Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien

Seite 5: III.5: Head Canon und Krisis des Wissens

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Diese Essay-Reihe spielt mit dem Begriff "Head Canon" oder, etwas sperrig, dem Kanon im Kopf, als paradoxes Gegenstück zum eigentlichen, überindividuellen Kanon-Begriff. Wie im letzten Teil der Reihe gezeigt, stammt der Begriff aus der Popkultur und beschreibt das Füllen wahrgenommener Lücken in fiktionalen Erzählungen.

Doch im nichtfiktionalen Bereich ist es ähnlich: Wenn Judith Miller Jahre später ihre alten NYT-Arbeiten zum Irak-Krieg einordnet - wenn Colin Powell seine UN-Rede 2003 rückblickend als auf fehlerhaften Geheimdienstberichten basierend rechtfertigt - wenn Kai Gniffke wiederholt die Berichterstattung der Tagesschau-Redaktion verteidigt - und wenn vor allem täglich tausende Kommentare unter Medienberichten geschrieben werden, die diese Berichte teils scharf kritisieren: Dann ist auch dies das Ausfüllen wahrgenommener Lücken. Ein Narrativ wird als unvollständig oder falsch erkannt; individuell versucht man, diese Lücken zu füllen und Zusammenhang in die Geschichte zu bringen.

Im Fall vieler Kommentare unter journalistischen Arbeiten meint dies oft, dass dem in den Medien behaupteten Wissen - den zugrundeliegenden Annahmen und Weltbildern, sowie den behaupteten Fakten - nicht vertraut wird und dass dem mit Alternativen entgegnet wird. Dabei wird manchmal mehr geahnt als gewusst, dass es noch mehr geben könnte; Ahnungen differenzieren sich durch fortschreitende Kommunikation mitunter zu "anderem" Wissen aus.

Dieses Verhältnis von Medienberichten und Kommentaren ist ein Beispiel für ein gesellschaftliches Phänomen, das der Soziologe Helmut Willke in seinem Band "Dystopia"14 als Krisis des Wissens bezeichnet: "die Unfähigkeit, mit Nichtwissen kompetent umzugehen".15 In Willkes Begriffen kann man das Aufkommen von kritischen Rezipientenkommentaren und die Verbreitung professioneller alternativer Medien als Zurückweisung einer "Wissenselite" (hier eben der bis dato vorherrschenden Massenmedien) bezeichnen. Nach Willke schöben sich heute andere "ungehörige" Quellen des Wissens in den Vordergrund16, "ungehörig" jeweils aus Sicht der vorher etablierten Wissensquellen. Willke nutzt bewusst den Begriff Krisis und nicht Krise. Mit letzterem Begriff verbindet man oft Ungewissheit und vielleicht auch Unlösbarkeit; eine Krisis hingegen ist der Höhepunkt einer Entwicklung, deren Ende bereits absehbar ist und nach der etwas Neues folgt.

Vor diesem Hintergrund gewinnt heute die eigene Entscheidung für bestimmte Medien und damit bestimmte Sichtweisen auf Wirklichkeit an Bedeutung. Diese Entscheidung, wenn sie ernstgemeint ist, nimmt einem keine "Filterblase" ab, sondern man hat sie als Rezipient immerzu erneut zu treffen. Die Aktivitäten jahrzehntelang erfolgreicher Medien sind mehr denn je nur Angebote, zu denen es nun neue Alternativen gibt, die sich in Verbreitung und Aufmachung ebenso professionell geben, aber sich durch teils grundsätzlich andere Narrative auszeichnen.

Die Aufgabe medienkompetenter Rezipienten wäre es, diese neue Vielfalt vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung und möglicher Alternativen zur eigenen Erfahrung (d.h. einfach anderer Perspektiven) zu reflektieren, statt Medien nur ritualhaft (wie einst die Tagesschau, siehe Schmitz) und selbstbestätigend zu konsumieren, oder sie alternativ nur als "Lügenpresse" abzustempeln. Beides - ritualisierte Akzeptanz und ritualisierte Abwehr - werden der Komplexität der heutigen Gesellschaft und ihrer Medien nicht gerecht, zumindest wenn man Willke darin zustimmt, dass die Krisis des Wissens verlangt, neben dem als Wissen akzeptierten auch das jeweilige "komplementäre Nichtwissen"17 zur Kenntnis zu nehmen.

"Nichtwissen" meint nicht einfach "falsch" im Gegensatz zu "wahr", oder gar, dass alternative Medienangebote per se als falsch zurückzuweisen wären, sondern die konstruktivistische erkenntnistheoretische Position, dass immer Alternativen denkbar sind.

Ein derart dauerreflektierter Zugang ist allerdings leichter zu fordern als durchzuhalten, denn wenn das ordnungsstiftende Ritual seine Bedeutung verliert und es keinen Kanon gibt, auf den man sich stützen kann, dann bleibt zunächst anstrengende Verunsicherung. Dirk Baecker hat diese Verunsicherung poetisch formuliert: "Das Individuum der nächsten Gesellschaft spielt, wettet, lacht und ist ratlos. Es zählt wie in der Stammesgesellschaft, fühlt wie in der Antike, denkt wie in der Moderne und muss sich dennoch jetzt und heute an der Gesellschaft beteiligen. Es vergewissert sich seiner Gruppe, träumt von seinem Platz, berechnet seine Chancen und erlebt, wie bereits die nächste Verwicklung es überfordert."18 Eine solche Zerrissenheit des Individuums kann nicht nur intellektuell, sondern auch ganz leiblich spürbar sein. Dann ist sie weit weg von der bequemen abstrakt-systemtheoretischen Beobachtungshaltung, die in dieser Essay-Reihe bis jetzt eingenommen wurde, sondern ganz nah am subjektiven alltäglichen Erleben.

Was dies meint und wie dies überhaupt möglich ist - dass eine medienbezogenen Krisis des Wissens leiblich spürbar sein kann - wird im nächsten Teil dieser Essayreihe in Anlehnung an Begriffe des Phänomenologen Hermann Schmitz ausgeführt.