Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien

Seite 2: III.2 Kritik von außen

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Die Miller-Story ist ein Vorgang, der noch ganz traditionell innerhalb des Systems der Massenmedien (System im Sinne Luhmanns) stattfand. Im vorigen Teil dieser Essay-Reihe wies ich auf die typische Struktur medialer Kritik hin. Ich beschrieb sie als einfache kommunikative Sequenz aus (1) Erzählung, (2) Stellungnahme zur Erzählung und (3a) Relativierung der Stellungnahme bzw. (3b) Zustimmung zur Stellungnahme.

Im Fall Millers fanden sowohl die Erzählung (die in eine bestimmte politische Richtung weisende Irak-Berichterstattung der NYT), die Stellungnahmen (Kritik an der Berichterstattung), die Relativierung der kritischen Stellungnahmen (durch Fortsetzen der Berichterstattung in der eingeschlagenen Richtung) sowie später die zunehmende Zustimmung zu den kritischen Stellungnahmen (durch mehr und mehr gegenläufige Berichterstattung) innerhalb massenmedialer Strukturen statt.

Die Leserinnen und Leser dieser Artikel blieben weitgehend außen vor, anders als heute wurden die jeweiligen Texte nur gleichsam archivarisch ins Internet gestellt, ohne dass dort eine direkte Interaktion mit Rezipienten via Kommentarbereichen vorgesehen war. An der Irak-Berichterstattung der NYT kann man beobachten, wie das System der Massenmedien mit Störungen umgeht: wie es labil wird, sich ausdifferenziert und sich wieder stabilisiert. Die Frage ist, ob so etwas heute immer noch so abliefe.

Die Miller-Story steht in dieser Essay-Reihe nämlich auch stellvertretend für die Beobachtung, dass Beiträge in den Massenmedien nur Angebote von Produzenten an mehr oder weniger genau einschätzbare Rezipienten sind, die unter bestimmten Kontexten funktionieren oder scheitern. Systemtheoretisch gedacht, sind Produzenten und Rezipienten je eigene Systeme, die füreinander Umwelt darstellen und die aneinander nur durch Leistungsbeziehungen, sog. strukturelle Kopplungen, gebunden sind.

Daher liegen Widersprüche oft nahe: Je nach Standpunkt liegen womöglich andere Interpretationen desselben Ereignisses vor. Vielleicht werden auch Lücken in den Erzählungen wahrgenommen. Oder die berichteten Fakten selbst werden wie im Fall Miller als falsch erkannt. In diesen Fällen passen die von den Systemen füreinander erbrachten Leistungen nicht zueinander. Um diese Beziehung zu klären, kommt es zu Beobachtungen zweiter oder n-ter Ordnung, also Kritik, Gegendarstellungen, u.ä.

Wollten Rezipienten früher andere Interpretationen anbieten, Lücken füllen oder Fehler korrigieren, blieb der langsame und mühsame Weg des Leserbriefs, ggf. die juristisch wirksame Gegendarstellung, oder die Entscheidung, selbst massenmedial tätig zu werden. Bekanntlich hat sich das mit dem Internet sehr verschoben.

Klassische Leserbriefseiten in Printmedien gibt es zwar immer noch, aber selbst die werden durch Kommentare aus Online-Beiträgen oder verknüpfte Facebook-Postings dominiert. Online ist schon die bloße Anzahl der Kommentare nicht zu vergleichen mit früheren Zeiten, ihre Spontanität und Schnelligkeit sind es ebenso nicht, und auch ihre gegenseitige Bezugnahme - wobei der Ursprungsbeitrag, unter dem die Kommentare stehen, oft schnell in den Hintergrund tritt - hat eine früher unbekannte Qualität.

Beobachtet man die Medienlandschaft der letzten fünf bis zehn Jahre, dann gewinnt man den Eindruck, dass sich insbesondere traditionelle Massenmedien an diese Neuerungen erstmal gewöhnen mussten und dafür unterschiedliche Strategien gefunden haben. Bei der Tagesschau etwa wurde das frühere Diskussionsforum durch Kommentarbereiche unter Artikeln ersetzt, dazu kam ein Blog der Redaktion, in dem bestimmte Entscheidungen der Redaktion erklärt werden, etwa zur Auswahl von Bildern.

Bei den Online-Angeboten von SPIEGEL (SPON) und Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) werden bestimmte Themen (z.B. zu Flüchtlingsfragen) nicht zum Kommentieren freigegeben, und SPON legt offenbar Wert auf das seriös-politisch klingende Wort "Debatte".5 Die Süddeutsche Zeitung spricht ebenfalls von Debatten, beschränkt diese seit 2015 auf einige Themen pro Tag (Leserdiskussionen) und lagert gewöhnliche Kommentare zurzeit auf Disqus aus.

Bei der ZEIT ist Kommentieren auch unter kontroversen Beiträgen immer möglich, wenngleich mit einer im Zweifel konsequent tätigen Moderation. Die tageszeitung (taz) hat in ihrem Blog mit ihren Lesern schon vor Jahren diskutiert, wann Kommentare zu löschen wären. Die sich als "Meinungsmedium" bezeichnende, linksgerichtete Wochenzeitung Der Freitag hat einen großen Communitybereich, der Leserkommentare und Leserblogs vereint. Die rechtsgerichtete Junge Freiheit, die sich "Wochenzeitung für Debatte" nennt, lässt nur Kommentare von Abonnenten der Printausgabe zu. Unter Artikeln des sozialistischen Neues Deutschland schließlich lässt sich lediglich ein Formular zum Absenden von Leserbriefen einblenden.

Es geht im Folgenden nicht um das Für und Wider bestimmter technischer Lösungen zur Partizipation oder um rein pragmatische Gründe (z.B. ökonomischer Art), warum manche Medien Kommentare zulassen, manche nur eingeschränkt und manche gar nicht. Es geht um die kommunikative Funktion, die abgegebene Kommentare in Zusammenhang mit den kommentierten Beiträgen haben, und die Funktion, die sie hinsichtlich Partizipation an massenmedial erzeugten Diskursen erfüllen. Und da zeigt sich, dass Äußerungen der Rezipienten von Medienberichten heute eine ähnlich große Wirkung auf massenmedialen Systemerhalt haben können wie die oben skizzierten Vorgänge zur Irak-Berichterstattung der NYT - nur eben von außerhalb des Systems der Massenmedien stammend.