"Konservative Parteien zerstören die EU"

Archivbild: EuropÀisches Parlament
Kritik an Aufhebung von ImmunitÀt des katalanischen ExilprÀsidenten Puigdemont durch Europaparlament. Streit nun vor Gerichten. Spanische Regierung wackelt
"CDU/SPD/FDP haben gerade die ImmunitĂ€t meiner Kollegen Puigdemont, Comin, Ponsati aufgehoben. Ein Parlament, das nicht einmal seine eigenen Mitglieder vor politischer Verfolgung schĂŒtzt, kann die Pforten dicht machen... Kein Smiley".
So fĂ€llt die Reaktion des Partei-Europaparlamentariers Martin Sonneborn [1] dazu aus, dass das Europaparlament (EP) heute dem katalanischen ExilprĂ€sidenten Carles Puigdemont und seinen ehemaligen Ministern Clara PonsatĂ und Toni ComĂn die ImmunitĂ€t aberkannt hat. Per Twitter erklĂ€rte der Partei-ParteigrĂŒnder zudem: "Die konservativen Parteien zerstören die EU."
Das Ergebnis war angesichts des enormen Drucks aus Spanien und der Vorentscheidung im Rechtsauschuss zu erwarten. Abgeordnete aus ganz Europa heben aber hervor, dass es nur eine Zustimmung von knapp 58 % gab. So twittert der französische Abgeordnete der Fraktion der GrĂŒnen, Roccu Garoby, dass in diesem Fall nur 400 Abgeordnete fĂŒr den spanischen Antrag gestimmt haben [2]. Ăblich seien in solchen FĂ€llen aber "600 - 650" Stimmen. "Die spanische 'Justiz' hat gewonnen, doch der Kampf fĂŒr die Freiheit und die Selbstbestimmung gehen weiter", meint er.
Die GrĂŒnen-Fraktion hatte einstimmig beschlossen, sich gegen die Aberkennung der ImmunitĂ€t zu stellen. Der DĂ€ne Nikolaj Villumsen spricht deshalb nun von einer Schande. Seiner Meinung nach wird die "Demokratie und die Meinungsfreiheit" angegriffen [3]. "Das Positive ist, dass 248 Parlamentarier dem Druck standgehalten und die Demokratie verteidigt haben."
Schon nach der Entscheidung im Rechtsausschuss hatte der stellvertretende grĂŒne Vorsitzende des Ausschusses Sergey Lagodinsky getwittert [4]: "Ich bin bei vielen Fragen nicht einer Meinung mit Puigdemont, aber seine Strafverfolgung ist politisiert und unverhĂ€ltnismĂ€Ăig!"
Rechte feiern, Linke beklagen "schwerwiegenden PrÀzedenzfall"
Angesichts der Freude der ultrarechten spanischen Vox-Partei ĂŒber die Ausschuss-Entscheidung, hatte der Deutsche erklĂ€rt, "richtig (mit der Minderheit) gestimmt" zu haben. Es ist auffĂ€llig, dass sich vor allem linke KrĂ€fte hinter die Katalanen gestellt haben. So hatte die Französin Manon Aubry im Vorfeld davor gewarnt, dass im Europaparlament (EP) einen "schwerwiegenden PrĂ€zedenzfall" geschaffen werde, wenn es seine "Mitglieder der politischen Verfolgung eines Mitgliedstaates" ausliefert.
Das Mitglied der linken Partei "La France Insoumise" und Mitglied im Rechtsausschuss erklĂ€rte, dass das Parlament "keine souverĂ€ne Versammlung, die Rechtsstaatlichkeit garantiert, sondern eine demokratische Parodie [5]" sei, wenn sie den drei Katalanen die ImmunitĂ€t aberkennt. Sie verwies darauf, dass die DurchfĂŒhrung eines Referendums ĂŒber die UnabhĂ€ngigkeit "kein Verbrechen ist" [6]. Nach der Abstimmung hat Aubry nachgelegt und erklĂ€rt: "Das Parlament vergibt einen Freibrief zur Verfolgung politischer Gegner [7]."
