Krieg auf Schienen

Russland wird, wie der Anschlag auf den Newski Express zeigte, verstärkt von Terror bedroht, sowohl rechtsradikale Gruppen als auch tschetschenische Islamisten drohen mit weiter Anschlägen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Eine Woche nach dem Anschlag auf den Newski Express ist Russland immer noch geschockt von der Tat. Und dies nicht ohne Grund. Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Terrorgefahr in Russland stark angestiegen ist. Sie droht dem Land sowohl von Rechtsradikalen, die sich ebenfalls zu dem Anschlag bekannt haben, als auch tschetschenischen Terroristen, die aller Wahrscheinlichkeit die wahren Drahtzieher dieser Tragödie sind. Ob aber die Sicherheitsbehörden die Bürger Russlands vor dem Terror schützen können, wird von regierungskritischen und kremlnahen Medien bezweifelt.

Die Terroristen, die am vergangenen Freitagabend mit einer Bombe vier der 14 Waggons des Newski Express zum entgleisen brachten, hätten keinen prestigeträchtigeren Zug der russischen Eisenbahn zum Ziel ihres Anschlags machen können. Der Newski Express verbindet mit Sankt Petersburg und Moskau nicht nur die zwei wichtigsten russischen Städte, sondern ist auch ein Vorzeigeobjekt des Staatsunternehmens. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 200 Stundenkilometern braucht der Express für die 650 Kilometer lange und Ende der 90er Jahre modernisierte Strecke 4 Stunden und 45 Minuten. Die Fahrzeit wird ab diesem Monat durch die Eröffnung einer parallel verlaufenden Hochgeschwindigkeitsstrecke sogar um eine Stunde verkürzt. Zudem bietet die Eisenbahngesellschaft RZD in dem Newski Express auch einen gewissen Luxus, was den Zug zu einem bei Touristen, Geschäftsleuten und Politikern beliebten Reisemittel macht.

Dies war aber auch das Einzige, was man über den Anschlag auf den Newski Express, der zudem auch noch in der Oblast Nowgorod verübt wurde, in deren Hauptstadt der Namensgeber des Zuges, Fürst Alexander Newski, im 13. Jahrhundert herrschte, in den ersten Tagen sagen konnte. Erst seit Mittwoch wird die Zahl der Todesopfer auf 27 beziffert. Ebenso ungewiss wie die Zahl der Opfer war auch die Frage nach den Tätern. Denn obwohl wenn die russischen Sicherheitsbehörden von Anfang an tschetschenische Islamisten hinter dem Attentat vermuteten, die sich am Mittwoch auch zu der Tat bekannten, war es nicht ausgeschlossen, dass russische Rechtsradikale den Anschlag verübt haben könnten.

Dieser Verdacht wurde in den Tagen nach dem Attentat immer wieder geäußert – und dies nicht ohne Grund. Denn nur wenige Stunden nach dem Anschlag auf den Newski Express veröffentlichte ein Funktionär der Bewegung gegen illegale Einwanderung (DPNI), der im Internet bisher unter dem Pseudonym headshotboy aufgetreten ist, eine Erklärung, wonach der russische Arm von Combat 18 für den Anschlag am Freitagabend verantwortlich ist. "Wir, die autonome Kampfgruppe Combat 18, bekennen uns zu dem Bombenattentat auf den Newski Express“, hieß es in dem nicht mehr existierenden Blog des DPNI-Funktionärs. Und Combat 18, eine in mehreren Ländern agierende neonazistische Terrororganisation, nahm in der Erklärung nicht nur die Verantwortung für den Anschlag auf den Newski Express auf sich, sondern kündigte auch weitere Taten an. "Wir kündigen an, dass jeder Staatsbürger den Krieg zu spüren bekommt. In diesem Krieg gibt es keine unbeteiligten und unschuldigen Opfer. Für uns gibt es nur Befürworter und Feinde."

Die russischen Neo-Nazis befinden sich schon längst im Krieg ("Der Krieg hat schon längst begonnen"). Dies erklärte bereits im Januar dieses Jahres die Novaja Gazeta, als die rechtsradikale Szene ganz unverhohlen im Internet, darunter dem Forum der oppositionellen Zeitung, den Doppelmord an dem Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa feierte. Die Warnung der Zeitung war nicht unbegründet. Anfang November überführte die Miliz die 24-jährige Jewgenija Chassis und den 29-jährigen Nikita Tichonow, Mitglied der militanten Neo-Nazi-Gruppe Obedinnaja Brigada 88 (OB-88), des Mordes an dem Rechtsanwalt, zu dessen Klienten auch Antifaschisten gehörten, und der Journalistin.

Die Ankündigung von Combat 18 ist aber nicht nur wegen der vielen Opfer rechtsgerichteter Gewalt beunruhigend, sondern verursacht durch die Beobachtungen der Nichtregierungsorganisation SOVA, die sich seit Jahren mit der russischen Neo-Nazi-Szene befasst, weiteres Unbehagen. Demnach ist im Vergleich zu den Vorjahren die Zahl der Opfer rechtsgerichteter Gewalt zwar gesunken, aber auch nur deshalb, weil die rechtsextreme Szene ihre Vorgehensweise verändert hat. Von rassistisch motivierten Gewaltakten gehen die Neo-Nazis, die nach Recherchen der Novaja Gazeta nicht nur untereinander ihre Zusammenarbeit verstärkt haben, sondern auch Kontakte zu der Putin-Partei Einiges Russland pflegen sollen, immer mehr zum politischen Terror über. Mit dem Ergebnis, dass mittlerweile nicht nur Nicht-Slawen Opfer der Rechtsextremisten werden, sondern auch staatliche Institutionen wie die Miliz oder das Militär, wie SOVA in einer vor kurzem veröffentlichten Studie feststellte.

