Konstruierter Geschlechtscharakter und "Intersektionalität"

Von der Frauenfrage zum Gender-Trouble (Teil 5 und Schluss)

Der fünfte und abschließende Teil zeigt, inwiefern die verschmähte "Klassenfrage" in die Gender-Bewegung zurückkehrt.

Die queere Bewegung wiederholt in gewisser Weise das Bemühen um abstrakten Respekt bzw. den gleich-gültigen Kampf gegen "Diskriminierung", den der Feminismus vorgeführt hat. Deshalb wurde es vom Großteil der US-amerikanischen Gender-Bewegung als Erfolg bewertet, dass Trans-Personen gegen den Willen von Präsident Donald Trump weiterhin Militärdienst leisten dürfen – getrennt von der Frage, wofür die US Army eigentlich steht und was z.B. ihre Drohnenkriege unter farbigen, muslimischen und prekär lebenden Menschen anrichten, die in dieser Bewegung als mehrfach diskriminiert gelten. Aus der gleichen Logik heraus kann eine queere Zeitschrift1 den deutschen "Wahlzirkus" beklagen und zugleich kritisieren: "Nicht alle Wahllokale sind barrierefrei".

"Intersektionalität"

Etliche Queere meinen, mit der Erwähnung der dunklen Hautfarbe würden Menschen "kolonisiert", oder sie schreiben das Adjektiv "schwarz" generell groß. Bei Diskussionen in der Szene gibt es Rednerlisten, auf denen nach zweimal "Mann" erst einmal "Frau" kommen muss, wobei es "mensch" freisteht, auf welche Liste er sich setzen lässt. Eine "als Frau gelesenen Person" "Gisela" zu nennen gilt als heteronormativer Machtgebrauch.

Die männliche Geschlechtsrolle wollen einige "subversiv" überwinden, indem sie in Strumpfhosen die weibliche reproduzieren. Eine Frankfurter queere Ringvorlesung widmete sich der "Stigmatisierung dicker Körper durch mediale Dokumente" sowie der "Freiwilligenarbeit im Ausland und die dadurch entstehenden Machtverhältnisse". Andere Unis kombinieren in akademischer Freiheit "Gender and Health", "Gender and Environment", "Gender und Migration", "Konsum und Geschlecht" oder "weibliches vs. männliches Gehirn" usw.

Natürlich kann man den Besonderheiten von Frauen und queeren Personen in Bezug auf Gesundheit oder Migration theoretisch nachgehen. Manchmal ist es sogar nützlich, z.B. die Kultur des Mitgefühls im freien Westen zu dechiffrieren, wenn sie eine "Aktion Sorgenkind" veranstaltet, "Was kann der arme Mohr dafür, dass er so weiß nicht ist wie ihr" reimt oder "Do they know it’s Christmas Time?" singt.

Skeptisch macht aber eine dem Laien schwer zugänglichen Taxonomie von Geschlechts-Charakteren, die sich z.B. in Cis- und Trans-Personen2 unterscheiden oder als FLINT-Gruppe3 zusammenfassen, eine Aufgliederung, die selbst in der Szene ein Glossar erfordert und bei der schnell etwas falsch gemacht werden kann.

Eine parallele Gründlichkeit sammelt und erweitert beständig lauter Unterfälle des Begriffs "Diskriminierung" – Rassism, Sexism, Heterosexism, Handicapism, Bodyism, Lookism, Ageism, Antisemitism, Classism u.a. – und konstatiert: "Verkehrswende – das klingt zunächst (… nicht) nach einem queerfeministischen Thema. Doch auch Stadt-, Mobilitäts- und Industriepolitik sind (...), auch wenn sich das jetzt nicht so schön liest, ableistisch, kapitalistisch, rassistisch, patriarchal und klassistisch". (Missy).

Das Abarbeiten dieser Aspekte beginnt mit der "strukturellen Privilegierung von weißen cis Männern" am Steuer von "Statussymbolen", "daneben eine weiße Frau Mitte dreißig". Skeptisch macht also auch das, was die queer-denkende Wissenschaft als "Intersektionalität" fasst, also als "Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person" (Wikipedia).

"Klassismus"

Eine davon wurde vor zehn Jahren in Deutschland neuentdeckt4:

Klassismus ist ein bislang noch wenig bekannter Begriff zur Bezeichnung der (...) Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status. Menschen in Armutsverhältnissen wird zum Beispiel gewalttätiges Verhalten oder Alkoholismus stereotyp unterstellt (...), obwohl diese Phänomene klassenübergreifend gleichermaßen vorkommen. Der Begriff (...) ergänzt die Analyse von Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsformen. (...) Mit dem Begriff Klassismus und der Formulierung von Klasse als Konstruktion werden neue Felder für das Denken von Macht- und Herrschaftsmechanismen eröffnet.

