"Kulturelle Aneignung ist etwas Notwendiges"

Warum die Fremdzuschreibung "kultureller Identität" falsch ist; warum das Jammern über "Cancel Culture" trotzdem nicht immer berechtigt ist – und der Verzicht auf das "N-Wort" keine Zumutung. Interview mit Bernhard Schindlbeck. (Teil 2 und Schluss.)

Identitätspolitik, so könnte man definieren, ist der Kampf um Emanzipation, den bestimmte Gruppen oder Klassen führen, die sich der Übereinstimmung ihrer sozialen Diskriminierung bewusst geworden sind. Den Anfang bildete die Arbeiterbewegung: der Kampf der Industriearbeiter um angemessene Bezahlung, kürzere Arbeitszeit, sicherere Arbeitsplätze und zuletzt um die Überwindung der Ausbeutung.

Es folgte die Frauenrechtsbewegung, die die Gleichstellung und Anerkennung des "anderen Geschlechts" in allen Bereichen des Staats und der Gesellschaft auf ihre Fahnen schrieb.

Dann entwickelte sich die Bürgerrechts- und später die Black-lives-matter-Bewegung, die rassistische Vorurteile anprangerte und die Gleichstellung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA einforderte. Zuletzt verstärkte sich der Kampf um die Anerkennung der sexuellen Selbstbestimmung, der sich alljährlich am Christopher-Street-Day in selbstbewussten Umzügen manifestiert. Aber wie lassen sich diese Strömungen in ein realpolitisches Projekt integrieren, beziehungsweise müssen sie das überhaupt?

Teil 2 des Gesprächs mit dem Widerspruch-Redakteur Bernhard Schindlbeck, dessen Zeitschrift sich in der neuesten Ausgabe diesem Thema gewidmet hat.

Herr Schindlbeck, können die Forderungen der Identitätsbewegung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung überhaupt eingelöst werden?
Bernhard Schindlbeck: Es gibt ja keine einheitliche Identitätsbewegung, sondern es gibt sehr viele unterschiedliche Forderungen verschiedener Gruppen. Manche könnten bei weniger ideologischer Verbohrtheit der Mehrheitsgesellschaft leicht erfüllt werden. Andere nicht.
Wieder andere wären bloß sehr kostspielig, etwa Barrierefreiheit für Behinderte überall; aber die öffentliche Hand hat das erforderliche Geld nicht, weil die Superreichen, die wahren Assis in dieser Gesellschaft, auf ihren Vermögen hocken wie Dagobert Duck, von dem wenigstens manche Kinder noch wissen, wie pathologisch das ist.
Im Kontext der "Cancel Culture" wurde zum Beispiel auch die Frage erörtert, ob man Leute wie den australischen Philosophen Peter Singer, zu dessen Vorschlägen gehört, schwer behinderte Säuglinge sofort zu töten, weil sie kein lebenswertes Leben zu führen in der Lage seien, an Universitäten auftreten lassen solle.
Als Singer in den 1980er-Jahren zum ersten Mal auf Vortragsreise in Deutschland war, wehrten sich Behindertengruppen gegen seine Auftritte mit dem Argument: Wir lassen nicht zu, dass über die Wertigkeit unseres Lebens überhaupt öffentlich diskutiert wird.
Auch wenn es die Euthanasie im NS-Staat nicht gegeben hätte, ist dieses Argument überzeugend. Und die Frage: "Wie viel sind uns die Behinderten wert?" steht trotz aller öffentlichen Inklusionsbekundungen – Gesellschaft lebt immer auch von Heuchelei – noch immer im Raum.
Queeren Personen kommt die Gesellschaft inzwischen mehr und mehr entgegen, jedenfalls so lange es nichts kostet. Sogar CSU-Bürgermeister lassen sich auf Pride-Paraden sehen. Das könnte ja schließlich Stimmen bringen. Die sich an den Rassismus (als Diskriminierungsform) anschließende Erfindung des "Klassismus" als "Diskriminierung" der sozio-ökonomisch Subalternen der Gesellschaft zeigt, was in dieser Gesellschaft kategorisch uneinlösbar ist. Worin würde auch die "Anerkennung" der Klasse der Geringverdiener und Bezieher von Transferzahlungen, der arbeitenden Unterschicht, der Deklassierten bestehen?

