Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien
- Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien
- III.2 Kritik von außen
- III.3: Die Tagesschau und die Ukraine
- III.4: Die Wandlung des Gatekeepers
- III.5: Head Canon und Krisis des Wissens
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Head Canon: Medien im epikritischen Zeitalter - Teil 3
Im letzten Teil dieser Essay-Reihe wurde am Beispiel der Serie Star Trek Discovery der Kanon-Begriff behandelt ("Sie haben uns angelogen") . Es ging um den von Fans gemachten Vorwurf, dass der Star Trek-Kanon durch die neue Serie missachtet würde. Die Wartezeit bis zur gerade gestarteten zweiten Staffelhälfte wurde durch Interviews und Stellungnahmen der Darsteller und Produzenten überbrückt. Darin wurde erneut betont, dass echte Kanon-Experten an der Serie arbeiten würden. Solche Statements erzählen eine Geschichte, die eine Rechtfertigung des eigenen kritisierten Handelns aufbaut. Einer Erzählung ("der Kanon wird missachtet!") wird eine andere entgegengestellt ("nein, wird er nicht!")
Meine eigene Geschichte - diese Essay-Reihe - wendet sich nun nicht-fiktionalen Geschichten zu, aber unter ähnlichem Gesichtspunkt. In massenmedialen Nachrichtenbeiträgen, Reportagen und Kommentaren werden erstens konkrete Ereignisse erzählt und zweitens übergreifende Narrative erschaffen, fortgeschrieben oder in Frage gestellt.
Dies kommt im Klischee des "rasenden Reporters" zum Ausdruck, der seiner "Story" nachjagt. Manchmal stellen sich diese Geschichten als ungenau, falsch oder einfach nicht zu den Erwartungen der Rezipienten passend heraus, was zu Kritik und dann Rechtfertigung und Erklärung führen mag. Besonders prägnant lässt sich das an großen politischen Konfliktlinien beobachten, wo den Medien mitunter nur ein unbewusstes Richten nach einem Mainstream vorgeworfen wird, manchmal aber auch bewusstes Verschleiern und eindeutiges Lügen, um irgendwelchen politischen Interessen zu dienen.
III.1 Die New York Times und der Irak
Vor dem letzten Irakkrieg (Dritter Golfkrieg) veröffentlichte die US-Journalistin Judith Miller eine Reihe von Artikeln in der New York Times (NYT), in denen sie über Massenvernichtungswaffen in den Händen des damaligen irakischen Diktators Saddam Hussein berichtete. Laut Millers 2015 rückblickend vorgelegtem Buch "The Story"1 speisten sich Millers Artikel aus Ausgaben, die sie von Informanten aus der damaligen irakischen Opposition erhielt, insbesondere dem damals im Exil lebenden Ahmad al-Dschalabi, sowie auf Kontakte in US-amerikanischen Geheimdiensten.
In einem Artikel Millers ging es um Aluminiumröhren, denen eine mögliche Funktion bei der Herstellung von Atomwaffen zugeschrieben wurde. Die US-Regierung nutzte unter anderem diesen Bericht als Rechtfertigung für ihr militärisches Eingreifen im Irak. Die Rolle der Röhren war jedoch nicht so klar, wie der Artikel glauben machte. Stattdessen gab es unterschiedliche Einschätzungen der US-Geheimdienste. Einige Experten glaubten, die Röhren seien ungeeignet, atomwaffenfähiges Uran anzureichern; andere Experten behaupteten das Gegenteil.
Millers Zeitungsartikel trug dazu bei, in den Röhren eine Gefahr zu sehen und die damalige US-Regierung zu überzeugen, militärisch einzugreifen. Auch Teile der bekannten Rede des damaligen Außenministers Colin Powell vor den Vereinten Nationen am 5. Februar 2003 (die er mittlerweile als großen geheimdienstlichen Fehler bezeichnet2) beziehen sich auf diese Röhren.3 Miller selbst ging 2003 als "Embedded Journalist" in den Irak, um unter anderem die Suche nach den vermuteten Waffen zu begleiten.
Nachdem nichts Entscheidendes gefunden wurde und sich später auch die Berichte bezüglich der Aluminiumröhren als falsch herausgestellt hatten, entschuldigte sich die NYT am 26. Mai 2004 in einem großen Aufmacher für die Berichterstattung.4 Darin zeigten sich die Herausgeber selbstkritisch. Nicht nur die Autoren der Artikel hätten die Angaben ihrer Quellen besser prüfen müssen; auch die Redaktionen und Herausgeber hätten die Artikel ihrer Autoren hinterfragen müssen, was zu selten geschehen sei. Auch seien Artikel, die Gegenpositionen enthielten, immer wieder zu weit hinten im Blatt versteckt gewesen. Die Herausgeber ergänzten ihre Kritik mit einer thematisch sortierten Sammlung mehrerer Artikel, wohl auch um zu belegen, dass tatsächlich Gegenpositionen erschienen waren.
Judith Miller verließ 2005 die Zeitung. Zehn Jahre später veröffentlichte Miller das erwähnte Buch "The Story", in dem sie die Zusammenhänge um die Irak-Berichterstattung aus ihrer Sicht erzählte. Sie wies auf großen Zeitdruck hin, unter dem die Artikel entstanden. Sie führte weitere von ihr veröffentlichte Texte an, in denen sie auch auf andere Sichtweisen hingewiesen hätte, die aber wenig prominent nur im Innenteil der Zeitung gedruckt gewesen seien. Sie betonte letztlich mehrfach, dass sie stets die Grundsätze journalistischer Neutralität geachtet hätte.
Eine Rezension, die zu Millers Buch in der NYT erschien, nahm ihre Rechtfertigungen eher negativ auf. Miller hätte sich vor allem auf die Position zurückgezogen, nur berichtet zu haben, was ihre Quellen ihr berichtet hatten. Dies wäre zu wenig gewesen.