Kultur der Räume

Bild: TP

Vom Stadtplan zur urbanen Aneignung

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In seinem Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" erwähnt der renommierte Schriftsteller Christoph Ransmayr einen Touristen, "der sich mit einem flatternden Faltplan abmüht. An Straßenecken bleibt er stehen und versucht, sich das jeweils nächste Wegstück auszumalen, bevor er weitergeht und von den wirklichen Stadtansichten widerlegt wird; ein Spiel. Erst am Ende seines langen Spaziergangs beginnen die Bilder der Vorstellung denen der Straßen zu ähneln."

Tatsächlich klaffen Wirklichkeit und Wahrnehmung selbst - oder gerade - bei einer solch haptischen Sache oft auseinander. Empirische Studien weisen nach, dass Probanden, nachdem sie einige Jahre in einer bestimmten Stadt leben, ihre täglichen Wege und Abkürzungen auf eine Art und Weise aufzeichnen, die nichts mehr mit einem maßstabsgetreuen Stadtplan zu tun hat.

Aber das ist alles andere als absurd. Unser Leben ist geprägt von überwölbenden, doch wenig erlebbaren Prozessen wie Globalisierung, Migration oder Klimawandel. Je mehr sich diese gesellschaftlichen Veränderungen freilich in der Gestalt und Nutzung von Räumen niederschlagen, desto mehr scheint eine kreative Annäherung an Orte und Räume geboten.

Recherchen etwa des Historikers Karl Schlögel belegen ein vitales Interesse, sich der Gegenwart und Geschichte von Räumen als Erinnerungstopographien zu versichern. Und dass in den aktuellen urbanistischen und künstlerischen Diskussion immer wieder Marc Augés Nicht-Orte und Foucaults Raumtheorie reflektiert werden, nimmt nicht wunder. Denn Kultur als Verhandlung auch von Räumen zu verstehen und Sinnstiftungsprozesse am Ort zu ermöglichen, ist von vitaler Bedeutung - wenngleich nach wie vor unterschätzt.

Eigentlich sollte es selbstredend sein, dass es ein städtisches Wechselgefüge zwischen materieller Existenz und sozialem Konstrukt gibt. In der bewussten Wahrnehmung aber bleibt es häufig unterbelichtet: Obgleich die gebaute und gestaltete Welt - die Straßenzüge und Monumente, Häuserfluchten, Grünflächen, Laubenkolonien usw. - die Verortung des Menschen in der Stadt prägen, erhält sein Raumbezug seine volle Bedeutung erst durch eine kulturelle Aufladung. Die Wertschätzung wiederum steuert die Nutzung des Raums, wie umgekehrt der Gebrauch die Wahrnehmung eines Ortes bestimmt.

Und weil es heute kaum mehr darum geht, neue Städte zu bauen, sondern sich vielmehr die Aufgabe stellt, die bestehenden und von Menschen bewohnten Umwelten zu gestalten und neuen Gegebenheiten anzupassen: Deswegen gehören die bisherige Planungswerkzeuge und Leitbilder auf den Prüfstand. Immerhin scheint es allmählich eine gewisse Akzentverschiebung zu geben: Einerseits von der Struktur zum Raum, andererseits von der Dominanz des Planungsraums des Architekten zum Lebensraum der Bewohner.

Kartografischer Imperativ

Analog zu Peter Sloterdijk und seiner Vermutung, dass Lebenswelten und Kunst dazu aufrufen, sich selbst im Gefüge gesellschaftlicher Notwendigkeiten neu aufzustellen, gibt es so etwas wie einen "kartografischen Imperativ", weil Veränderungen in Lebensräumen und fernen Welten Handlungen und Haltungen fordern, die wir erlernen sollten und die zu unserer kulturellen Kompetenz gehören: Sich selbst im Raum zu verorten. Wer Karten benutzt, will wissen, wo er sich befindet.

Mental Mapping nun darf man als sehr zeitgenössische Methode der Stadtwahrnehmung goutieren. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung, dass einerseits subjektiv erlebter Raum visualisiert und andererseits die Wechselwirkung von räumlicher Umwelt und menschlichem Verhalten analysierbar werde. Auf theoretischer Ebene sind diesbezüglich vier Ansätze interessant.