Kein Kapitalismus ohne "Klassismus"

Üblicherweise besteht sie darin, dass die politische Klasse verkündet, auch diese Menschen sollen "am gesellschaftlichen Leben partizipieren" können. Aber die Urlaubsreise, ja schon das Hallenbad und die Klassenfahrt sind im so oft und hoch gepriesenen Sozialstaat zu teuer für diese Subalternen. Man könnte sie anerkennen, indem man sie aus ihrer finanziellen Misere herausholt, aber genau das kann in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft nicht geschehen.
Eine wahre Anerkennung von Armen hätte die paradoxe Folge, dass sie nicht mehr arm waren. "Klassismus" ist also eine Diskriminierungsform, die dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft strukturell inhärent ist. Alle "identitätspolitischen" Forderungen laufen hier ins Leere.
Wenn es nicht einen allzu sarkastischen Beigeschmack hätte, könnte man sagen: Warten wir darauf, wie die Oberschicht und die bürgerliche Mitte reagieren, wenn sich endlich die Obdachlosen als "identitäre Gruppe" definieren und mit Forderungen nach Anerkennung auftreten. Vielleicht käme auch dann wieder der Vorwurf, sie wollten die Gesellschaft "spalten" und wären "unsolidarisch".
Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Klassenkampf und Identitätspolitik und inwiefern passen Identitätspolitik und Neo-Liberalismus zusammen?

"Reallohnverluste niedrig zu halten, ist kein Klassenkampf"

Bernhard Schindlbeck: Abgesehen von der mit dem Neoliberalismus einsetzenden und immer weiter fortschreitenden Umverteilung von unten nach oben, dem Kampf der Reichen gegen die Armen, den Warren Buffett ganz offen als "class warfare" benannt hat, den die Reichen begonnen haben und, so glaubt er, gewinnen werden, gibt es keinen Klassenkampf. Das Bemühen der Gewerkschaften, der Inflation hinterher zu hecheln und Reallohnverluste niedrig zu halten, ist kein Klassenkampf.
Die heutige Partei "Die Linke" vertritt in etwa das Programm der SPD von Willy Brandt. Die hatte dem Klassenkampf schon 1959 in Bad Godesberg abgeschworen. Die Politik als ganze ist heute ein umfassendes Versagen, was man an der wachsenden Armut und am Klimawandel sieht. Es gibt nur Absichtserklärungen und so genannte "Klimaziele", die regelmäßig nicht erreicht werden.
Und es ist völlig egal, aus welchen Parteien das Versagen kommt und in welchen Koalitionen es sich agglomeriert. Also fokussieren sich viele Leute mit emanzipatorischen Bestrebungen auf kleinere und näher liegende Ziele, von denen sich wenigstens ein bescheidener Erfolg erhoffen lässt, um gesellschaftliche Verkrustungen und Diskriminierungen, unter denen sie leiden, zu bekämpfen.
Dazu gehört für einige ihre jeweilige Identität als A, B, oder Z, und sie versuchen wenigstens in dieser Hinsicht etwas für sich zu retten. Viele Linke tun sich hart damit, weil sie immer noch an den "wissenschaftlichen Sozialismus" und die proletarische Revolution glauben wie Katholiken an die fake news von der jungfräulichen Empfängnis. Deshalb polemisieren sie gegen Identitätspolitik kaum anders als die rechte und rechtsliberale Seite auch. Was in der Süddeutschen Zeitung von Gustav Seibt feinsinnig "die expressiv gekränkten Minderheiten der Gegenwart" genannt wird, heißt in Konkret mit der Verbalkeule "Identitätsidioten".
Natürlich hat die neoliberale Politik an der Identitätspolitik nichts auszusetzen, solange sie sich nicht gegen Marktwirtschaft, Profitmaximierung, Niedriglohnsektor und die zugehörigen Ideologien wendet. Der Cicero-Kolumnist Alexander Grau will wie so viele andere eine "neue Lust an der Empörung" und einen "Hypermoralismus" als Leitideologie unserer Zeit entdeckt haben. Ähnliches hatte schon Arnold Gehlen bezogen auf die Studentenbewegung konstatiert. Die immer wieder mal entdeckte "Hypermoral" ist also nicht so neu.
Grau spricht im Spiegel vom "woken Kapitalismus", in dem zusammenfinde, was schon immer zusammengehört habe, nämlich Kapitalismus und Linke, denn der Kapitalismus bedürfe einer "hedonistischen Ethik", weil ja konsumiert werden muss, wenn verkauft werden soll, außerdem einer "permanenten Erschütterung der gesellschaftlichen Verhältnisse", und nun komme es eben zu einer "endgültigen Amalgamierung von neulinkem Denken und den Anforderungen eines globalen Markts". Das soll wohl originell und ein bisschen provokativ sein, ist aber nur feuilletonistisches Betriebsgeräusch.
Denn schon beim von Feministinnen seit Jahrzehnten angeprangerten Gender Pay Gap wird's happig. Eine Frau im Finanzvorstand eines Konzerns wird ihn nicht als problematisch wahrnehmen wollen, denn sie ist mehr den Aktionären und deren Dividende verpflichtet als der "weiblichen" Solidarität mit den Arbeiterinnen am Fließband.

