Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien

Seite 3: III.3: Die Tagesschau und die Ukraine

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Vor drei Jahren, vom Frühling bis Herbst 2014, geschah etwa bis dato ganz Ungewohntes, das auch heute noch als exemplarisch für die bis hierher skizzierten Vorgänge gelten kann. Nach umfassender Zuschauerkritik an der Berichterstattung der ARD-Nachrichtensendung Tagesschau über die damaligen Vorgänge in der Ukraine schloss sich auch der ARD-Programmbeirat dieser Kritik an.

Teilweise konnten diese Vorgänge im Blog der Tagesschau beobachtet werden. Kai Gniffke, der Chefredakteur von ARD aktuell, zog darin am 29. September 2014 eine Zwischenbilanz zur Ukraine-Berichterstattung in der Tagesschau (mittlerweile offline6). Als Reaktion auf Kritik von Zuschauern und Programmbeirat räumte Gniffke Versäumnisse ein, etwa hinsichtlich der Akzentuierung bestimmter Themen und Sichtweisen und des Erkennens möglicherweise manipulierter Informationen. Insgesamt, so Gniffke, "widersprechen [wir] aber ganz energisch den Vorwürfen einer gezielten Desinformation oder beabsichtigen Manipulation von Informationen in der Tagesschau." Wenige Tage später, am 2. Oktober 2014, schrieb Gniffke einen weiteren Beitrag, in dem er sich für einen Fehler in der Berichterstattung entschuldigte. In einem Bericht im Mai 2014 seien Schützen fälschlich der Seite der prorussischen Separatisten zugeordnet worden. Einen Tag später ging auch der Autor des fraglichen Berichts, Udo Lielischkies, persönlich auf den Fehler ein.

Ähnlich wie die New York Times im Fall ihrer Irak-Berichterstattung in den Jahren 2003 bis 2004 übte sich auch hier ein großer, angesehener Vertreter des Systems der Massenmedien in Selbstkritik und Rechtfertigung; die vorgebrachten Argumente ähnelten denen der NYT-Herausgeber. Systemtheoretisch war in den Dialogversuchen der Tagesschau-Redaktion der Versuch eines Systems zu beobachten, vom System beobachtete Störungen (die den Status des Systems gefährdende Kritik) so zu verarbeiten, dass sich das System wieder stabilisieren konnte. Doch anders als noch bei der NYT war der Fall für die Tagesschau nicht so einfach erledigt.

Denn viele Rezipienten ließen sich von Gniffkes und Lielischkies Statements nicht weiter beeindrucken. Zum einen wurde in über 500 Leserkommentaren Gniffke eine "herablassende Attitüde" vorgeworfen, die "an […] die SED im Osten" erinnere. Gniffke betone, so ein Leser, "wortreich Selbstverständlichkeiten", die man "schlicht erwarte. Und zwar ohne larmoyanten Tonfall."

Zum anderen wurden in den Kommentaren eine Reihe weiterer scheinbarer Grenzfälle der Berichterstattung diskutiert, inbesondere ein Tagesthemen-Bericht über eine Demonstration von Regierungsanhängern. In den entsprechenden Beiträgen kam das Grundproblem der gesamten Debatte deutlich zum Vorschein. So kommentierte ein Leser von Gniffkes erstem Blogbeitrag:

Hallo Herr Gniffke, danke für Ihre Selbstkritik. Hoffentlich ein guter Anfang. Dann schauen Sie sich bitte noch einmal die Berichterstattung von Herrn Lielischkies zum "Protesttag" von Herrn Achmetow am 20. Mai 2014 in Donetsk an mit den angeblichen "zehntausenden Menschen" (Frau Miosga) im Stadion der Stadt. Vergleichen Sie dann bitte die Bilder von anderen Quellen aus dem Stadion (youtube z.B.), die bestenfalls einige hundert Teilnehmer zeigen. Das war in meinen Augen eine schlimme Falschinformation seitens der Tagesschau/Tagesthemen. […]

Kai Gniffke beteiligte sich im Kommentarbereich an der Diskussion und ging direkt auf diesen Leser ein:

Wir haben nie behauptet, dass im Stadion "Zehntausende" Menschen waren. Schließlich haben wir dann ein ziemlich leeres Stadion gezeigt (nicht nur bei YouTube). Landesweit waren es tatsächlich Zehntausende - vor allem Mitarbeiter von Achmetow - und genau das haben wir gesagt.

Diese Erklärung Gniffkes wurde jedoch scharf zurückgewiesen:

Genau das ist Ihr Problem. Sie kommen damit nicht mehr durch. Der Bericht über das Stadion und die Texte dazu kann sich jeder anschauen. […] Der Bericht war so gemacht (und zwar in voller Absicht!), dass Zuschauer, die sich nicht täglich mit den Hintergründen beschäftigen und viele Quellen auswerten, sondern nur einmal abends eine Nachrichtensendung einschalten, den Eindruck gewinnen MUSSTEN, das Stadion sei voll von Protestlern und es gebe dort ein große anti-russische Mehrheit. Dafür sorgten u.a. die manipulativen Bildausschnitte. […]

Ähnlich ein weiterer Leser:

Sie haben kein leeres Stadion gezeigt. Sie haben vielmehr den Bildausschnitt so gewählt, das die rund 300 formatfüllend ins Bild gesetzt wurden. Sie behaupten "Landesweit waren es tatsächlich Zehntausende", Bilder davon zeigen Sie jedoch nicht. Warum?

