Krisenmodus: Ist Deutschland fit für die multipolare Welt?

Die deutsche Wirtschaft hat im zivilen Sektor Innovationen verschlafen, Regierende füllen Auftragsbücher der Rüstungsindistrue. Symbolbild: LudwigSebastianMicheler / CC-BY-SA-4.0

Chinas Autoindustrie profitiert von deutscher Elektro-Aversion, Ampel will militärischen Sieg über Russland. Was sind die Konsequenzen? (Teil 1)

Die deutsche Krise ist auf allen Ebenen spürbar und in aller Munde. Sie hat viele Gründe und Ursachen und ist eine allumfassende Krise des Staates und des Wirtschaftsmodells, sie steht auch im Zusammenhang mit einer neuen Weltordnung und neuer Systemkonkurrenz.

Die seit den 1980er-Jahren gewohnte Dominanz der USA in der damaligen Periode der Globalisierung neigt sich dem Ende zu. Die Krisenerscheinungen in Deutschland und Europa müssen auch in diesem Kontext beobachtet werden.

Von der unipolaren zur multipolaren Welt

Die unipolare Welt war gezeichnet von der Globalisierung der Weltwirtschaft und darin der Dominanz und Hegemonie der USA und der Partner des Westens. Die internationalen Institutionen wie die Welthandelsorganisation WTO, die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds (IWF) waren bestimmt von westlichen Interessen.

Dementsprechend wurden die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft reguliert und versucht, die Entwicklung der Infrastruktur im Globalen Süden oder Asien unter die Regie der westlichen Interessen zu stellen.

Während die Rivalen im Ostblock nach der "Wende" wirtschaftlich zu Zwergen mutierten, entstanden in Ostasien die zukünftigen Riesen. In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen die sogenannten Tigerstaaten hoch: in Hongkong, Taiwan und Singapur entstanden neue Umschlagplätze für den globalen Handel. Auch Südkorea wurde zu einem kleinen Motor der Innovation.

Der unaufhaltsame Aufstieg Chinas

Ab den 1990er-Jahren begann der unaufhaltsame Aufstieg Chinas zur Großmacht. Wenig beachtet war in dieser Zeit auch der wirtschaftliche Aufstieg einer Reihe von Entwicklungsländern wie Brasilien, Indonesien, Malaysia und Südafrika.

Am Persischen Golf wuchsen die Öl-Monarchien zur hochmodernen "Global Cities": Gigantische Reichtümer sammeln sich in den Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Katar.

Auch Russland erholte sich wieder, stabilisierte sich wirtschaftlich und behauptet seine Rolle als militärische Großmacht. Diese große tektonische Veränderung ist die Verschiebung der Weltwirtschaft nach Osten, nach Süden und besonders nach Asien.

Brics als neue Kooperationsstruktur

Die Formierung der Brics als Kooperationsstruktur zwischen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, deren Ausweitung 2023 und das Interesse von weiteren 40 Ländern ist ein deutlicher Ausdruck dieser Verschiebung. Die Brics kooperieren bei der Entwicklung von Infrastruktur und legen den Grundstein einer vom Westen unabhängigen transnationalen Finanzarchitektur.

Diese Verschiebung hat viele verschiedene Ursachen. Der Wissensvorsprung des Westens ist stark geschrumpft: Das Wissen fließt schneller über die Grenzen, und die Bildungs- und Forschungskapazitäten in den Brics-Ländern, allen voran China, wurden gigantisch ausgebaut.

Die USA haben immer noch einen entscheidenden Vorsprung in den digitalen Technologien und den "Big Five"-Konzernen Amazon, Facebook, Apple, Google, Microsoft, aber China hat im Bereich der Automatisierung und der Künstlichen Intelligenz dramatisch aufgeholt.

Smart Cities in China und am Golf

Es ist jetzt schon klar, dass die neuen hypermodernen automatisierten "Smart Cities" in China oder am Golf gebaut werden, während in den USA und Europa die Städte mit immer schlechter werdender Infrastruktur zu kämpfen haben.

Der entscheidende Faktor in dieser Aufholjagd ist die Rolle des Staates als regulierende und organisierende Instanz der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Während im Westen mit der neoliberalen Wende seit den 1980er-Jahren der Staat sich immer weiter aus der wirtschaftlichen Regulierung zurückgezogen hat, verlief die Entwicklung im Osten und im Süden in unterschiedlichen Formen des Staatskapitalismus.

Überlegende Planwirtschaft

Beim Aufstieg der Tigerstaaten war der lokale Markt staatlich streng reguliert und geschützt, um erst eigene starke Konzerne zu entwickeln, und dann diese in den freien Weltmarkt zu integrieren. Die nachholende Entwicklung in China war mittels staatlicher Organisation, die zentral von der kommunistischen Partei langfristig geplant und gelenkt wird.

Die neuen Giganten am Golf sind alle Monarchien, wo ebenso ein zentralistisch geführter Staat die Rahmenbedingungen für Investition und Entwicklung organisiert. Gerade bei den laufenden großen Transformationen der Digitalisierung und einer grünen Wirtschaft ist Infrastruktur, die große staatliche Planung und Investition braucht, der entscheidender Standortvorteil.

In der Wirtschaftswoche wurde unlängst ausführlich beschrieben, wie Deutschland gerade den Markt für Elektroautos verliert: "China fährt uns davon", und entscheidend dabei ist demnach die "Masterplanwirtschaft".

