Kooperieren oder kapitulieren: Die Vereine und die Ganztagsschulen

Das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" der Bundesregierung hat unerwartete Wirkungen auf Sportvereine

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Während Ganztagsschulen wie Pilze aus dem Boden schießen, verlieren Sportvereine Tausende von Mitgliedern. Der Ausweg: sich den Ganztagsschulen an die Brust werfen, kooperieren. Doch zwischen den unterschiedlichen Partnern stehen Welten. Nun will Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Bildungsgutscheine für alle Kinder einführen, einschließlich von Kindern aus Hartz-IV-Familien (siehe dazu Mogelpackung "Bildungsgutschein"). Die neuen Chipkarten sollen Zugang zu Musikunterricht und Sportvereinen verschaffen. Sind die Vereine überhaupt noch zu retten?

Früher bildeten sich Trauben von Jungen am Rand des Fußballplatzes, wenn das erste Schönwettertraining nach dunklen Wintermonaten lockte, erzählt Sabine Oster, Trainerin der Bambini, der jüngsten Fußballer beim 1. FC Ringsdorff-Godesberg. „Die Trainer konnten sich die besten Spieler aussuchen“, sagt Oster. Heute können sie sich glücklich schätzen, wenn eine Kindermannschaft von acht bis zwölf Spielern zustande kommt.

Die Mehrheit der jungen Mitglieder des 1. FC Ringstorff stammt aus Familien ausländischer Herkunft, sagt Oster. Wenn die Clique der jugendlichen Kicker beim Training auftaucht, gibt es nicht selten Ärger. „Früher oder später melden dann die Eltern der behüteten Jungen ihre Kinder vom Verein ab“, sagt Oster. Nun verpflichtet der Fußballverein auch Trainer mit ausländischen Wurzeln, um auch renitente Jungen zu erreichen.

Seit Ganztagsschule in ganz Deutschland wie Pilze aus dem Boden schießen, ergeht es vielen Vereinen wie dem 1. FC Ringsdorff: Sie verlieren Mitglieder und bangen um ihre Zukunft, obwohl es eine Menge Kinder gibt, für die es von Vorteil wäre, wenn sie sich im Verein und nicht auf der Straße austoben würden. Hintergrund ist ausgerechnet das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ der Bundesregierung von 2003, das vier Milliarden Euro lockermachte, um den Ausbau von Tausenden Ganztagsschulen zu finanzieren.

Es sollte dafür sorgen, dass Familie und Beruf vereinbart würden. Erweist sich das Programm zum Sargnagel für viele der rund 90.100 Sportvereine? Immerhin haben rund 112.600 Mitglieder allein im Jahr 2009 ihrem Sportverein den Rücken gekehrt.

Überforderte Übungsleiter

Hausaufgaben, Arbeitsgemeinschaften und Bewegungsspiele in der Ganztagsschule fordern Tribut: „Nach der Ganztagsschule sind die Kinder tot“, sagt Oster. Viele Eltern hätten kein Interesse mehr, ihre Kinder nach anstrengenden Schulstunden wieder abzugeben und um 17 Uhr zum Fußballverein zu kutschieren. „Unsere Betreuer und Trainer sind berufstätig und können in der Regel nicht vor 17 Uhr auf dem Platz stehen“, sagt Oster.

Hinzu käme, dass immer weniger Trainer bereit seien, sich für ein paar Euro im Monat im Training von Kindern und Jugendlichen aufzureiben. „Ein Nachmittagsangebot an der Ganztagsschule zu kreieren ist für Vereine schwierig, weil sie auch Hemmungen haben, die höheren pädagogischen Anforderungen für ein gutes Angebot über einen längeren Zeitraum zu erfüllen.“ Das erläutert Claudia Busch, Autorin der Studie „Ganztagsschule in ländlichen Räumen“ am Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung der Universität Jena aus dem Jahr 2010.

Die massive Präsenz von Ganztagsschulen zwingt die Sportvereine dazu, sich zu modernisieren. Spezialisierte Vereine, die nur eine Disziplin pflegen, haben es schwerer, in einer Ganztagsschule Fuß zu fassen als Ballsportvereine, selbst wenn sie den ersten Schritt tun. Sportarten, die nur mit spezieller Ausrüstung ausgeübt werden, wie Reitsport, Baseball, oder Judo sind weiter benachteiligt. Mit 800 Mitgliedern ist der Beueler Judo Club einer der größten Judovereine hierzulande.

Doch die Einführung der Ganztagsschule hat dem Verein bereits zwischen 250 und 300 Mitglieder im Alter von sieben bis zehn Jahren gekostet. Im Unterschied zum 1. FC Ringstorff hat der Judoverein drei Trainer hauptberuflich angestellt, die auch am frühen Nachmittag in den Schulen Kurse anbieten. Damit kann der Judoverein die Turnhallen während der Schulzeit nutzen, die in der Regel bis 17 Uhr von den Schulen belegt sind.

Ausgebuchte Turnhallen

Zuerst standen zwölf Kinder auf der Judomatte in der AG, später nur noch drei Kinder, erläutert Wolff. „Irgendwann wurde es sinnlos, die AG fortzuführen, denn Judo ist ein Teamsport, der davon lebt, dass man sich in der Gruppe gegenseitig aufputscht“, sagt der Vereinsfunktionär. Doch für Wolff sind nicht nur die Anschaffungskosten für Judoanzüge ein Problem, sondern auch der Umstand, dass sich die Kinder im Rahmen der Offenen Ganztagsschule (OGS) höchstens für ein halbes Jahr für den Kurs verpflichtend anmelden müssen. „Für ein halbes Jahr lohnt es sich erst gar nicht, Judoanzüge anzuschaffen“, sagt Wolff. Viele Sportvereine sind mit der Expansion der Ganztagsschulen überfordert – personell, organisatorisch und finanziell.

„Leider kommen nicht alle Sportorganisationen in gleicher Weise für die Zusammenarbeit mit den Ganztagsschulen in Frage. Material- und betreuungsintensive Sportarten haben wahrscheinlich weniger gute Karten, ebenso solche, die spezieller Einrichtungen bedürfen“, so Klaus Böger, Präsident des Landessportbundes Berlin. Der Standard: ein großes Spielfeld, eine Leichtathletikanlage und eine Turnhalle. Werden Ballsportvereine überleben, während etwa Judovereinen kapitulieren müssen? Ja, wenn sich der Trott durchsetzt und nicht das bildungspolitische Experiment.

Für Rainer Wolff wäre ein runder Tisch auf kommunaler Ebene ein Ausweg – geführt von Repräsentanten der Sportvereine: „Jemand, der auch den Mund aufmacht und nicht nur schön redet.“ Der Funktionär provokativ: „Oder meinen Sie etwa, Olympiasieger werden in der Schule gemacht?“