Auffällig ist an dieser Debatte erstens, dass es früher undenkbar schien, dass sich die deutsche Institution des Fernsehjournalismus gegenüber - sich teils geradezu anklagend gebenden - Zuschauern und Lesern rechtfertigen und erklären muss. Auch früher schon gab es Kritik am öffentlich-rechtlichen Fernsehen, insbesondere wurde die parteipolitische Neutralität von ARD und ZDF angezweifelt (nach dem Schema: ARD links, ZDF rechts). Auch offensichtliche Fehler mussten schon richtiggestellt werden. Doch scheinbar waren im Herbst 2014 die Vorwürfe der Manipulation, Desinformation und Propaganda inzwischen so umfassend, dass ein Statement von oberster Stelle nötig schien.

Wieder in den Begriffen der kommunikativen Sequenz ausgedrückt: (1) Zur Erzählung (Ukraine-Berichterstattung) kamen (2) kritische Stellungnahmen diesmal nicht nur von anderen massenmedialen Akteuren (Programmbeirat, andere Massenmedien), sondern von Rezipienten außerhalb des traditionellen Systems der Massenmedien (in ihren zahlreichen Kommentaren), worauf (3) Relativierungen der Stellungnahmen folgten (die rechtfertigenden Blogbeiträge der Tagesschau).

An dieser Stelle ist der Unterschied zu früher zu beobachten: Im Fall der NYT fand die gesamte Sequenz innerhalb des Systems der Massenmedien statt, der Konflikt wurde im System bearbeitet. Im Fall der Tagesschau verlagerte sich der Konflikt auf die Beziehung von System und Umwelt. Mitverantwortlich war sicher die gewählte Form. Die NYT nutzte die klassische, nur in ganz besonderen Fällen gewählte Form eines Beitrags der Herausgeber. Die Tagesschau verwendete hingegen ihr bereits vorhandenes Blog, das per se ein partizipatives Format ist, dem man auch eine persönlichere Note zuschreibt.

Funktion und Format der Rechtfertigung standen damit für eine neue Qualität der Interaktion zwischen massenmedialen Akteuren und ihrer Rezipienten. Es ging in den Blogeinträgen und den Kommentaren gar nicht nur um die Sache selbst, sondern auch um Produzenten und Rezipienten als konkrete Akteure mit je individuellen Weltbildern und entsprechenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Nicht der Ukraine-Konflikt als Ereignis erster Ordnung war Thema, sondern ein Konflikt zweiter Ordnung zwischen Produzenten und Rezipienten stand im Zentrum.

Die Tagesschau-Redaktion musste sich seitdem immer wieder mit kritischen Kommentaren auseinandersetzen. So kam es nach den Ukraine-Vorgängen bald zu einem weiteren, ähnlich gelagerten Fall. Am 15. November 2014 berichtete die Tagesschau vom damaligen G20-Gipfel in Brisbane und illustrierte dies mit einem Foto, das den russischen Präsidenten Wladimir Putin allein an einem Tisch zeigte. Sie erweckte damit den Eindruck, dass Putin unter den anderen anwesenden Staatschefs isoliert wäre ("einsam und verlassen", so die Bildunterschrift). Der Medienjournalist Stefan Niggemeier und in der Folge andere Massenmedien wiesen danach darauf hin, dass neben Putin auch die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff an dem Tisch saß.

Kai Gniffke verfasste darauf einen Blogbeitrag, indem er die Bildauswahl und Bildunterschrift rechtfertigte: "Nun weiß ich nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie auf einer Party am 8er-Tisch sitzen und links und rechts neben Ihnen jeweils drei bzw. zwei Stühle frei bleiben. Ich nenne das einsam und verlassen. Ob mit oder ohne Rousseff, mit oder ohne Kellner, das Bild erzählt genau diese Geschichte: Putin ist isoliert."7

Zum emotionalen Höhepunkt dieser Blogreihe kam es 2015 nach den Terroranschlägen in Paris. Die Tagesschau berichtete über eine Demonstration, an der augenscheinlich auch viele bekannte Politiker teilnahmen. In der Berichterstattung waren Bildausschnitt und Wortlaut so gewählt, dass der Eindruck entstand, Politiker und sonstige Bürger marschierten bei der Demonstration als ein gemeinsamer Block. Später wurde bekannt, dass es sich um zwei aus Sicherheitsgründen getrennte Blöcke gehandelt hatte. In der Folge machte, auch massenmedial, die Erzählung der "Verschwörung von Paris" die Runde, und Kai Gniffke sah sich erneut in der Situation, die Berichterstattung seiner Nachrichtenredaktion zu erklären - wobei er recht emotional wurde: "Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wieder richtig auf die Fresse bekomme: Mir langt's."8