Konsolidierung, Kollaps, Katastrophe

Die neuen drei Losungsworte des Online-Publishing

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Jedermann, der in diesen Tagen die Überschriften in den Wirtschafts- und Technologierubriken überfliegt, könnte leicht den Eindruck bekommen, dass das ganze Internet dabei ist, dichtzumachen. Ladenschluss, Lichter aus, bitte brav nach Hause gehen. Natürlich wird das Netz nicht zumachen, aber in der derzeitigen Rückschlagsphase geht außer Arbeitsplätzen noch etwas mehr verloren.

"Egal, wie oft sie darüber schreiben: Geschichten über Entlassungen in den Online-Medien gehören für die Journalisten, die sie verfassen, derzeit zu den beunruhigendsten", schrieb Michaela Cavallaro am 30. März. "Wie sollte man auch in aller Ruhe eine Geschichte über die Entlassungspläne bei wsj.com, der Online-Version des großartigen Wall Street Journal schreiben, ohne angesichts der Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes in kalten Schweiß auszubrechen?"

So ist es. Frau Cavallaro schrieb das in einer Einleitung zu einem Artikel über die Entlassungen bei wsj.com bei "Media Grok" (to grok = Aus einer Geschichte von Heinlein entlehntes Kunstwort der frühen amerikanischen Hackerszene, das soviel bedeutet wie "ein tieferes Verständnis von etwas entwickeln". - d. Übers.), einer täglich erscheinenden Zusammenfassung technologiezentrierter Wirtschaftsnachrichten im Industry Standard, einem Magazin, das selbst bereits im Februar 69 Mitarbeiter entlassen hatte. Sie hat recht. Man kann nicht erwarten, eine Geschichte über diesen waidwunden Geschäftszweig in einer Online-Publikation wie, sagen wir mal, Telepolis zu lesen, ohne anzunehmen, dass der Verfasser der Geschichte daran auch persönlichen Anteil nimmt. Deshalb werde ich mich hiermit hinstellen und meine Anteilnahme enthüllen. Einer meiner derzeit wenigen regelmäßigen Jobs als freier Journalist ist genau derjenige gewesen, der von Frau Cavallaro erledigt wird. Im Oktober 2000, gerade als der Industry Standard Europe den Betrieb aufnahm, begann ich, zusammen mit Tim Nott, den "Euro Media Grok" zusammenzustellen.

Am Dienstag, den 10. April 2001, verschickte John Batelle, Gründer und Vorstandsvorsitzender von Standard Media International, ein Memorandum, in dem er ankündigte, dass die Fima ab sofort die Veröffentlichung der Print-Ausgabe des Industry Standard Europe aussetzen würde. Während die Website weiterhin existieren würde - worauf man unter anderem auch "Grok" lesen kann... Also abonniert das Ding doch endlich, verdammt nochmal!!! - würde die nächste gedruckte Ausgabe des Magazins "in absehbarer Zeit" die letzte sein.

Von meinem persönlichen Standpunkt aus muss ich natürlich sagen: Scheiße! Was sollte ich auch sonst sagen? Es ist scheiße, und nicht nur deshalb, weil plötzlich über 50 Leute arbeitslos sind. Das ist für sich genommen schon schlimm genug. Und es ist noch nicht mal alles, denn, wie der Guardian herausgefunden hat, hatte ISE-Geschäftsführer Neil Thackray gerade damit begonnen, Gespräche mit potentiellen Käufern zu führen, "als ihm der Stuhl unterm Hintern weggezogen wurde" - von IDG, dem Hauptaktionär von Standard Media.