Erstens Kevin Lynch, der sich in seiner Studie "Das Bild der Stadt" vor allem mit den formalen Elementen einer Stadt befasst. Er führt in mehreren amerikanischen Städten Befragungen und professionalisierte Kartierungen durch, überlagert die einzelnen Mental Maps, differenziert dabei fünf formalen Elemente sowie die Häufigkeit ihrer Nennung. Heraus kommt ein Vorstellungsbild, das u.a. unterbrochene Wege, isolierte Zonen, unklare Grenzen und Kreuzungen, charakterlose Gebiete und Zweideutigkeiten ausweist - und das eine Art "Niemandsland" ebenso kennt wie ein "Common". Auf seine Weise wendet sich Kevin Lynch gegen das funktional geprägte Stadtverständnis, indem er überhaupt auf den Aspekt der Stadtwahrnehmung und die Lebbarkeit einer Stadt für ihre Bewohner verweist.

Derive - Erfahrung der Lebensräume

Zweitens die künstlerische Avantgardebewegung der "Situationistischen Internationale" (SI), die einen als Psychogeografie benannten Ansatz entwickelt hat, der atmosphärische Einheiten in einer Stadt aufspürt, ihre Wirkungen auf den Bewohner untersucht und sie zu neuen Stadtplänen zusammenfügt.

Im Jahr 1955, noch vor der Gründung der SI verfasste Guy Debord, ihr führender Kopf, seine "Einführung in eine Kritik der städtischen Geografie". Er geht darin von der These aus, dass die materielle Umwelt Einfluss hat auf das soziale Handeln. Eine entscheidende Rolle bei der Erforschung kam dem sogenannten derive zu - dem ziellosen Umherschweifen. Dies ist eine Technik der systematischen Stadterfahrung, die sich bewusst von gewöhnlichen Handlungs- und Bewegungsweisen fern hält und sich den Impulsen der räumlichen Umwelt hingibt.

An die Stelle der objektivierten Darstellung einer absoluten Einheit von Stadt tritt ein fragmentarischer Stadtplan aus der Perspektive des Nutzers. Das Urbane ist in diesem Sinne kein gegebenes Konstrukt, sondern entsteht in der Interpretation und dem Gebrauch. Die physische Stadt und die Architektur bilden gewissermaßen nur die Initialzündung für die Erfahrung der Lebensräume. Sie sollen zum Gebrauch, zur Aneignung anstiften.

Drittens wäre auf die "cultural landscape studies" zu verweisen, die eine methodische Annäherung an Räume ausarbeiten, welche zwar im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurde, aber von ungeheurem didaktischen Wert ist, da hier konkrete Umgangsformen zur Erkundung von Landschaft, Raum und Ort erprobt und evaluiert wurden. Die Relevanz des ungemein breiten, fachübergreifende Ansatzes zeigt sich beispielsweise in Robert Venturis "Learning from Las Vegas" - der Dokumentation eines Projektes zur Erkundung von Alltagsarchitektur, die wiederum großen Einfluss auf die damals aktuelle Kunst hatte, z.B. auf Robert Smithson und Ed Ruscha.

Promenadologie

Viertens muss man auch die Promenadologie hier einbeziehen. Sie geht auf den Schweizer Soziologen und Planungstheoretiker Lucius Burckhardt zurück, der sie in den 1980er Jahren in der Documenta-Stadt Kassel, wo er im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung lehrte, entwickelt hat und vorexerzierte. Die von ihm begründete Wissenschaft untersucht die Fallstricke unserer Wahrnehmung und Mobilität sowie deren Auswirkungen auf das Planen und Bauen. Burckhardt selbst war überzeugt davon, dass man erst lernen müsse, (Stadt-)Landschaft wahrzunehmen, und zwar sowohl historisch als auch individuell.