"Nichts gewonnen" - Belgien entscheidet
Auch der spanische Antikapitalist Miguel Urban hat mit Nein gestimmt, weil es darum gehe, "demokratische Grundrechte zu garantieren" [8]. Auch er verweist darauf, dass es die Rechtsradikalen sind, die die Entscheidung feiern, mit denen sich auch die Sozialdemokratie verbĂŒndet hat. Urban weist darauf hin, dass ohnehin nichts gewonnen sei. Denn ĂŒber eine Auslieferung der drei Katalanen mĂŒsse nun "die belgische Justiz entscheiden [9] und es sieht nicht danach aus, dass die dafĂŒr ist."
Denn dass Belgien Puigdemont und seine Mitstreiter ausliefern wird, ist sehr zweifelhaft. Darauf hatte Telepolis mehrfach hingewiesen. Das hat damit zu tun, dass Spanien fĂŒr seine VorwĂŒrfe keine Beweise hat. Deshalb hat weder GroĂbritannien noch die Schweiz oder Deutschland Exil-Katalanen an Spanien ausgeliefert. Das Oberlandesgericht in Schleswig konnte eine Rebellion (ein bewaffneter militĂ€rischer Aufstand nach spanischem Recht) nicht sehen, der auch Puigdemont vorgeworfen wurde.
Die deutschen Richter konnten aber auch keinen "Aufruhr" erkennen, da damit ebenfalls ein erheblicher Einsatz von Gewalt einhergehen muss [10]. Nur wegen angeblicher Veruntreuung hĂ€tten Deutschland Puigdemont ausgeliefert, da sie diesen Vorwurf als Katalogstraftat nach dem EuropĂ€ischen Haftbefehl gewertet haben, weshalb sie die VorwĂŒrfe nicht hĂ€tten prĂŒfen dĂŒrfen.
Das hat allerdings die belgische Justiz im Fall des ehemaligen Kultusministers Lluis Puig getan. Und auf das inzwischen rechtskrĂ€ftige Entscheidung gegen eine Auslieferung von Puig bezieht sich auch der spanische Europaparlamentarier Urban. Denn damit sei in BrĂŒssel lĂ€ngst auch eine Vorentscheidung ĂŒber eine Auslieferung von Puigdemont, PonsatĂ und ComĂn gefallen. Dieses vernichtende Urteil haben der Rechtsausschuss und die Mehrheit der Europaparlamentarier einfach ignoriert.
Auch die belgischen Richter fanden in der ersten - und der zweiten - Instanz keine Beweise fĂŒr einen angeblichen Aufruhr [11]. DafĂŒr wurden in Spanien aber ehemalige Mitglieder der Puigdemont-Regierung und Aktivisten von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu bis zu 13 Jahren Haft verurteilt [12].
Es gibt viele bemerkenswerte Punkte an dem Urteil zu Puig, in dem sich ein Tritt vor das Schienbein der spanischen Justiz an den anderen reiht. Angesichts der Klarheit des Urteils traute sich die Staatsanwaltschaft nicht einmal mehr, die letzte Instanz anzurufen. Die Richter in BrĂŒssel verwiesen zum Beispiel auf die UN-Arbeitsgruppe fĂŒr willkĂŒrliche Inhaftierungen. Die fordert seit langem und wiederholt die Freilassung der inhaftierten Katalanen [13].
Sie hatte auch argumentiert, dass der Oberste Gerichtshof in Madrid nicht fĂŒr die Katalanen zustĂ€ndig ist, an dem das Verfahren gegen die Katalanen durchgezogen wurde. Der Gerichtshof hat auch die EuropĂ€ischen Haftbefehle ausgestellt.
Damit werden gleich zwei zentrale RechtsgrundsĂ€tze einer Demokratie verletzt. Wird das Verfahren in Madrid gefĂŒhrt, wird das Recht auf einen gesetzlichen Richter in Katalonien ausgehebelt. Obendrein wird das Berufungsrecht ausgehebelt. Der Oberste Gerichtshof in Madrid ist nĂ€mlich damit gleichzeitig die erste und letzte Instanz.
Die belgischen Richter zweifelten im Fall Puig sogar an, dass ihn in Spanien ein fairer Prozess erwartet hĂ€tte. Auch in Belgien ist bekannt, dass der StraĂburger Menschengerichtshof spanische Urteile gegen baskische Politiker kassiert hat, die in unfairen Prozessen zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren [14].