Die gesamte Infrastruktur von der Batterietechnik bis hin zu Werften für die Produktion von riesigen Frachtern und neuen Häfen für die Verladung konnte so mit zentraler Koordination und aufeinander abgestimmt innerhalb von wenigen Jahren aus dem Boden gestampft werden, um die Voraussetzungen für die "neue Autoweltmacht" zu schaffen.

Übergang in Gestalt neuer Kriege

Der Übergang von der unipolaren zu multipolaren Welt zeigt sich sehr deutlich auch in den letzten Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen. Die USA als mit Abstand größte Militärmacht der Welt konnten keine der letzten großen militärischen Auseinandersetzungen im geopolitischen Sinne wirklich gewinnen.

Der Krieg im Irak führte dazu, dass das Land jetzt sehr stark unter den Einfluss des Erzfeindes Iran geraten ist. In Afghanistan scheiterte die militärische Besatzung nach 20 Jahren dramatisch und die Taliban herrschen wieder.

Den Stellvertreterkrieg in Syrien konnten die USA und ihre Partner nicht für sich entscheiden, Russland hielt seinen Verbündeten Assad an der Macht.

Der Westen verliert auch Soft Power

Im Ukraine-Krieg gelang es dem Westen nicht, Russland zu isolieren. Den Sanktionen schlossen sich nur die Partner des Westens an; und Russland konnte nicht in die Knie gezwungen werden.

Im Israel-Gaza-Krieg sind die USA als Aufrüster und Schutzschild Israels so isoliert wie noch nie. Hier erleben wir gerade die Konstellation USA/Westen gegen die Vereinten Nationen.

Abgesehen davon, dass so die militärischen Ziele kaum zu verwirklichen sein werden, haben die USA und der Westen massiv an "Soft Power", also an politischer, kultureller und ideologischer Attraktivität für den Rest der Welt eingebüßt.

Deutschlands verlorene Mittelrolle

Deutschland ist bei diesem Übergang zur multipolaren Welt bis vor Kurzem noch sehr gut gefahren. Wirtschaftlich war Deutschland als das Zentrum Europas in einer komfortablen Mittelrolle. Europa betrieb großen Handel sowohl mit den USA, als auch mit den großen Nationen in Asien.

Die günstige Energie aus Russland, Produktion und Verarbeitung mit hochwertiger deutscher Technologie und der Export nach China und Asien waren ein erfolgreiches Dreieck, mit dem Deutschland vom Aufstieg Asiens profitierte. Während Japan in eine endlose Stagnation und Deflation geraten war, lief die deutsche Exportmaschine immer weiter.

Während die USA in den letzten Jahren – insbesondere unter der Trump-Administration – eine verstärkte Konfrontation mit dem Rivalen China gesucht haben, pflegte Deutschland unter der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geopolitisch zu allen großen Mächten gute Beziehungen.

Ukraine-Krieg als "Zeitenwende"

Die deutschen Militärausgaben blieben zum Ärger der USA relativ gering, und es gab leichte Anzeichen einer Absetzbewegung von der US-Hegemonie: Vor Merkel hatte die "rot-grüne" Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) den zweiten Irak-Krieg nicht mehr unterstützt, zudem vertiefte es die wirtschaftliche Beziehung zu Russland.

Die Trump-Administration attackierte verstärkt Deutschland in der Zeit der Großen Koalition Angela Merkels, die selbstbewusst als Führungsmacht in Europa auftrat.

Diese Mittelrolle ist spätestens mit dem Ukraine-Krieg weggebrochen. Der Wegfall der günstigen Energie aus Russland hat für Deutschland bekannte dramatische Folgen für die wirtschaftlichen Abläufe.

Neuer Konfrontationskurs

Darüber hinaus scheint insbesondere die Ampel-Regierung eine stärkere konfrontative Haltung gegenüber China einzunehmen. Die offiziellen strategischen Erklärungen folgen noch nicht den aggressiven Forderungen nach einer Entkopplung von der chinesischen Wirtschaft. Aber die Erklärung Chinas zum Systemrivalen hat zu einer Zunahme von diplomatischen Spannungen geführt.

In der einst bipolaren Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ist Deutschland unter dem Schutzschirm der USA zur neuen Blüte gereift.

Auch in der Phase der unipolaren Globalisierung konnte Deutschland unter der Hegemonie der USA ihre Mittelrolle erfolgreich ausspielen. Jetzt den USA in einer neuen eskalativen Spannungspolitik gegenüber den Systemrivalen zu folgen, untermauert die eigene Entwicklung.

Warum Deutschland auf Kooperation angewiesen ist

Als ressourcenschwache Region mit einer starken Exportorientierung ist Deutschland auf einer stärkeren Kooperation zwischen den globalen Blöcken angewiesen. Hierfür müsste die Politik eine langfristige Strategie der Entspannung und Kooperation zwischen den Blöcken folgen. Stattdessen ist die jetzige Regierung zum Falken im neuen Ostkonflikt mutiert.

In der Ukraine verfolgt das gesamte Establishment weiter die vollkommen unrealistische Strategie, Russland militärisch zu besiegen – und auch der diplomatische Ton gegenüber China verschärft sich, was nicht ohne Konsequenzen bleiben wird.