Heike Weinbach, Andreas Kemper

In der Tat. Denn wenn ein Klassenstatus "tatsächlich, vermutet oder zugeschrieben" sein kann, in jedem Fall eine "Konstruktion" ist, eröffnet sich anstelle einer objektiven Begriffsbestimmung, die als "verkürzte Sichtweise der Gesellschaft als Klassengesellschaft" abgetan wird, ein weites Feld. "Theorien von Männern (wie Karl Marx, Max Weber, Pierre Bourdieu u.a.), die aus den sogenannten Mittel- und Oberschichten kommen" und deren "Begriffe (...) in einem Herrschaftssystem, das klassenstrukturiert ist, konstruiert" wurden, schaffen es nie und nimmer, einen Horizont zu erfassen, der von "lateinamerikanischen HausarbeiterInnen, Schwarzen MinenarbeiterInnen, lesbischen Obdachlosen, jüdischen ALG-II-BezieherInnen" zu den armen weißen Frauen Mitte dreißig und weit darüber hinaus reicht.

Die beiden Autoren, Weinbach und Kemper, zweifellos der Mittelschicht zugehörig, nehmen ihre Theorien selbstverständlich davon aus, lediglich "klassenstrukturiert konstruiert", also ideologisch motiviert und eingefärbt zu sein. Und es braucht wirklich kein Opus Magnus, um in der Unterwerfung unter das globale System von Arbeit und Reichtum und seine zugehörige Moral die Identität der aufgezählten Betroffenen nachzuweisen und Behindertenfeindschaft oder Homophobie noch dazu zu nehmen.

Wollte man einen Witz machen, könnte man die zitierte Liste der "Isms" durch den Begriff des "Capitalism" ergänzen und ihn definieren als "tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen Status von Menschen in Reichtumsverhältnissen, denen zum Beispiel geldgieriges Verhalten unterstellt wird, obwohl dieses auch in ärmeren Schichten vorkommt".

Weniger lustig ist die Unterschiedslosigkeit, man könnte auch sagen: Begriffslosigkeit der "intersektionalen" Subsumtion. Mit Classism, also mit der verfremdenden Deutung des Phänomens der Ausbeutung, wird der zentrale Grund der verschiedenen Ismen zu einem von vielen Unterfällen der "Diskriminierung".

Hierarchisierung

Weil das so ist, können die verschiedenen "Diskriminierungen" auch zueinander in Konkurrenz treten, und es ist kein Wunder, dass nicht nur in der queer-feministischen Szene die bange Frage aufkommt "wie wir einen nicht-rassistischen, anti-sexistischen Diskurs führen können, der zugleich ein nicht-sexistischer, anti-rassistischer Diskurs ist"5. Ein Bedürfnis nach einer Hierarchisierung wird verspürt und gleich wieder zurückgewiesen6:

Eine schwarze lesbische Frau kann stärker unterdrückt erscheinen als eine weiße heterosexuelle Frau. Dennoch finden engagierte Aktivisten und Theoretiker solche Hierarchisierungen unproduktiv. (...) Unter einer Hierarchie der Unterdrückung wird eine Gruppe von schwarzen Lesben wahrscheinlich keine Koalition mit einer aus überwiegend weißen heterosexuellen Feministinnen bestehenden Gruppe bilden.

So rächt sich in gewisser Weise, dass die Gender-Bewegung nach dem Vorbild des Feminismus lauter diskriminierte Kollektive der abstrakten Art vorzufinden und zu vertreten meint, die sich dann doch wieder an der Klassenlage scheiden – ein Bezug, den beide Bewegungen sehr dezidiert als eindimensionale Sicht des Marxismus zurückweisen. Die Alternative zur verpönten "Klassenanalyse" ist ein argwöhnisches Gerangel um die Anwaltschaft für die diversen "Diskriminierungen". worüber die Sache, das Unbehagen der Geschlechter unter dem Regime von Marktwirtschaft und Staat (s. erster u. zweiter Teil), endgültig entschwindet.

Die umstrittene Bewertung der Kölner Silvesternacht vom Anfang dieses Aufsatzes löst sich jetzt auf als Reklamation einer moralischen Deutungshoheit mit Alice Schwarzer auf der einen und Judith Butler auf der anderen Seite. Kontrovers ist auch die Frage, ob Sexarbeiterinnen zur Bewegung oder zum Feind zählen.

Dazu gehört ebenso die in der Community bekannte Abgrenzung mancher Cisgender-Frauen gegen Transgender-Männer mit dem Argument, dass Letztere wegen der unterschiedlichen "Diskriminierungserfahrungen" gar nicht wie Erstere fühlen und denken könnten.