Weiterhin ist bemerkenswert, dass die belgischen Richter auch ihr UnverstĂ€ndnis darĂŒber ausdrĂŒcken, dass Politikern wie Puig - letztlich auch Puigdemont und ComĂn - dem Vorwurf der "Korruption" oder "Veruntreuung" von Steuergeldern ausgesetzt sind, da Geld zur "DurchfĂŒhrung eines Referendums" eingesetzt worden sei.
SchlieĂlich habe "die gesamte Bevölkerung, BefĂŒrworter und Gegner" daran teilnehmen können. Der Gerichtshof in BrĂŒssel verwies zudem darauf, dass die "DurchfĂŒhrung eines Referendums auch nach spanischem Recht nicht strafbar ist" [15].
Da die FĂ€lle praktisch gleich sind, ist sehr unwahrscheinlich, dass im Fall Puigdemont, PonsatĂ und ComĂn anders entschieden wird. Eigentlich war mit dem Puig-Urteil lĂ€ngst das gesamte Verfahren im Europaparlament hinfĂ€llig. Statt den geordneten RĂŒckzug anzutreten, hat es sich auf Druck Spaniens entschieden, den Katalanen die ImmunitĂ€t abzuerkennen.
Lehnt die belgische Justiz nun aber die Auslieferungen ab, hat sich das Europaparlament lĂ€cherlich gemacht und weiter an GlaubwĂŒrdigkeit verloren.
Allerdings ist das nicht der einzige juristische Weg.
Klage am EuropĂ€ischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg angekĂŒndigt
Puigdemont, der ebenfalls von einer "politischen Verfolgung" spricht, hat auch eine Klage am EuropĂ€ischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg angekĂŒndigt, "um den Schaden an der europĂ€ischen Demokratie zu reparieren" [16], die seiner Ansicht nach in dem Verfahren verloren hat. Wie er haben auch ComĂn und PonsatĂ auf diverse UnregelmĂ€Ăigkeiten in dem Vorgang verwiesen.
"Sie können entscheiden, in wie vielen ZĂŒgen sie Schachmatt sind", erklĂ€rte der Puigdemont-Anwalt Gonzalo Boye selbstbewusst [17], der sich allerdings ebenfalls fadenscheinigen Anschuldigungen ausgesetzt sieht [18].
So wurde zum Beispiel im Rechtsausschuss mit Kopieren und EinfĂŒgen auch Ponsati der Vorwurf der Veruntreuung gemacht und abgenickt. Da ihr das nicht einmal Spanien vorwirft, musste der Ausschuss seinen Beschluss sogar revidieren. Das ist nach Ansicht von Juristen aber nicht möglich. Zudem hatte sich der Referent durch Stellungnahmen disqualifiziert.
Der ultra-konservative Angel Dzhambazki von der "Nationalen Bewegung Bulgariens" ist nicht nur fĂŒr seine rassistischen ĂuĂerungen bekannt, er hatte auch eingestimmt, als ein Vox-Freund von ihm im Europaparlament rief: "Puigdemont in den Knast" [19].
Zu erinnern sei auch daran, dass es erst der EuGH war, der Puigdemont, PonsatĂ und ComĂn ihre Sitze im Parlament zugewiesen hatte. Denn auch die hatte ihnen der frĂŒhere ParlamentsprĂ€sident verweigert [20]. Und zu erinnern ist auch daran, dass der höchste Gerichtshof in der Gemeinschaft auch dem Chef der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) eine ImmunitĂ€t zugesprochen hat [21]. Doch Spanien weigert sich, diese Entscheidung umzusetzen und den Gefangenen freizulassen.
Hatte Oriol Junqueras in den letzten Wochen einen begrenzten Freigang, wurde ihm und anderen politischen Gefangenen der ausgerechnet heute wieder abgesprochen, was fĂŒr viele in Katalonien kein Zufall ist [22].
Krach in der spanischen Linksregierung
Klar ist, dass die Lage der spanischen Linksregierung, die diesen Namen nicht verdient, ĂŒber diese VorgĂ€nge noch schwieriger wird, in der es lĂ€ngst gehörig kracht [23]. Offiziell begrĂŒĂt die Regierung die Entscheidung im Europaparlament und spricht von einer "StĂ€rkung des Rechtsstaats" und der "spanischen Justiz" [24].
Dabei ist auch klar, dass die Sozialdemokraten (PSOE) auch dabei nur fĂŒr sich sprechen. Denn der Koalitionspartner Unidas Podemos (UP) hat mit der Linken dagegen gestimmt, den Katalanen die ImmunitĂ€t zu entziehen.
