Kritik einer Politik am Rande des Abgrunds: Ukraine-Frieden durch Diplomatie ist möglich

Seite 4: Aber was sind dann die Alternativen?

Sollte Russland den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen, wonach es derzeit nach Einschätzung einiger Experten, so auch Mearsheimer in seiner letzten Veröffentlichung, am ehesten aussieht, stehen die USA vor der Frage, ob sie den Krieg ausweiten wollen, was den Eintritt in einen dritten Weltkrieg bedeuten kann. Nach der geltenden US-Nukleardoktrin schließt eine derartige Situation auch den möglichen Ersteinsatz von Atomwaffen ein.

Sollte dagegen Russland den Krieg in der Ukraine verlieren und der russische Staat dadurch in seiner Existenz bedroht sein, wird die russische Führung nach Mearsheimer entsprechend ihrer Nukleardoktrin wahrscheinlich überlegen, dieses Desaster mit dem Einsatz von Atomwaffen abzuwenden. Er sagt dazu:

Wenn ich mich jedoch irre, wohin der Krieg führt, und das ukrainische Militär die Oberhand gewinnt und beginnt, die russischen Streitkräfte nach Osten zu drängen, würde die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes natürlich erheblich steigen, was jedoch nicht heißt, dass das eine Gewissheit wäre.

John Mearsheimer

Das ist das Ergebnis einer nüchternen Analyse der Situation, in der sich die Welt derzeit befindet. Es ist also so, dass der Einsatz von Atomwaffen wieder möglich ist, solange der Krieg weitergeht, mit jeder Eskalationsstufe wahrscheinlicher wird und niemand mit Gewissheit sagen kann, wie wahrscheinlich eine derartige ultimative Katastrophe tatsächlich ist.

Warnung eines führenden Atomwaffenexperten

Deshalb möchte ich noch kurz einen weiteren Experten, dem ich ein vernünftiges Urteil über die derzeitigen Atomkriegsgefahren zutraue, zu Wort kommen lassen.

Ted (Theodore) Postol

Er ist ein weltweit anerkannter US-Atomwaffenspezialist, der viele Jahre in hohen Funktionen im Pentagon gearbeitet hat, bevor er als Professor an der Stanford Universität und dann am berühmten MIT bis zu seiner Emeritierung tätig war. Er warnt seit vielen Jahren in Vorträgen, auch im Internet, vor dem Einsatz von Atomwaffen und unterstützt seit Jahren die Friedensbewegung in den USA.

Hier zur Erinnerung: Mit der ersten Atombombenexplosion von "Trinity" in der Wüste von Los Alamos begann am 16. Juli 1945 das Atombombenzeitalter. Damit hat eine neue Epoche, vielleicht die letzte der Weltgeschichte, begonnen, denn seitdem besitzen die Menschen die Fähigkeit, sich selbst auszulöschen.

Die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki durch die USA am 6. und 9. August 1945 waren die bisher zum Glück einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg.

Bei meinen Recherchen bin ich auf ein bemerkenswertes Interview gestoßen, das der US-amerikanische Journalist Robert Scheer mit Postol geführt hat und das im März 2022 veröffentlicht worden ist (Fußnote 3). Darin diskutieren die beiden Fachleute, was zu erwarten ist, wenn im Ukraine-Krieg tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz kommen.

Im Verlaufe des Gesprächs fragt Robert Scheer seinen Gast:

Ich frage Sie also nochmals, worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch nicht über einen weiteren Irak oder ein weiteres Vietnam. Wir reden über Hiroshima und Nagasaki und was ihr Schicksal für Städte in den USA bedeutet.

Daraufhin antwortet Postol:

Wir reden von einer Feuerwand, die alles um uns herum mit der Temperatur des Sonnenmittelpunkts einschließt. Die Explosion von Nuklearwaffen würde uns buchstäblich in weniger als Asche verwandeln. Ich kann nicht genug betonen, wie mächtig diese Waffen sind. Wenn sie detonieren, sind sie vier- oder fünfmal heißer als das Zentrum der Sonne, das 20 Millionen Kelvin hat. Im Zentrum einer Detonation dieser Waffen herrschen 100 Millionen Kelvin. Menschen können sich das Ausmaß dieser Hitze nicht vorstellen. Die Auswirkungen sind so schwerwiegend, dass sie die menschliche Vorstellungskraft sprengen.

Zur Bedrohung, die vom Einsatz einer einzelnen Atombombe ausgeht, sagt Postol:

Wenn eine Atomwaffe auf dem Gefechtsfeld gezündet wird, weiß zunächst niemand, was das bedeutet. War es eine einzelne Waffe? Werden ihr in wenigen Minuten oder Stunden weitere Atomexplosionen folgen? Wird der Gegner, den Sie gerade angegriffen haben, sofort oder erst in einigen Tagen mit einer oder mehreren Waffen nachziehen? Wird er versuchen, ihre Atomwaffenstandorte anzugreifen? Es herrscht ein totales Chaos, und ehe man sich versieht, explodieren nicht nur ein paar Dutzend oder Hunderte, sondern Tausende von Atomwaffen. Das ist einfach unvermeidlich.

Robert Scheer weist dann auf die unter Politikern in den USA laufende und ernst zu nehmende Diskussion über den Einsatz von "kleinen" Nuklearwaffen in einem "zu gewinnenden Atomkrieg" hin und sagt:

Wenn jetzt, in einer angespannten weltweiten Situation, eine einzige Atomwaffe explodiert, gibt es kein Zurück mehr. Das wäre das Ende der Menschheit. Wissen die Politiker nicht, dass sie mit ihrem leichtfertigen Gerede über den Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit riskieren?

Postol entgegnet:

Dabei ist es doch ganz einfach. Wer den Einsatz kleiner Atomwaffen propagiert, will uns einreden, ein kleiner Funke in einem mit Benzindämpfen gefüllten Raum wäre kein Problem. Das ist keine schlechte Analogie. Das ist zwar eher ein physikalisches als ein soziales Phänomen, aber im Grunde ist es die gleiche Situation. Man kann keinen kleinen Funken in einem Raum auslösen, der mit Benzindämpfen gefüllt ist. Das würde kein gutes Ende nehmen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de