättung, darum, wie ein bewegliches Zielobjekt zielpunktgenau erfasst, verfolgt und abgefangen werden kann. Shannon von den Bell Labs und Norbert Wiener vom MIT schlugen dafür unterschiedliche Lösungen vor. Während Wiener das Augenmerk auf das Tun des Piloten richtete, analysierte Shannon die möglichen Operationen des Fluggerätes. Er und seine beiden Mitstreiter Blackman und Bode erklärten die physikalischen Grenzen des Verfolgers und der Flugmaschine zum Zielpunkt der Kommunikation, und nicht den Willen oder das Verhalten des Bomberpiloten. Deshalb bevorzugten sie geometrische Parameter: Geschwindigkeit, Beschleunigung, Flugrichtung, Auf- und Abstiegswinkel, Größen also, die die Bewegungen des Bombers festlegten. Daher zerlegten sie die zu erwartende Flugbahn des Flugobjekts in geometrische Segmente, die die Maschine aufgrund ihrer materiellen Flugeigenschaften künftig auswählen und einschlagen musste.

Aus der ballistischen Bahn des Flugzeuges entsprang ein nachrichtentechnischer Code. Kommunizieren bei Wiener Maschinen mit Menschen, interagieren bei Shannon nur noch Maschinen. Was der Mensch denkt, wie er sich fühlt, oder welche "nervösen" Zuckungen er zeigt: all das ist seit Shannon zur Umwelt von Maschinen geworden. Der menschliche Faktor ist weitgehend eliminiert. Als Störgröße oder irritierender Beobachter spielt er höchstens noch eine randständige Rolle.

Strafverfolgungsbehörden, Geheimdienste und Computerindustrie machen sich diesen Umstand heute zunutze. Sie begreifen Kommunikation wie Shannon als Theorie der Steuerung, Verfolgung und Kontrolle. Weshalb sie anders als Dotcoms, Massenmedien und entschlossene Konstruktivisten weniger im Auge haben, was Frauen- und Männerherzen wünschen als vielmehr jene Gewohnheiten, Profile und persönlichen Daten, die sich mit Hilfe von Programmen und anderen intelligenten Systemen aufzeichnen, sammeln, protokollieren, kombinieren und statistisch auswerten lassen.

Maschine des Lebens und des Todes

Wo Norbert Wiener ständig gegen den Zufall, die Kontingenz und die Unordnung, spielte, um den Erzfeinden jeder Ordnung: die Natur, das Rauschen, die Unentscheidbarkeit ein Schnippchen zu schlagen, baute Shannon Maschinen, die ohne Menschen kommunizierten.

Shannons schwarze Kiste

Als Allegorie auf Leben und Tod, auf Werden und Vergehen kann sicherlich eine seiner ebenso merkwürdigsten wie unsinnigsten Maschinen angesehen werden. Es ist eine schwarze Kiste, die einen Schalter besitzt, und in seinem Büro stand. Stellte ein Besucher oder Freund diesen Schalter auf "On", fuhr eine Hand aus der Box, langte nach dem Schalter und legte ihn selbsttätig wieder auf "Off". Danach zog sich die Hand wieder in die Kiste zurück.

Staunend und verblüfft standen die Beobachter vor dieser Black Box, der sie nicht mehr brauchte. Während die Menschen grübelten und zwischen Selbst- und Fremdreferenz hin und her oszillierten, tat die Maschine das, was sie tat. Und genau das tat auch Shannons Körper am 25. Februar diesen Jahres. Er stellte den Hebel einfach auf Off.

Claude Elwood Shannon: Ein/Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie. Herausgegeben von Friedrich Kittler, Peter Berz, David Hauptmann, Axel Roch, Berlin: Brinkmann & Bose 2000, 335 Seiten, 80 Mark.

Zusätzlich verwendete Literatur:

Jacques Lacan: Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Olten: Walter Verlag 1980.
Gilles Deleuze/Michel Foucault: Der Faden ist gerissen. Berlin: Merve Verlag 1977.
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt: Suhrkamp 1984

(BILD 5: Shannon in jungen Jahren)