Aber in seinem formellen Abschiedswort an die Leser des ISE betont Chefredakteur James Ledbetter nochmals, dass Europa ein Magazin wie das seine brauche. Nur wenige würden bestreiten, dass Europa anders an die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen herangeht, die das Internet und zunehmend auch die drahtlosen Kommunikationstechnologien an uns stellen, als es die USA getan haben. Und obwohl die Financial Times, die Frankfurter Allgemeine oder die Libération, um einmal einige wenige Beispiele zu nennen, ihre Aufgabe sehr gut wahrnehmen, wenn es darum geht, eine aktuelle Berichterstattung zu einer Unternehmensverschmelzung, dem Abschied oder der Neueinstellung eines Geschäftsführers oder ähnlichen Vorgängen zu liefern, sind sie nicht so gut, wenn es darum geht, diese Vorgänge in einen größeren Kontext einzuordnen.

Der ISE dagegen, um nur ein Beispiel zu nennen, das aus dem Rahmen der Bericherstattung gewöhnlicher Tageszeitungen herausfällt, hatte Alvin Toffler, den Autor des Bestsellers Future Shock, und Will Hutton, den bekannten Kolumnisten des Guardian, miteinander in eine Debatte darüber gebracht, ob der amerikanische oder der europäische Ansatz letztendlich erfolgreicher sein wird.

Es geht nicht nur um den ISE

Natürlich kämpft momentan nicht nur Standard Media ums Überleben. Auf dem Höhepunkt des Dotcom-Wahns hatten die Internet-Wirtschaftsmagazine, die Mitte der 90er Jahre dem ursprünglich von "Wired" geschlagenen Pfad gefolgt waren (Batelle selbst kam aus der "Wired"-Redaktion, genauso wie die Redakteure James Daly und Russ Mitchell von "Business 2.0"), unglaublich schnell an Umfang zugenommen. Anzeigen von Dotcoms, die darum bemüht waren, eine Markenidentität zu etablieren, ließen die Hefte so dick anschwellen, dass bald Witze darüber gemacht wurden, dass man sie überhaupt nicht mehr alleine hochheben, geschweige denn lesen könne.

Dann natürlich platzte die Blase und das Chaos begann. Da die Erlöse aus dem Anzeigengeschäft so schnell zu versiegen begannen, wie sie ursprünglich angeschwollen waren - "Business 2.0" verkauft heute weniger als die Hälfte der Anzeigenseiten, die sie noch vor einem Jahr an den Mann bringen konnten - fragt man sich heute nicht mehr "ob" oder "wieviele" und "welche" dieser Magazine es nicht mehr schaffen werden, weiterzuexistieren.

Also lesen wir Schlagzeilen, die uns mitteilen, dass Gruner + Jahr "Fast Company" gerade gekauft hat und dass Time Inc. sich in Verhandlungen mit "Business 2.0" darüber befinden, sie aufzukaufen und in das eigene Produkt "eCompany Now" zu integrieren. "Fast Company" und "Business 2.0" sind wohl kaum als Helden des unabhängigen Medienunternehmertums zu sehen. Die Strategie, die sie verfolgen ist die, sich den noch größeren Unternehmen zu ergeben, solange sie überhaupt noch etwas zu verkaufen haben.

Time Inc., ist bekanntermaßen ein Teil des weltgrössten Medienkonzerns AOL Time Warner. Kann man von "Business 3.0", dem momentan in der Szene kursierenden Arbeitstitel für das Ergebnisprodukt aus der Verschmelzung von "Business 2.0" und "eCompany", einen Artikel erwarten, der sich, sagen wir mal, kritisch mit dem Datenschutzgebaren von AOL auseinandersetzt? Das it ungefähr so wahrscheinlich wie ein Artikel über die Vorteile von Linux in dem von Microsoft gesponserten Online-Magazin "Slate".

Unterdessen im Web

Das ist auch ein guter Übergang von den Offline- zu den Online-Medien, die noch viel stärker von den Anzeigen der Dotcoms abhängig waren. Wir brauchen die Opfer hier nicht einzeln zu erwähnen, da die Financial Times, die gerade zehn Prozent der Angestellten von FT.com entlassen hat, das bereits für uns erledigt hat. Werfen Sie einen Blick auf die Liste und Sie werden darauf nicht nur die kleinen Unternehmen finden, sondern auch die Mächtigsten der Mächtigen: Firmen wie CNN, NBC, CNET, Disney, News Corp. und AOL Time Warner ziehen sich allmählich aus dem Online-Geschäft zurück.