Da die PSOE dafĂŒr gestimmt hat, drohte die ERC nun, der PSOE-UP-Minderheitsregierung ihre UnterstĂŒtzung zu entziehen [25]. Nur mit den Stimmen der Katalanen konnte Pedro SĂĄnchez Regierungschef werden und nur mit den ERC-Stimmen bekam er kĂŒrzlich seinen Haushalt durch das Parlament [26].
Die Lage wird also erneut instabiler in Spanien und mit den VorgĂ€ngen ist eine Vorentscheidung fĂŒr eine katalanische Regierung unter ERC-FĂŒhrung mit UnterstĂŒtzung der Puigdemont-Partei (Junts) und der antikapitalistischen CUP gefallen. Die drei UnabhĂ€ngigkeitsparteien erhielten kĂŒrzlich bei der Wahl eine Mehrheit von knapp 52 % der Stimmen [27].
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[1] https://twitter.com/MartinSonneborn/status/1369213282121363457
[2] https://twitter.com/rgaroby/status/1369205892416237569
[3] https://twitter.com/nvillumsen/status/1369204169463201794
[4] https://twitter.com/SLagodinsky/status/1364311777438289920
[5] https://twitter.com/ManonAubryFr/status/1364281101473218563?ref_src=twsrc%5Etfw
[6] https://twitter.com/ManonAubryFr/status/1368986198530744322
[7] https://twitter.com/ManonAubryFr/status/1369207094436651009
[8] https://twitter.com/MiguelUrban/status/1369211867206451203
[9] https://twitter.com/MiguelUrban/status/1369211869710389250
[10] https://www.heise.de/tp/features/Katalanischer-Regierungschef-Puigdemont-darf-an-Spanien-ausgeliefert-werden-4108835.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Belgische-Justiz-tritt-Spanien-nun-noch-fester-vors-Schienbein-4866050.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/Wahlurnen-friedlich-aufzustellen-ist-in-Spanien-nun-Aufruhr-4555295.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/UNO-Willkuerliche-Inhaftierungen-der-Katalanen-in-Spanien-4435994.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Spanien-fuer-erfundene-Anschuldigungen-von-Menschenrechtsgerichtshof-verurteilt-4213487.html
[15] https://elmon.cat/politica/belgica-retreu-a-espanya-que-consideri-corrupcio-organitzar-un-referendum-on-pot-votar-tothom-200099
[16] https://www.elnacional.cat/es/politica/puigdemont-suplicatorio-parlamento-europeo-advierte-estado-espanol-42-recurso-luxemburgo_590103_102.html
[17] https://www.lavanguardia.com/politica/20210309/6266313/abogado-puigdemont-decidir-movimientos-quieren-jaque-mate.html
[18] https://www.heise.de/tp/features/Spanien-zerrt-nun-auch-Puigdemonts-Anwalt-vor-Gericht-4998332.html
[19] https://twitter.com/aleixsarri/status/1361646779163361281?ref_src=twsrc%5Etfw
[20] https://www.heise.de/tp/features/Katalanischer-Exil-Praesident-Puigdemont-sitzt-nun-doch-im-EU-Parlament-4621750.html
[21] https://www.heise.de/tp/features/EuGH-Urteil-Katalanischer-Ex-Vizepraesident-sitzt-illegal-im-Gefaengnis-und-nicht-im
[22] https://www.eldiario.es/catalunya/juez-revoca-tercer-grado-presos-proces-no-podran-salir-trabajar_1_7288203.html
[23] https://www.heise.de/tp/features/Es-kracht-in-der-spanischen-Linksregierung-Bis-hierhin-und-nicht-weiter-5067506.html
[24] https://www.eldiario.es/sociedad/ultima-hora-coronavirus-actualidad-politica-9-de-marzo_6_7287611_1064785.html
[25] https://www.eldiario.es/sociedad/ultima-hora-coronavirus-actualidad-politica-9-de-marzo_6_7287611_1064785.html
[26] https://www.heise.de/tp/features/Spanien-Wir-wollen-eine-fuer-die-Menschen-nuetzliche-Linke-sein-4978242.html
[27] https://www.heise.de/tp/features/Katalonien-rueckt-weiter-nach-links-5055725.html
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