Für das Kapital ist es uninteressant, ob die von ihm Ausgebeuteten schwarz oder weiß, schwul oder nicht-binär sind. Bestimmte Anliegen dieser Gruppen sind durchaus kapitalkompatibel. Diese Kompatibilität wird ihnen aber von der Klassenkampf-Linken unsinnigerweise zum Vorwurf gemacht, und sofort sind wir wieder beim oben schon erwähnten Hauen und Stechen.

Heute wirklich große Probleme "gar nicht auf dem Bildschirm"

Sie konfrontieren die Identitätspolitik mit Axel Honneths Theorie des "Kampfes um Anerkennung". Warum?
Bernhard Schindlbeck: Man kann die Identitätspolitik gar nicht mit Honneths Theorie "konfrontieren"; beide treffen sich lediglich in dem Wort "Anerkennung", das aber eine gewisse semantische Leere aufweist, also so vage und unspezifisch ist, dass es sich für alles Mögliche, gerne auch als rhetorische Floskel in Wahlkämpfen, gebrauchen lässt. Insofern wird sich Honneth durch die ganze identitätspolitische Auseinandersetzung vermutlich sogar bestätigt sehen, denn es scheint ja immer irgendwie um Anerkennung zu gehen.
So unübersichtlich aber das politische Gerangel im Umfeld um das Wort Identität ist, so unübersichtlich ist auch Honneths um das Wort Anerkennung herumgebastelte Theorie, die jedoch kaum etwas aus der Wirklichkeit klar abzubilden oder kritisch zu behandeln in der Lage ist.
Was bei Hegel noch ein Kampf auf Leben und Tod war, hat Honneth zu einer Art bloßem "Streben nach Anerkennung", das auf die eine oder andere Weise immer und überall stattfindet, heruntergedimmt. Ferner ist diese Theorie insgesamt so inkonsistent und an vielen Stellen unplausibel, dabei um alle möglichen "Anschlüsse an" andere (soziologische, psychologische, philosophische, analytische, linguistische) Theorien und Umformulierungen bemüht, dass sie sich im Nebulösen verliert.
Honneth glaubt, die heutigen Probleme – vor allem soziale Probleme – "anerkennungstheoretisch" beschreiben zu können und zu müssen, um für sie eine Lösung zu finden; aber in den seltensten Fällen kann er klar machen, worin genau die Anerkennung besteht, wie man sie dann als solche erkennt, und welche Ansprüche aus welchen Gründen berechtigt sind und welche (als pathologisch klassifizierte Ansprüche) nicht.
Insgesamt erscheint ihm das westlich-kapitalistische Gesellschaftsmodell ein gerechtes zu sein; nur im Gefolge des Neoliberalismus seien einige unschöne und korrekturbedürftige "Auswüchse" entstanden. Die heute wirklich großen Probleme allerdings wie etwa die Umwelt- und Klimakrise, die sich nicht "anerkennungstheoretisch" beschreiben lässt, hat er gar nicht auf dem Bildschirm.
Natürlich könnte man ganz konkret und präzise fragen: Worin besteht denn genau Anerkennung für nichtbinäre oder Transpersonen? Wann ist Rassismus in einer Gesellschaft wirklich überwunden? Aber genau das macht Honneth leider nicht. Das Problem der Migration könnte in der Frage "anerkennungstheoretisch" ausgedrückt werden: Weshalb erkennen die europäischen Staaten das Menschenrecht der Flüchtlinge auf Aufnahme nicht an?
Die Antwort ist einfach: Weil jeder Nationalstaat (auch der demokratische) auf Exklusion beruht. Und Honneth schwört (wie sein Mentor Habermas) auf den demokratischen Nationalstaat als Exklusionsmodell. Aber das ist nur einer von mehreren Gründen, weshalb seine affirmative Philosophie nichts taugt.

