Krieg in der Ukraine: Taktische Erfolge, aber wird der Preis zu hoch sein?

(Bild: Mvs.gov.ua, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons)

Kleine Siege, große Hürden: Ukrainischer Vormarsch schürt Hoffnungen, während Realität des Kriegs ernüchtert. Warum verhandelt werden sollte. Ein Kommentar.

Die ukrainischen Streitkräfte rücken im Süden des Landes vor. An einigen Stellen der Front könnten es bis zu 20 Kilometer sein, behaupten US-Militäranalysten. Die Fortschritte seien zwar relativ klein, aber taktisch bedeutsam, heißt es beim Institute for the Study of War (ISW).

Die ISW-Experten verleihen in der New York Times (NYT) ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die russischen Linien durchbrochen werden könnten. Die Wahrscheinlichkeit dafür sehen sie aber selbst als gering an. Ein "langer, langsamer und blutiger Kampf" stehe noch bevor. Und dann habe man vielleicht erst die erste Verteidigungslinie überwunden.

Die Frühjahrsoffensive, die dann zur Sommeroffensive wurde, hat das erklärte Ziel, die von Russland besetzten Gebiete zu teilen. Der Kreml soll dadurch an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Feldzug.

Es ist allerdings die Frage offen, ob die Erwartungen realistisch sind und ob sie tatsächlich erfüllt würden, sollten die ukrainischen Streitkräfte bis zum Asowschen Meer vorstoßen. Manche sprechen längst von einem langwierigen Zermürbungskrieg.

Wann damit begonnen werden soll, über Frieden zu verhandeln – darüber scheiden sich in der Politik die Geister. Ein Blick in die Kommentarspalten von Medien genügt aber auch, um festzustellen, dass die Meinungen hierzu weit auseinandergehen.

Manche meinen, Verhandlungen könnten erst nach einer militärischen Niederlage Russlands stattfinden. Eine fortwährende Unterstützung der Ukraine wird damit begründet, dass sie schließlich in einer Notwehr-Situation sei und man ihr dabei helfen sollte, sich verteidigen zu können.

Dieser Form der Hilfe liegt ein edles Prinzip zugrunde – aber jedes Prinzip muss man sich auch leisten können. Im Westen fällt es nicht schwer, auf dieses Prinzip zu pochen, schließlich hat man nicht den Preis dafür zu bezahlen. Oder wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) einst sagte: "Ich muss da nicht kämpfen und ich werde da nicht sterben in diesem Krieg".

Sterben müssen die Anderen, in erster Linie die ukrainischen Männer. Und es ist zweifelhaft, ob sie gern mit vor Heroismus geschwellter Brust in den Tod gehen. Mehr als 150.000 ukrainische Soldaten sollen in den anderthalb Jahren des Krieges getötet oder verwundet worden sein, heißt es in der New York Times. Diese Zahl markiert nur eine Untergrenze, genauere Zahlen werden wohl erst Historiker ermitteln müssen.

"Die Zahl der Toten – zigtausende – steigt täglich. Millionen von Menschen sind vertrieben und sehen keine Chance, nach Hause zurückzukehren", schrieb kürzlich die Washington Post in einem deprimierenden Bericht, für den die Reporter zahlreiche Menschen in der Ukraine interviewten.

Eine Frau erzählte, dass viel weniger Männer als früher durch die Straßen ihrer Stadt laufen. Die Zahlen der Kriegsopfer seien nicht bekannt, aber alle würden Geschichten von Soldaten kennen, die nach zwei oder drei Tagen an der Front tot oder verwundet seien.

Ein Soldat mit estnischen Wurzeln sagte, er sei an einem Stabilisierungspunkt tätig, wo verwundete Soldaten behandelt werden, bevor man sie in ein Krankenhaus weiterleitet. Manchmal muss er sich aber auch um die Leichen der getöteten Soldaten kümmern. Es komme vor, dass ein Soldat mit "nur 15 Prozent des Körpers" zurückgebracht werde. "Es ist ein hoher Preis für die Freiheit", sagte er.

Die Zahl der Männer, die in den Gefechten verletzt werden und Gliedmaßen verlieren, dürfte noch größer sein. Die Reporter trafen in Kiew zahlreiche von ihnen. Einer von ihnen äußerte Kritik an der ukrainischen Militärführung: "Sie nehmen jeden mit und schicken ihn an die Front, ohne ihn richtig vorzubereiten".

Auch in der ukrainischen Gesellschaft macht sich Kriegsmüdigkeit breit. Eine Frau aus einer kleinen Stadt aus der Zentralukraine, erzählte, wie vereint die Ukraine zu Beginn des Krieges war. Die Menschen engagierten sich, kochten füreinander, brachten den Soldaten Essen. Jetzt herrsche dagegen ein Gefühl von kollektiver Enttäuschung.

Andere blicken bange auf den kommenden Winter. Ihre Häuser sind beschädigt, die Fenster sind kaputt – aber es fehlt das Geld, sie zu reparieren. Es gibt die Hoffnung, die Regierung in Kiew könnte dafür aufkommen, aber auch ihr fehlt das Geld.

Was die Washington Post schildert, sind Momentaufnahmen. Die Verluste und Schäden an Menschen, Wohlstand und Material sind jetzt schon enorm – was aber, wenn sich der Krieg noch über Jahre hinzieht? Verluste und Schäden, mit denen zu rechnen ist, sind noch nicht absehbar, aber man kann davon ausgehen, dass sie das aktuelle Maß deutlich überschreiten.

Die Wahrscheinlichkeit eines langwierigen Krieges ist hoch, wie die Zeitschrift Foreign Affairs Anfang Juni in einem Artikel betonte. Die Autoren beriefen sich auf eine Studie des Zentrums für Strategische und Internationale Studien (CSIS), in der Daten der Universität Uppsala aus den Jahren 1946 bis 2021 ausgewertet wurden.

Demnach endeten 26 Prozent aller zwischenstaatlichen Kriege in weniger als einem Monat. Weitere 25 Prozent fanden innerhalb eines Jahres ihr Ende. Die Studie ergab allerdings auch, dass "zwischenstaatliche Kriege, die länger als ein Jahr dauern, im Durchschnitt über ein Jahrzehnt andauern".

Sollte der Ukraine diese Kriegsdauer beschieden sein, wäre es nicht nur eine Katastrophe für die Ukraine, sondern auch für ihre Unterstützer. Der Krieg würde nicht nur das Potenzial einer weiteren Eskalation in sich bergen, sondern würde auch die Kassen der westlichen Staaten überlasten. Schon heute kann die Ukraine kaum einen Schritt ohne westliche Hilfen gehen.

Ein Ausweg liegt in Verhandlungen. Zwangsläufig muss man diesen Schritt wagen. Der Artikel in Foreign Affairs verweist auf den Korea-Krieg. Friedensverhandlungen müssen nicht das unmittelbare Ende der Kämpfe bedeuten. In Korea ging der Krieg noch über Jahre weiter, während man bereits verhandelte. Aber Verhandlungen sind der erste Schritt zum Frieden. Die Kriegsparteien und ihre Unterstützer müssen aber dazu bereit sein.

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