Konsumenten als "Mittäter"

Seite 2: Slow Food und Knäckebrotkultur

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Ich finde die Slow-Food-Bewegung ja auch ganz wunderbar - außer das ganze Getue darum. Aber wäre gutes Essen nicht einmal den Grund, den Mund zu halten? Warum muss man sich zumindest in Deutschland damit immer gleich zu profilieren versuchen?

Harald Lemke: Wenn man sich im politischen Spektrum einmal ansieht, wie viele Gruppierungen es gibt, dann ist Slow-Food nur eine unter vielen. Marx würde im 19. Jahrhundert davon geträumt haben, wie viele politisch aktive Menschen sich an Ernährungsinitiativen beteiligen: Die ganzen Bauernbewegungen in den Entwicklungsländern, die unzähligen Verbraucherschutzinitiativen, et cetera - hier findet viel Bewegung statt. Der Slow-Food-Zweig ist inzwischen recht prominent, hat aber auch seine Schwächen. Ich würde das nicht so heruntermachen wollen wie Sie, weil das eine entmutigende Haltung rechtfertigt. Aber ich bin bewusst auch kein Slow-Food-Mitglied.

Ich glaube, dass die Deutschen in puncto Essen an schlechter Philosophie leiden: Wenn man sich die berühmten Philosophen unserer Zeit wie etwa Jürgen Habermas oder auch die nächste Generation mit Axel Honneth ansieht, dann hat man hierzulande mit der Gastrosophie nicht viel am Hut. Als ich über die Ethik des Essens habilitiert habe, sagte der Kollege Honneth zu mir, das sei keine Philosophie. Wer aber als Philosoph so denkt, erweist der Philosophie einen Bärendienst, weil er bestimmte Dinge einfach nicht reflektiert.

Das wird dann relativ dramatisch, wenn man sich wie gesagt die gesellschaftliche Verantwortung klar macht, die sich für Philosophen gerade aus der Ernährungsthematik ergibt. Und wenn man dann bedenkt, dass man mit der Philosophie, etwa Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger und Adorno, in Deutschland einiges erreicht hat, dann steckt in der Behauptung, Essen sei nichts Philosophisches, ein echtes Armutszeugnis.

Doch wir stehen vor einem gastrosophical return: Wir müssen diesem ganzen Bereich eine größere Relevanz zumessen, um auch philosophisch weiterzukommen.

"Der Protestantismus ist das extreme Resultat dieser allmählichen religiösen Essensverdrängung"

Der Katholizismus wird im Vergleich zum Protestantismus durchaus zu Recht mit dem Mittelalter identifiziert, aber in katholischen Ländern wird in puncto Essen in sinnlichen Genüssen geschwelgt, ganz im Gegensatz zur Knäckebrotkultur in protestantischen Ländern: Haben Sie eine Erklärung hierfür?

Harald Lemke: Erst einmal sind Katholizismus wie auch Protestantismus Teil des Problems, weil beide einen himmlischen Gott anbeten. Das Frühchristentum konkurrierte noch mit den Epikuräern, die einen ganz anderen Gott huldigten. Das höchste Gut und die wahre Weisheit des Bauches, eines guten Essens.

Insgesamt haben Sie aber schon recht: Innerhalb dieser christlichen Ausrichtungen gibt es Nuancen und im Protestantismus gibt es in seiner historischen Gestalt eine verschärfte Tendenz zur Asketisierung. Doch richtig ist: Die Geschichte von Jesus als himmlisches Brot und die frühchristlichen Mahlvergemeinschaftung verweisen durchaus auf interessante gastrosophische Ursprünge und Hintergründe, die sich aber im Laufe der Entwicklung des Christentums komplett verlieren.

Wenn man so will, ist der Protestantismus das extreme Resultat dieser allmählichen religiösen Essensverdrängung.

Wie sieht Ihre Utopie des Essens aus?

Harald Lemke: Ich denke dabei gerne an meinen Kollegen Kant und seine Mittagsgesellschaft: Es ist von ihm eine sehr weise Entscheidung gewesen, dem Essen eine große alltägliche Bedeutung beizumessen. Er versammelte Tag für Tag eine Anzahl von Leuten bei sich zuhause und er schätzte diese Praxis als Inbegriff von wahrer Humanität und moralischem Wohlleben. Dieses "gute Essen in guter Gesellschaft" ist das Symposienwesen, das die Philosophie früh in die Kulturgeschichte des Abendlandes - man denke an das sokratische Gastmahl - einbringt.

Was zu Kants Zeiten allerdings noch kein Thema war, sind die ökologischen Angelegenheiten. Über zweihundert Jahre später ist uns klar: Das Essen muss so produziert sein, dass alle auf diesem Planeten davon leben können, und so, dass die Menschen mit ihrem Essen den Planeten nicht bis auf seine Knochen auffressen, sondern ihn umgekehrt sogar durch ihr Essen bereichern. Man kann Essen beispielsweise auch so anbauen, dass die Humusschicht der Erdkrume und die Artenvielfalt nicht weniger, sondern mehr wird.

Trotz seiner utopischen Mittagsgesellschaft hat Kant die Humanität des Selbst-Kochens noch nicht erkannt. Immerhin hat der Philosoph, wenn man einer Anekdote Glauben schenkt, seinen Senf, den er sehr gerne aß, selbst gemacht. Zwar lehrt Friedrich Nietzsche in "Also sprach Zarathustra" die Lebenskunst des Selberkochens und es gibt das schöne Video von Peter Singer, der sich kochend auf youtube zeigt. Dennoch gibt es kaum kochende Philosophen, die damit unter Beweis stellen, dass zu philosophieren auch heißt, gutes Essen machen zu wissen.

Dabei gibt es in der Philosophie durchaus Ansätze des Selbstkochens und des Selbstanbauens wie bei Epikur mit seinem Garten oder bei Rousseau, der sich einen eigenen Bauernhof wünscht und Nietzsche, der sich bereits einen Garten gemietet hatte, bis zur aktuellen Urban-Gardening-Bewegung, in der Städter zu Teilzeitbauern werden. Das gehört alles zu meiner Utopie einer besseren Gesellschaft und eines guten Lebens und Essens.

Das alles muss so ins Leben greifen, wie es Marx vorschwebte: Morgens gehe ich zum Acker beziehungsweise zum Nachbarschaftsgarten, dann an den Computer und treibe ein wenig Kritik oder bilde mich, dann koche und genieße ich mit anderen und so weiter. Ich finde, es sollte genau darum gehen, um eine solche vielseitige Lebensweise, in der das Essen neben anderen freien Tätigkeiten eine zentrale Rolle spielt. Der historisch erreichte Wohlstand unserer Zivilisation könnte in Zukunft genau dafür genutzt werden, um diese schöne Utopie endlich für alle einzulösen.

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