Und als ob all diese Geschichten des Scheiterns noch nicht genug gewesen wären, kursieren immer wieder neue Gerüchte durch Mailinglisten und einschlägige Sites. Das neueste Gerücht betrifft Automatic Media, die Firma, die von den Schöpfern der ehrwürdigen Webmagazine "Feed" und "Suck" (und seit neuestem auch des kooperativen Weblogs "Plastic") gegründet worden war. Ihr gehe das Geld aus und sie benötige dringend innerhalb der kommenden zwei bis sechs Wochen eine Finanzspritze, sonst... Bisher war von den Verantwortlichen diesbezüglich kein Kommentar zu vernehmen.

Die Totenwache an den schwindenden Überresten des Webzines "Salon" ist nun schon so oft verlängert worden, dass die eigenartigsten Geschichten um das Projekt kreisen. Kürzlich wollte man vernommen haben, dass man an den geschäftsführenden Redakteur Scott Rosenberg herangetreten sei, damit dieser das Steuer bei "Wired" übernehmen solle, das führerlos ist, seit dessen Chefredakteurin Katrina Heron im März angekündigt hatte, das Magazin zu verlassen.

Nun hat es sich herausgestellt, dass diese Position an Chris Anderson den für die US-Wirtschaft verantwortlichen Redakteur des "Economist" gegangen ist. Aber noch während "Wired"-Eigentümer Condé Nast sich angeblich in Verhandlungen mit Rosenberg befunden hatte, gab dieser der Unterhaltung eine neue Wendung, indem er fragte: Warum sollte Condé Nast stattdessen nicht ganz einfach "Salon" aufkaufen?

Das "Wired"-Gerücht weckt besonders dann Erinnerungen, wenn man sich den kürzlich erfolgten Ausbruch des "Salon"-Redakteurs David Talbot zu Gemüte führt, der auf eines der zahlreichen Gerüchte, dass "Salon" angeblich einen Käufer - irgendeinen Käufer - suche, geantwortet hatte:

"'Salon' steht nicht zum Verkauf und wir sind nicht dabei Pleite zu gehen. Wir haben 'Salon' nicht zum Kauf angeboten. Basta."

Das erinnert an einen verärgerten Louis Rossetto, der 1997 auf seinem Weg in die Bedeutungslosigkeit gesagt hatte:

"'Wired Digital' steht nicht zum Verkauf. Das 'Wired'-Magazin steht nicht zum Verkauf. 'Wired Ventures' stehen nicht zum Verkauf."

Natürlich wurde das Magazin weniger als ein Jahr später an Condé Nast verkauft und 'Wired Digital' sollte bald an Lycos gehen - damals, als es einfach nur Lycos gewesen war, ohne Terra.

Und was soll das alles bedeuten?

Das Körnchen Wahrheit in all diesen Gerüchten ist, dass das Geschäftsmodell, auf dessen Grundlage "Salon" und die meisten anderen Online-Medien während der letzten Jahre gearbeitet haben, heute nicht mehr funktioniert. Mit Anzeigenbannern und einem kleinen Online-Laden in dem Kaffeetassen und T-Shirts verhökert werden, ist einfach kein Staat mehr zu machen. Im vergangenen Monat stellte "Salon" seine Leser vor die Wahl: Entweder größere, nervigere Anzeigen oder eine anzeigenfreie Umgebung, für die dann 30 Dollar pro Jahr zu bezahlen wären. Weder die eine noch die andere Idee waren bisher erfolgreich und tatsächlich hat es sich gezeigt, dass die Rezipienten nichts für Inhalte bezahlen wollen. Am Bekanntesten ist hier das Scheitern von "Slate", dessen Leserschaft sich nicht gravierend von der von "Salon" unterscheidet. Dort hatte man dieses Einkunftsmodell ausprobiert und bald wieder abgeschafft.

