Kriminalität und Migration: Von Vornamen Deutscher und "toxischer Männlichkeit"
Antwort auf Anfrage der AfD-Fraktion NRW befeuert Vorurteile. Medien wollen über Ethik statt Ethnie reden. Was bedeutet das für Präventionsarbeit?
Besonders in der rechtskonservativen Medienlandschaft hat eine kleine Anfrage der nordrhein-westfälischen AfD-Landtagsfraktion für Furore gesorgt. Sie scheint das grassierende Vorurteil zu bestätigen, dass der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund an Sexualstraftaten überproportional ist. In der restdeutschen Medienlandschaft reagieren befragte Experten darauf zunehmend mit einem alternativen Erklärungsversuch, der sich um das Phänomen der "toxischen Männlichkeit" dreht.
Weniger Gruppenvergewaltigungen in NRW erfasst
Wie aus der Antwort der Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf die genannte kleine Anfrage der AfD-Fraktion hervorgeht, kam es in dem Bundesland 2023 zu insgesamt 209 Gruppenvergewaltigungen. Im Vergleich zu den 246 registrierten Fällen im Vorjahr ist die Fallzahl demnach um mehr als 17 Prozent gesunken. Diese absoluten Verhältnisse waren allerdings nicht der Gegenstand der Empörung.
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Unter den 155 Tatverdächtigen, die von der Polizei identifiziert wurden, befanden sich demnach 71 Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft und 84 Personen ausländischer Herkunft. Wie Medienberichte rechtskonservativer News-Outlets wie Apollo oder Tichys Einblick folgern, stellten demnach "Nichtdeutsche" 55 Prozent der Tatverdächtigen.
Vornamen als Indiz für Migrationshintergrund
Besonders reagierten besagte Medien aber auf die in der Anfrage enthaltene Erkundigung nach den Vornamen der deutschen Tatverdächtigen. Hintergrund ist die in rechtskonservativen Kreisen oft vorgebrachte Mutmaßung, wonach Kriminalität aus migrantisch geprägten Milieus durch die Fixierung auf die Staatsbürgerschaft der Täter statistisch untererfasst sei.
Hier schwingt auch das Konzept um die "nicht assimilierten Staatsbürger" und den Umgang mit selbigen mit, das im aufsehenerregenden Bericht der Medien-NGO Correctiv über das Potsdamer Treffen rechter Kräfte zur "Remigration" thematisiert wurde.
AfD geht von höherem Migrantenanteil aus
Als auffällig stellen Apollo und Co. heraus, dass einige Namen deutscher Tatverdächtiger etwa "Ahmet", "Burak", "Ibrahim", "Yigit" oder "Mohammed" lauten. Mindestens 32 der deutschen Tatverdächtigen hätten Vornamen, die auf einen Migrationshintergrund hinwiesen, überwiegend aus dem arabischen Raum oder der Türkei. Damit hätten mindestens 116 der 155 Tatverdächtigen einen Migrationshintergrund, was etwa 75 Prozent entspricht.
Unter den als "ausländisch" deklarierten Tatverdächtigen stammten indes viele aus dem afrikanisch-arabischen Raum. So stehen elf Syrer, sieben Afghanen und sieben Iraker im Verdacht, an Gruppenvergewaltigungen beteiligt gewesen zu sein.
Die meisten Gruppenvergewaltigungen wurden in Köln gemeldet, mit insgesamt 23 Fällen. Essen und Dortmund folgen mit zwölf beziehungsweise elf Fällen. In Wuppertal wurden neun Gruppenvergewaltigungen angezeigt. Die AfD-Fraktion sprach von einer "erschreckenden Entwicklung" und nannte die Zahlen "dramatisch".
Alternative Erklärung: Toxische Männlichkeit
Der Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention in Zürich, Dirk Baier, hält die Liste der Vornamen für wenig aussagekräftig. Gegenüber dem WDR stellte der Soziologe heraus, dass viele der Personen wahrscheinlich in Deutschland geboren und aufgewachsen seien und demzufolge als Deutsche zu werten seien.