Dass Combat 18 für den Anschlag auf den Newski Express verantwortlich sein könnte, hält auch die Organisation SOVA für möglich und verweist dabei auf einen vor kurzem verübten Brandanschlag auf die Sankt Petersburger U-Bahn, zu dem sich die neonazistische Terrororganisation bekannt hat. Zweifel an der Schlagkraft von Combat 18 haben jedoch die rechtsradikale DPNI sowie die russischen Sicherheitsbehörden. Beide vermuten die Täter eher im Kaukasus.

Tschetschenische Rebellen drohen mit Ausweitung des Terrors auf ganz Russland

Die Sicherheitsbehörden sehen vor allem durch die zweite Bombe, die am Samstag am Tatort detonierte, ihren Verdacht bestätigt. "Die Ergebnisse der Begutachtung lassen darauf schließen, dass sich die zweite Explosion am Ort der Katastrophe möglicherweise gegen die Ermittler richtete. Zu dieser Taktik greifen Terroristen im Nordkaukasus“, sagte der Chefermittler Alexander Bastrykin, der bei der zweiten Bombendetonation leicht verletzt wurde. Und mögliche Hauptverdächtige konnte die Behörden ebenfalls präsentieren. Am gestrigen Donnerstag wurden die Phantombilder der vier mutmaßlichen Täter, die in den Tagen zuvor den Einwohnern der an der Bahnstrecke gelegenen Dörfer aufgefallen waren, veröffentlicht.

Dass die Drahtzieher des Attentates aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich im Nordkaukasus zu suchen sind, zeigte sich diese Woche. Am Montag wurde in der nordkaukasischen Republik Dagestan ein weiteres Zugattentat verübt, bei dem glücklicherweise keine Menschen getötet oder verletzt wurden. Und am Mittwoch erschien auf der Website der tschetschenischen Rebellen, dem Kavkazcenter.com, ein Bekennerschreiben der Kaukasischen Mudschaheddin, in dem sie die Verantwortung für den Anschlag auf den Newski Express auf sich nehmen und zudem die Ausweitung des Dschihad auf das gesamte russische Territorium ankündigen. Das Bekennerschreiben setzte nicht nur die russischen, sondern auch die polnischen Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft, nachdem dieses auch als Übersetzung in einem polnischen Tschetschenien-Blog erschienen ist, das einige russische Medien zitierten.

Gleichzeitig muss jedoch erwähnt werden, dass die Verlautbarungen der Mudschaheddin, die von Dok Umarow befehligt werden und ein kaukasisches Emirat schaffen wollen, sehr mit Vorsicht zu genießen sind. Als Russland im August dieses Jahres von der schrecklichen Katastrophe im sibirischen Wasserkraftwerk Sajan-Schuschenskoje erschüttert wurde, bekannten sich auch die tschetschenischen Islamisten zu der Katastrophe am Jenissej, die 74 Menschen das Leben kostete. Doch die späteren Untersuchungen machten eine aus ihren Halterungen gelöste Turbine für das Unglück verantwortlich. Doch im Gegensatz zu damals, konnten die tschetschenischen Islamisten in ihrer aktuellen Erklärung auch genauere Angaben zu den Vorbereitungen des Anschlags auf den Newski Express machen.

Deswegen wird in Russland die Ankündigung der Mudschaheddin, den Dschihad vom Nordkaukasus, wo trotz des offiziellen Endes des Tschetschenienkrieges fast täglich Menschen sterben (Nordkaukasus: Ausweitung der Kampfzone), sehr ernst genommen. Am Donnerstag warnte Ministerpräsident Wladimir Putin in seiner alljährlich stattfindenden Antwortsendung im russischen Fernsehen die russischen Staatsbürger vor einer erhöhten Terrorgefahr. Und dass diese Warnung nicht übertrieben ist, zeigte ebenfalls der gestrige Donnerstag. Im nordrussischen Karelien stellte die Miliz ein in der Nähe eines Bahnhofs abgestelltes Auto sicher, in dem Sprengstoff gefunden wurde.

Ob aber die Sicherheitsbehörden die russischen Bürger vor dem Terror beschützen können, wird trotz der momentan erhöhten Sicherheitsmaßnahmen bezweifelt. Nach Meinung der regierungskritischen Journalistin Julia Latynina, die wöchentlich eine Sendung bei Radio Echo Moskwy moderiert, sind die russischen Sicherheitsbehörden, die in den letzten Wochen mehr durch Korruptionsskandale und willkürliche Gewaltakte auffielen, gar nicht fähig, die Staatsbürger vor dem Terror zu schützen, egal ob dieser von Rechtsradikalen oder Islamisten verübt wird. Mit dieser Meinung ist die Jounalistin der Novaja Gazeta nicht alleine. In den letzten Tagen äußerten auch kremlnahe Zeitungen diese Zweifel.