Die grösste Hoffnung für die Online-Medien könnten immer noch die Micropayment-Technologien sein, aber, wie das "Wall Street Journal" berichtet, haben "Konsumentenerwartungen auf kostenlose Inhalte sowie die Zurückhaltung der Händler gegenüber den Micropayment-Systemen zu so etwas wie einem e-Stillstand geführt."

Das ist umsomehr frustrierend, als dass es immer geheißen hat: "Content is king". Sie erinnern sich bestimmt noch an die "drei Cs", diese heilige Dreieinigkeit aus "Content", "Community" und "Commerce", die damals, als man die Worte "New Economy" noch aussprechen konnte, ohne manisch grinsen zu müssen, in jeden halbwegs anständigen Businessplan gehört hatten. Keine dieser Komponenten funktioniert derzeit besonders gut.

Heute scheint man alles zu versuchen, die drei Cs durch die drei Ks zu ersetzen: Konsolidierung, Katastrophale Einschnitte oder gar Kollaps. Jetzt, da der NASDAQ-Index, der wichtigste Indikator für unseren Glauben in das neue Medium wieder auf dem Niveau von Frühling 1998 angekommen ist, sind wir mit genau denselben Fragen konfrontiert wie damals: Werden genügend Konsumenten daran interessiert sein, online Artikel zu lesen, dass es sich lohnen könnte, ein Online-Magazin zu betreiben? Können virtuelle Gemeinschaften jene Art emotionale Wertschöpfung generieren, die sich in Gewinne umsetzen lässt? Wird man genügend Geld dadurch sparen können, einen Katalog online zu stellen, dass sich der E-Commerce auch dann rechnet, wenn man noch die Waren an die Kunden liefern muss?

"Es wird Handel im Internet geben", sprudelte Rich Turner, New Yorker Bürochef des Industry Standard vor einigen Wochen in einer Unterhaltung heraus. "Und wenn Amazon es nicht kapiert, dann wird Wal-Mart rauskriegen, wie's geht."

Welch vielsagender Kommentar. Nicht, dass das durch und durch gewerkschaftsfeindliche Amazon ein Vorreiter der Emanzipation und des "jetzt-zeigen-wir's-dem-System-aber" wäre, aber genausowenig ist es Wal-Mart, obwohl dieser als Erster einfallsreiche und faszinierende Marketingtechniken angewandt hat, die geschickt Gemeinschaftsgefühl und Kommerz miteinander vereinen.

Offensichtlich muss niemandem extra gesagt werden, dass, egal was mit all den Geschäften und ihren Internet-Geschäftsmodellen geschehen wird, das Netz selbst ungerührt weiter vor sich hinexistieren wird und "nicht gerettet werden muss". Nur sehr, sehr wenige Leute haben wirklich ein Problem damit, Technologien und die dazugehörigen Firmen voneinander zu unterscheiden.

Aber in der augenblicklichen Atmosphäre, die von Panik und Einschnitten und Pleiten geprägt ist und die mancherlei Hinsicht genauso unbegründet erscheint wie der Boom, der die Blase aufgepumpt hat, die gerade platzt, ist es nicht allzu schwer, diejenigen herauszufinden, die im Überlebenskampf die Gewinner sein werden. Diejenigen, die sich mit der Technologie wirklich auskennen, werden sich schon ihre Freiräume schaffen, aber was ist mit derjenigen Mehrheit, für die sich das Erfahren des Internet auf blosses Herumklicken beschränkt? Die internationalen Megakonzerne, die gerade dabei sind, sich die Überreste der letzten unabhängigen Online-Medien einzuverleiben, werden ihnen nur zu gerne sagen, wohin sie klicken sollen.

Übersetzung aus dem Englischen: Günter Hack