Verzicht auf N-Wort "weder 'Cancel Culture' noch Moralismus"

Würden Sie letztendlich die Identitätspolitik gegen ihre Reduktion auf Gender-Sprachregelungen oder den Moralismus der "political correctness" zu verteidigen?
Bernhard Schindlbeck: Natürlich geht es um mehr als nur um Gendersprache und um politische Korrektheit, was immer das sein soll. Solche Reduktionen sind Unsinn. Bezeichnenderweise kommt der Großteil der Medien nicht ohne solche vereinfachenden Reduktionen aus. Aber zum einen gibt es "die" Identitätspolitik, wie schon gesagt, gar nicht; zum anderen muss man, wenn man sie verteidigt, jeweils ganz genau hinsehen, was man da verteidigt. Dass sich die Grausamkeiten der Gesellschaft auch in sprachlichen Ausdrücken zeigen, ist klar.
Wenn nun durch den Ersatz des N-Worts eine Haltung des Respekts gegenüber einer Gruppe zum Ausdruck gebracht werden soll, die jahrhundertelang übelst behandelt wurde, und diese Gruppe diese Haltung ihr gegenüber mit Recht einfordert, ist das ja weder "Cancel Culture" noch Moralismus.
Es hat eher etwas mit Ethik zu tun. Ethik nicht im Sinn der von der Politik eingerichteten Ethikräte, deren Aufgabe es ist, politische Entscheidungen moralisch zu unterfüttern, sondern in einem philosophischen Sinn als grundlegende Reflexion von Normativität. McWorther mag ja Recht haben, wenn er konstatiert, dass Rassismus heute ein "extrem überstrapazierter Begriff" ist.
Aber das ist mit allen a priori normativ gefärbten Begriffen so, die sich deshalb gut als moralische Sprengsätze in der politischen Auseinandersetzung eignen, vor allem wenn die bestehende, konventionelle Moral als verlogen und inhuman exponiert werden soll.
Ob die Abschaffung des generischen Maskulinums und die Verwendung des Gendersternchens so wichtig ist, kann ich so wenig beurteilen wie die Frage, ob Sprache überhaupt gerecht (gendergerecht) sein kann oder nicht. Wittgenstein spricht von Sprachspielen, die immer schon mit Lebensformen verflochten seien; aber ob sich unsere tausch- und warenförmigen, verdinglichenden Lebensformen so signifikant ändern, wenn man an den Sprachspielen, die eine oder andere "Spielerei" anbringt?
Ist es eine "sprachliche" Ungerechtigkeit, wenn man sagt "Von den bislang 218 Nobelpreisträgern im Fach Physik sind vier Frauen"? Ist es gerechter, zu sagen "Von den 218 Nobelpreisträger*innen sind vier Frauen"? Das sind 1,8 Prozent. Würde man bei 0 Prozent das Gendersternchen noch brauchen?
Der Satz "Unter den 218 Nobelpreisträger:innen ist keine einzige Frau" würde sich zwar komisch lesen, andererseits deutet er aber dann doch mit einer gewissen süffisanten Ironie an, dass Frauen darunter sein könnten und würden, wenn nicht etwas ganz falsch liefe in der Gesellschaft.
Die Heftigkeit der gegenwärtigen Auseinandersetzung zeigt vermutlich die Verunsicherung einer immer schon auf falschen Fundamenten gebauten Gesellschaft an; zu einem erheblichen Teil ist sie aber der ideologischen Instrumentalisierung durch bestimmte Medien und Politiker geschuldet, die damit ihre mental eher schlicht strukturierte Anhängerschaft in Bierzelten und am Aschermittwoch leicht mobilisieren können.
Man muss sich aber nicht in jeder Schlammschlacht selber positionieren, es genügt, wenn man zusieht und sich Gedanken macht. Gegen den von Jan Fleischhauer, Ulf Poschardt, Don Alphonso und Konsorten, also den aus der bürgerlichen bis rechtsextremen, unreflektierten Selbstgenügsamkeit kommenden Primitivismus allerdings, der sich erregt, weil das Zigeunerschnitzel nicht mehr auf der Speisekarte steht und er das N-Wort nicht mehr verwenden soll, muss man "die Identitätspolitik" und die "politische Korrektheit" wohl vereidigen.