Der Spaziergangsforschung geht es zuerst um die Frage: Wie wird Stadt wahrgenommen? Und die zweite, daraus folgende Frage lautet: Wie kann man an der gewöhnlichen Wahrnehmung etwas verändern? Oft, in dem man Dinge, die zwar sichtbar sind, aber nicht gesehen werden, ins Bewusstsein bringt. Promenadologie bedeutet mehr, als nur durch die Gegend zu laufen. Sie führt vom Sehen zum Erkennen. Und zwangsläufig wird es dann irgendwann politisch, weil man merkt: Das hier ist so, aber das könnte doch auch anders sein.

Chaz Hutton, der regelmäßig pseudowissenschaftliche Post-It-Grafiken auf Twitter und Instagram veröffentlicht - und damit schon eine kleine Fangemeinde gewonnen hat - konnte vor einiger Zeit mit einem seiner Klebezettel-Werke in den sozialen Netzwerken besonders viele Likes und Retweets ernten. Es heißt: "Eine Karte für jede Stadt". Hutton räumt ein, dass er sich als Kind gerne die Zeit mit dem Computerspiel "Sim City" vertrieben hat. Das verrät auch seine Übersetzung der subjektiven Bezeichnungen für jedes Viertel auf der "Map of Every City" in eine arg schablonenhafte Erzählung der westlichen Stadtentwicklung.

Diese Karte nun als Kritik an der kapitalistischen Raumproduktion zu deuten, schießt wohl übers Ziel hinaus. Aber auf jeden Fall trifft Hutton mit seinem Produkt - wenngleich vielleicht unbeabsichtigt - einen Punkt: Stadtbewohner - und zwar nicht nur die jungen, hippen - sind stets flugs dabei, jeder Gegend ihrer Stadt ein festes, plakatives Image zuzuweisen, das sie selbst vor Überraschungen immunisiert. Dabei ist in der urbanen Peripherie niemals nur die lokale Ikea-Filiale einen Besuch wert.

Man geht kaum zu weit, wenn man behauptet, dass das Mental Mapping essentielle Querbezüge zur raumsoziologischen Forschung. Um die Präsenz einer Stadt zu erfassen, empfiehlt zum Beispiel Martina Löw (in ihrem Buch "Soziologie der Städte") von ihrer Eigenlogik zu sprechen: "ein Ensemble zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, wodurch sich Städte zu spezifischen Sinnprovinzen verdichten". Diese Eigenlogik finde sich in unterschiedlichen Ausdrucksgestalten wieder, indem man lernt, "Redeweisen von Besuchern und Bewohnern" z.B. eines Stadtteils zu erfassen, "Schriftquellen" zu rekonstruieren, "Stadtfeste" zu untersuchen, "Gegenstände der materiellen Kultur" eines Stadtteils (Wohnungen, Geschäfte, Treffpunkte, Kioske, Zeitungen, Wandnotizen usw.) zu erfassen und Nutzungen von Orten zu erkennen. Und man würde erkennen, dass in städtische Orte Spuren "überlieferten, erinnerten, erfahrenen, geplanten oder phantasierten Handelns" eingegraben sind, die man freilegen kann.

All das ist mehr als nur von kulturwissenschaftlichem Belang. Gerade unter den Bedingungen von marktgesteuerten urbanistischen Prozessen, von Migration und ökonomischen Umbrüchen stellt sich doch die Frage, ob und wo die Gestaltung der Städte das, was man Praktiken der Identitätserzeugung und -konservierung nennen kann, verlangt und wie sich diese Praktiken mit den heute ohnehin als heterogen anzunehmenden traditionalen Bezügen der Bewohner vermitteln.

Wenn Stichworte wie Gentrifizierung, Betongold oder Großprojekt die zeitgenössische Stadtentwicklung kennzeichnen, scheint es überfällig, an solche Ansätze an erinnern. Und eine Urbanität zu entwerfen, die zu aktivem Verhalten im und gegenüber dem Raum anregt, um ihn beispielsweise nach Situationen zu gliedern und nach Orten - des privaten und öffentlichen Lebens - zu organisieren. Das ist beileibe nicht banal.