Zwar "leugne niemand", dass es "Probleme mit bestimmten Migrantengruppen" gebe, so Baier weiter. Allerdings sei es wichtiger, über die "echten Faktoren" von Kriminalität zu sprechen. Dazu zählt der Soziologe "bestimmte Werthaltungen und Männlichkeitsnormen" – das also, was als "toxische Männlichkeit" Eingang in den (nicht nur) identitätspolitischen Diskurs gefunden hat.
Manche jungen Männer seien der Meinung, "sich nehmen zu können, was sie wollen, dass sie über Frauen stehen". Diese Männlichkeitsbilder gelte es infrage zu stellen und die Erfahrungen der Personen auf der Flucht sowie ihre Erziehung zu berücksichtigen, statt sich Vornamen zu und Staatsangehörigkeiten zu fokussieren. "Wenn wir das angehen, können wir in den Köpfen etwas ändern", so Baier.
Kriminalstatistik hatte Debatte im April entfacht
Die Debatte um den Anteil bzw. einen Anstieg ausländischer Straftäter war bereits Anfang April durch die Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2023 erneut entbrannt, die einen Anstieg der Zahl nicht-deutscher Tatverdächtiger um 17,8 Prozent auf rund 920.000 verzeichnet hatte.
In verschiedenen Medienberichten war betont worden, dass die Statistik irreführend sei, wo den Straftaten auch solche zugerechnet worden seien, die ausschließlich von Ausländern begangen werden können, beispielsweise Verstöße gegen das Ausländerrecht. Um diese bereinigt betrage der Anstieg nurmehr 13,5 Prozent. Doch selbst diesen gelte es im Kontext zu bewerten, betonte das Bundeskriminalamt (BKA) bei der Vorstellung des Berichts.
Denn neben dem Effekt der Zuwanderung führte das BKA in Gestalt seines Präsidenten Holger Münch "wirtschaftliche(n) und soziale(n) Stress" als Ursache für den mutmaßlichen Anstieg an. Dazu zählte er einerseits die Folgen der Inflation sowie die psychischen Folgen der Coronavirus-Maßnahmen. "Je mehr Menschen wirtschaftlichen Druck verspüren, desto höher sind die Zahlen und die Zahl der Verdächtigen", so Münch bei der Präsentation des Berichts.
In der Sendung Markus Lanz vom 10. April räumte auch der Kriminologe Sebastian Fiedler jenen sozialen Ursachen gegenüber mutmaßlich kulturellen Beweggründen den Bedeutungsvorrang ein – sichtlich zum Leidwesen des ebenfalls befragten Psychologen Ahmad Mansour.
Rape Culture: Letzter Ausweg Symbolpolitik?
Als alleiniger Erklärungsansatz scheinen ökonomische Motive allerdings nicht mehr zu genügen, zumindest, wenn man der neuerlichen Argumentation um toxische Männlichkeitsideale folgt, die nicht nur der Soziologe Baier vertritt.
Dass es sich bei der toxischen Männlichkeit um ein "gesamtgesellschaftliches Problem" des "Patriarchats" handle, wie die taz im vergangenen Jahr festhielt, dürfte auch angesichts der Bezeugungen Baiers jedenfalls immer schwerer zu vermitteln sein. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie jene Milieus gezielt erreicht werden können, um einer gesellschaftlichen Parallelentwicklung vorzubeugen.
Abschiebungsvorstöße, wie zuletzt besonders von der Oppositionspartei CDU vorgebracht, haben besonders vor dem Hintergrund der Vornamen-Diskussion oder der deutschen Clan-Kriminalität in erster Linie symbolpolitischen Charakter.
Sind wirklich alle proaktiven Integrationsansätze um Perspektiven und Identifikationsangebote so hoffnungslos ausgeschöpft?