Dieses Argument der Betroffenheit lässt sich auch verallgemeinern und zur begründungslosen Zurückweisung von Kritik verwenden. So monierte Butler, dass Schwarzer sich als weiße Frau ein Urteil über farbige Männer anmaße, während umgekehrt Schwarzer Butler die Sprecherrolle für Unterdrückte bestritt, weil sie die Burka rechtfertige und Kritik an Israel übe (Emma) usw. Nach der Logik könnte man auch diesen ganzen Aufsatz als "Derailing" und "Mansplaining" in die Tonne hauen, weil er von einem heterosexuellen Mann verfasst wurde.

Schlussbetrachtung

Die Sachzwänge einer Klassengesellschaft sorgen auch bei Gender-Bewegten dafür, dass ihr Unbehagen mit einer heteronormativen Grammatik oder die Frage, wer in einen FLINT-Raum darf, nicht zu ihren wichtigsten Kümmernissen zählen. Neben dem Erwerbsleben ist auch der erreichte gesellschaftliche Status von Queeren keineswegs in dauerhaft trockenen Tüchern.

Wenn Sigmar Gabriel, "schreibt, die SPD habe sich zu sehr mit Fragen der Gleichstellung etwa von Homosexuellen beschäftigt statt mit den Arbeitern" (FAZ), bringt er den Misserfolg seiner Partei beckmesserisch in einen Zusammenhang, der nicht der wirkliche ist, ihm aber wählerwirksam erscheint.

Es gibt Zeitgenossen, die die sogenannte Flüchtlingskrise vor fünf Jahren oder die derzeitige Pandemie-Krise auf eine vermeintliche Vorherrschaft des Weiblichen in der Politik zurückführen, indem sie Merkel, Giffey, AKK, Baerbock oder von der Leyen anführen. Dieses Weibliche stehe für sein Helfersyndrom, seine Larmoyanz und Furchtsamkeit. Generell sind Fortschritte, wie sie die Frauen- und Gender-Bewegung auf dem Feld der rechtlichen Gleichstellung und der ideellen Anerkennung zu verzeichnen haben und die mit dem Egalitätsprinzip des bürgerlichen Staats verträglich sind, tendenziell dann in Gefahr, wenn Krisendiagnosen im politischen Führungspersonal und seiner Gefolgschaft aufkommen und um sich greifen.

Dann "beschwören sie die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm"7 und idealisieren frühere Zeiten, die es zwar nicht gab, die sie aber umso entschlossener gegen "vaterlandslose Gesellen" und "Feinde von Familie, Heimat und Nation" behaupten wollen. Gegen ein "Gender-Gaga mitten in Deutschland" (Alice Weidel) versuchen nicht nur Rechtspopulisten, die im Volk keineswegs verschwundenen Ressentiments zu mobilisieren: "Die AfD fordert einen Förderstopp für die sogenannten 'Gender Studies'. (...) Die gegen die Natur des Menschen gerichtete Gender-Ideologie ist der (...) Herausforderung, die Geburtenrate signifikant zu steigern, in extremer Weise abträglich."

Martin Sellner, Chefstratege der 'Identitären Bewegung' in Österreich, erklärt, (Frauen) würden sich durch Bilder von Flüchtlingskindern manipulieren lassen (und) dann die Parteien wählen, die "die Grenzen aufreißen". Und die rechten Freunde von Alt-Right aus den USA ergänzen: "Wir wollen, dass Frauen wieder den Status haben, den sie im 19. Jahrhundert hatten, bevor der Feminismus unsere Zivilisation ruinierte." (FAZ)

Dass auch Mainstream-Parteien den Rekurs auf die Vergangenheit beherrschen, zeigt Alexander Dobrindt in ein paar Textbausteinen, die seine Partei einen "Essay" nennt: "1968 haben linke Aktivisten sich Schlüsselpositionen gesichert in Kunst, Kultur, Medien und Politik. (...) Auf die Revolution der Eliten folgt eine konservative Revolution der Bürger. (...) Für den Konservativen ist die Familie kein soziales Konstrukt. Sie ist Herzenssache und Wiege der Gemeinschaft. Linke wollen diese Welt tendenziell ideologisch in Gender-Welten umdefinieren, kollektivieren und Staatsinstitutionen familiäre Kompetenzen zuweisen."

Dass die "linke Revolution" die "Welt in Gender-Welten umdefinieren" will, ist natürlich ein Pappkamerad. Nur haben Leute wie Dobrindt die Macht, mindestens einen Kulturkampf gegen "Aktivisten" in oder auch ohne "Schlüsselpositionen" anzuzetteln, die sie durch ihr "Konstrukt" zu Feinden der Ordnung erklären.

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