Diskurstheoretische Akteure (Richard Schubert nennt sie "Kinderkreuzzug"), die weiße Menschen keine Dreadlocks tragen lassen wollen, weil das "kulturelle Aneignung" sei, muss man nicht verteidigen, man muss ihnen nur erklären, dass es keine "kulturelle Identität" gibt und dass sie leider eine Fremdzuschreibung betreiben, die sich verbietet.
Vieles schießt halt, wie so oft bei jungen Menschen, übers Ziel hinaus, auch wenn‘s gut gemeint ist. Wäre auch alles nicht so schlimm, wenn nicht FAZ, Süddeutsche, Spiegel, NZZ, Cicero, Cato usw. sofort wieder den nächsten Untergang des Abendlands ausrufen würden.
"Verschiedene Kulturen bilden keine füreinander undurchdringlich abgeschotteten Universen, und sie prägen auch keine gegeneinander unbeweglichen Identitäten", sagt Habermas im Interview mit dem Philosophie Magazin, und da hat er zweifellos Recht. Würden sich die jungen Leute mit den klugen Überlegungen der Philosophin Ursula Renz befassen, würden sie verstehen, weshalb es Kultur ohne Aneignung gar nicht gibt, und dass "kulturelle Identität" ohnehin eine Unmöglichkeit ist.
Sie verstehen unter kultureller Aneignung einen simplen Mechanismus: Leute werden unterdrückt, z.B. die nach Amerika deportierten Afrikaner, sie entwickeln als Unterdrückte bestimmte kulturelle Ausdruckformen, und diese werden dann von den Unterdrückern übernommen und vermarktet. Aber das ist zu simplifizierend.
Alexis Korner, John Mayall, Rolling Stones und Fleetwood Mac, die in ihren Anfängen den schwarzen Blues gecovert haben, weiße Musiker in USA und Europa, die sich den schwarzen Jazz angeeignet haben, machten eine Verneigung vor dieser Kultur und brachten höchste Achtung zum Ausdruck. Die schwarze Musik ist Produkt der Unterdrückung durch Weiße und wird nun von diesen den Schwarzen wieder weggenommen, denkt der Kinderkreuzzug.
Aber sie wird eben nicht weggenommen, die Schwarzen haben sie ja immer noch. Und sie haben die Menschheit damit bereichert, ihr ein Geschenk gemacht. Kulturelle Aneignung ist etwas Notwendiges und völlig anderes als Wegnahme von Dingen. Die Kritiker der angeblichen kulturellen Aneignung haben also nicht den ganzen semantischen Gehalt von "Aneignung" im Blick, sondern nur einen begrenzen Teil, den sie dann in einem anderen Bereich falsch verwenden. Man sieht wie man die einzelnen Fäden in der Diskussion mühsam entwirren muss, um jeweils zu verstehen, was wirklich los ist.
Eine wirkliche Aneignung war der Diebstahl der "Elgin Marbles" vom Parthenon in Athen und der Benin-Bronzen durch die Engländer. Jetzt bekommen westliche Museumsdirektoren Angst, weil vielfach gefordert wird, dass diese materiell-gegenständlichen geraubten (angeeigneten) Kulturgüter zurückgeben werden müssen, und deshalb schreibt Horst Bredekamp zum Thema Postkolonialismus in der FAZ: "Warum der identitäre Wahn unsere größte Bedrohung ist".
Sein für seine Argumentation gar nicht erforderlicher Kampfausdruck "identitärer Wahn" fängt (als Verleumdungsnetz) viel mehr ein als bloß den Postkolonialismus, den er eigentlich dingfest machen will; auch die Queer-Bewegung, Antirassismus und Antisexismus prügelt er mit diesem Ausdruck, worauf Leute aus diesen Milieus verständlicherweise heftig reagieren. Was er wiederum – da er alles für einen Wahn hält – nicht versteht.
Und so bekämpfen sich oft unterschiedliche Seiten, ohne zu wissen, weshalb sie tun, was sie tun. Nicht selten haben sie denkbar schlechte Argumente. Wenn aber das Falsche gegen das Falsche steht: Pest oder Cholera, Trump oder Hilary, Schulz oder Merkel, Jan Fleischhauer oder Sahra Wagenknecht, Rishi Sunak oder Liz Truss, dann muss man sich nicht auf eine Seite stellen, auch wenn dort eine Frau oder Person of Color als Pappkamerad:in aufgestellt ist. Und pauschal positionieren kann man sich sowieso nicht. Man muss nur sehr genau hinsehen, was oder wen man (vor allem: mit welchen Gründen!) verteidigt – und wen oder was nicht.